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'Last Chance for Common Sense': Interaktionsraum Internet in der Zusammenschau | |||||||||||||||||
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Drei Untersuchungsfelder, drei Fragestellungen, drei Handschriften: worin
besteht das Gemeinsame, die Schnittmenge unserer Beobachtungen im Netz?
Last chance for common sense...
Unabhängig davon, ob wir das Internet aus dem Blickwinkel der Netzknoten, Übertragungsverfahren oder Kommunikationsdienste betrachten, wir begegnen übereinstimmenden Organisationsprinzipien. Die dezentrale und offene Bauweise des Internet ist bestimmend für alle Schichten der Netztechnologie. Die Kontrolle des Datenflusses liegt grundsätzlich an der Peripherie, genauer: bei den Anwendungen. Die Anwendungen sind ihrerseits auch wiederum dezentral organisiert. Sowenig wie die Kommunikationsdienste sind der Hostbetrieb oder die Übertragungstechnik des Netzes einer zentralen Steuerung zugänglich. Es regiert das Prinzip der Selbstverwaltung - mit dem Ergebnis einer allmählichen Heterogenisierung der Nutzungsweisen. Der gemeinsame Nenner in der Ausdifferenzierung des Usenet, der 'Familienverhältnisse' von Unix oder der Weiterentwicklung von IP läßt sich in einer Maxime ausdrücken: die Unterstützung des freien Datenflusses. Das Projekt der globalen Konnektivität zielt auf die Integration aller potentiellen Nutzer und Nutzungsweisen. Im Bereich der Standardentwicklung zeigt sich das im Verzicht auf proprietäre Technologie ebenso wie in der großen Bedeutung von 'running code', dem Nachweis von Funktionstüchtigkeit und Interoperabilität. Das Prinzip der offenen Standards stellt es ins Belieben der Nutzer, wie und wofür sie diese verwenden. Eine umfassende Reglementierung des Wandels, den das Internet im Bereich der Dienste und der Datenübertragung durchläuft, ist damit faktisch ausgeschlossen.
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1 Transformationsmuster | |||||||||||||||||
Die Konsequenzen, die die offene Organisation des Internet für seinen
Fortbestand hat, entwickelten sich in allen drei Untersuchungsfeldern zur
Leitfrage, die mit immer neuen Stimmungsbildern und
Zwischeneindrücken beantwortet wurde. Skalierungsprobleme,
Regulierungsversagen und Bedeutungsverlust einstmals unangefochtener
Verhaltensregeln ließen das exponentielle Wachstum des Netzes bald
als Vertreibung aus dem Paradies, bald als unmittelbar bevorstehenden
Kollaps erscheinen. Zumindest als Echo findet sich die Tendenz zur Krisen-
und Katastrophenrhetorik auch in unseren Berichten über das Internet
wieder. Allerdings sind die so häufig prophezeiten
Zusammenbrüche weder auf der Ebene der Übertragungstechnik, noch
im Bereich der Netiquette oder im Usenet eingetreten. Das Internet erweist
sich vielmehr als bemerkenswert robust im Umgang mit dem Ansturm auf seine
Ressourcen. Wohl erfordert die Transformation vom Wissenschaftstempel zum
Massenmedium ihren Preis: Der Zerfall des Usenet in einzelne
Verwaltungsbezirke, die sich durch unterschiedliche Kontroll- bzw.
Ordnungsformen auszeichnen, ist ein Beispiel dafür. Wachstum und
Dezentralisierung des Kommunikationsdienstes lassen netzweit einheitliche
Regularien nicht mehr zu. Ein weiteres Beispiel stellt die zunehmende
Tendenz zur Deaktivierung einzelner Unixfunktionen wie "finger" oder
"remote login" dar. Der ungehinderte Zugriff auf Netzressourcen, wie er
für das Wissenschaftsnetz kennzeichnend war, fällt einer
schärferen Differenzierung zwischen privaten und öffentlichen
Räumen im Netz zum Opfer: Parzellierungsprozesse im offenen
Datennetz. Zugangssperren in Form von Firewalls sollen Sites vor
Mißbrauch schützen, unterhöhlen aber zugleich die
Tradition des Teilens und kollektiven Austauschs. Auch die Neuordnung der
Besitzverhältnisse im Adreßraum ist Bestandteil der
Transformationsprozesse im Internet. Die Verwaltung einstmals
öffentlicher Güter wie der Netzadressen geht über in die
Hände der Internet Service Provider - eine Kraft in der Regulierung
des Internet, die auf den Ausbau des Leitungsnetzes wie auch die
Etablierung neuer Dienste und Übertragungstechniken wachsenden
Einfluß gewinnt. Der übertragungstechnisch verteilten
Handlungsmacht im Netz steht ein Konzentrationsprozeß auf Seiten der
Internetanbieter gegenüber.
Die Transformation des Internet stellt sich jedoch in keinem der Untersuchungsfelder als reine Verlustbilanz dar. Den Untergangsgesängen, die angesichts der Entwicklung des Internet hier und da angestimmt werden, läßt sich entgegenhalten, daß sich die Kommunikationsmöglichkeiten im Netz eher erweitern als verengen. Dies betrifft nicht nur die Zahl der Menschen, Organisationen oder Datenbanken, die über das Internet zu erreichen sind, sondern auch die Dienste, vermittels derer kommuniziert werden kann. Ein aktuelles Beispiel für die neue Nutzungsmöglichkeiten stellt die Internettelefonie dar. Vergleicht man die Veränderungen, die das Netz im Beobachtungszeitraum in den einzelnen Untersuchungsfeldern durchlaufen hat, zeichnet sich ein Muster ab, das sich auf den Begriff "Wandel durch Integration" bringen läßt. Die wechselseitige Durchdringung von WWW und Usenet ist ein gutes Beispiel für das Prinzip der 'Eingemeindung', das modellbildend auch für die künftige Etablierung neuer Dienste oder Übertragungstechniken sein könnte. Vor allem durch Interoperabilität bzw. wechselseitige Unterstützung, weniger aber durch direkte Verdrängungsprozesse, setzen sich neue Anwendungen oder Übertragungsverfahren im Netz durch. Auch IPv6 wird im Internet voraussichtlich nur Fuß fassen können, wenn es wirklich abwärts-kompatibel ist und den derzeit herrschenden Standard IPv4 unterstützt. So groß ist die Installationsbasis von Internettechnologie inzwischen, daß sich Neuerungen auf der Host-, der Übertragungs- und Dienstebene nur noch in Koexistenz zu den bestehenden Verfahren Erfolgschancen ausrechnen können. Selbst das so puristische UNIX hat auf diese Weise eine graphische Oberfläche erhalten. Die Tendenz zur Integration statt zur Substitution findet sich im übrigen auch in den Maßnahmen zur Krisenbewältigung im Internet. Ein Beispiel dafür ist die seit 1994 betriebene Reform der Adreßarchitektur. Das neue Verfahren zur Vergabe von Internetadressen (CIDR) läßt sich lediglich als Ânderung an den bestehenden Praktiken implementieren, ohne jedoch die vorangegangene Allokationspolitik durchgreifend korrigieren zu können. Die Entstehung der "alt-Hierarchien" im Usenet weist das gleiche Entwicklungsmuster auf. Der Versuch, einen unabhängigen Vertriebsweg im Usenet zu schaffen, hat zu einem Nebeneinander von Hierarchien geführt, die unterschiedlichen Verwaltungsformen gehorchen. Eine Verlangsamung der Entwicklungsgeschwindigkeit ist von dieser Absorptionsbewegung zwischen Altem und Neuem vorläufig nicht zu erwarten, wohl aber eine weitere Heterogenisierung der Konventionen, die das Netz zusammenhalten. | |||||||||||||||||
2 Governanceformen | |||||||||||||||||
Lose verknüpfte oder bloß nebeneinander bestehende Sach- und
Handlungsbezüge mit unbestimmter Geltungsreichweite, die vor dem
Hintergrund herkömmlicher, hierarchisch gesteuerter
Organisationsformen chaotisch und dysfunktional wirken, erfüllen im
Internet offensichtlich ihren Zweck. Die Verbindung aus kurzfristigen
architektonischen Behelfslösungen einerseits und dezentral ersonnener
Abhilfe auf der Ebene einzelner Sites andererseits erweist sich nicht nur
als erfolgreich, sondern auch als reproduzierbar. Unterschiedliche
Spielarten dieser kooperativen Anarchie begegnen uns auf allen Ebenen des
Netzes. Darin äußert sich unserer Ansicht nach ein bestimmendes
Merkmal von Governance im Internet.
Da zentrale Formen der Steuerung im Netz weitgehend ausgeschlossen sind, lassen sich Neuerungen nicht verordnen, sondern nur durch aktive Zustimmung jeder einzelnen Site erreichen. Wenn man so will, handelt es sich um ein virtuelles Pendant zu jenen "Abstimmungen mit Füßen", die durch den Ausdruck individueller Handlungspräferenzen kollektiv definitionsmächtig werden. Wie wirksam diese Form der dezentralen, allein auf Freiwilligkeit beruhenden Koordination sein kann, illustriert die rasche Ausbreitung des WorldWideWeb. Innerhalb weniger Monate etablierte sich das WWW als neuer Kommunikationsdienst im Internet, ohne daß hierfür Handlungsabstimmungen unter Entwicklern und Nutzern erforderlich gewesen wären. Die Entstehung von Hypertextsprache und -übertragungsprotokoll, die Entwicklung von speziellem Zubehör wie Browsern, Suchmaschinen oder Agenten und jene von Schnittstellen zu anderen Diensten im Netz verläuft unabhängig von einander. Lediglich die Interoperabilität neuer Netzobjekte unterliegt einem allgemeinen Normierungsgebot. In diesem Sinne sind die großen Linien der Transformation des Netzes weder Institutionen noch Personen direkt zurechenbar. Governance im Internet beruht vielmehr auf "verteilten" Formen der Koordination, die ohne Hierarchie und mit einem Minimum an zentralen Funktionen und Regeln auskommen. Bei der Entwicklung der Hostsoftware Linux, des Internet Protocol IPv6 und auch der Verwaltung des Usenet handelt es sich um öffentliche Vorgänge, die überwiegend oder gar ausschließlich im Internet stattfinden. Administrative und rechtliche Regularien, wie sie für staatliche oder privatwirtschaftliche Standardisierungsorgane kennzeichnend sind, sind damit weitgehend unvereinbar. Die Weiterentwicklung und Administrierung des Netzes unterliegt vielmehr den gleichen Bedingungen wie seine Nutzung: Jedem steht es offen, sich aktiv zu beteiligen und eigene Interessen einzubringen. Die Kehrseite dieser basisdemokratischen Form von Governance im Internet besteht freilich in Ausschlußmechanismen informeller Art. Für die Usenetgemeinde wie für die IETF oder die Unixcommunity gilt, daß hohe technische Kompetenz und Kontextwissen Bedingungen für eine aktive Teilhabe bilden. Nur die Stimmen haben Aussicht auf Gehör in der Regulierung des Netzes, die an seine kulturellen und technischen Traditionen anzuknüpfen wissen. | |||||||||||||||||
3 Normalisierungsprozesse | |||||||||||||||||
Die Eigenheiten und Ausdrucksformen dieser Traditionen konstituieren, was
wir als eigenständigen gesellschaftlichen Raum bezeichnet und als
'Kulturraum Internet' untersucht haben. Dahinter stand die Hypothese,
daß sich die Interaktionspraktiken im Netz von jenen in anderen
Medien deutlich unterscheiden. Um so selbstverständlicher jedoch von
den Diensten des Internet Gebrauch gemacht wird und um so mehr Menschen
darüber erreichbar werden, desto mehr verliert sich der Eindruck
eines besonderen bzw. gesonderten Orts. Die Wahrnehmung des
'Angeschlossenseins', die Mitte der 90er Jahre noch von einer Aura des Sensationellen
umgeben war, gewinnt zusehends Alltäglichkeit bis hin zum
Verschwinden der Grenzen, die die virtuelle Welt einst von der Realwelt
getrennt haben.
Die neuen Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die sich aus der
Verbindung von Immaterialität, globaler Raum-Zeit-Gleichheit und
erweiterten Spielräumen in der Repräsentation von Menschen und
Objekten ergeben, sind in einem Maße gesellschaftlich integriert
worden, daß sie inzwischen als nahezu selbstverständlicher
Bestandteil von Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
Das Internet ist im Begriff, in der Normalität
anzukommen. Sich häufende staatliche und wirtschaftliche
Domestizierungsanstrengungen sind ein weiteres Indiz dafür. Der
Cyberspace soll ein kalkulierbarer Ort, der Datenfluß staatlichem
Gesetz unterworfen werden. Von mehr technischer Sicherheit und
hoheitlicher Sanktionsgewalt verspricht man sich, das Internet für
zusätzliche Nutzungsformen öffnen und damit seine Karriere als
ubiquitär vorhandene, globale Infrastruktur vorantreiben zu
können.
Ist also damit zu rechnen, daß das Netz seinen Status als sich selbst organisierender Kommunikationsraum über kurz oder lang verlieren wird? Ist den Skeptikern recht zu geben, die dem interaktiven, symmetrisch geformten Kommunikationsapparat Internet eine ähnliche Zukunft prophezeien, wie sie einst das Radio erlitt? Man kann solch pessimistischen Erwartungen die Beobachtung entgegenhalten, daß die dezentrale Architektur des Internet bislang allen Versuchen der Reglementierung und Vereinheitlichung widerstanden hat. Zwar läßt sich eine abnehmende Bedeutung interaktiver Dienste zugunsten einer Aufwertung von "einwegig" ausgerichteten Informationsangeboten und somit eine Annäherung an die traditionellen Broadcastmedien konstatieren, aber auch auf der Nutzungsebene des Netzes ist eher ein Nebeneinander von unterschiedlichen Kommunikationsformen als ein Verdrängungsprozeß zwischen ihnen zu erwarten. Mit Bezug auf die Transformations- und Governanceprinzipien, die wir in den drei Untersuchungsfeldern vorgefunden haben, ließe sich hinzufügen, daß auch Versuche der Bändigung und Normalisierung des Internet letztlich auf die Zustimmung der Nutzer angewiesen sind. Ohne deren Anerkennung bleiben Techniken der Verschlüsselung, Authentifizierung und Kontrolle wirkungslos. Ob sich das Internet den traditionellen gesellschaftlichen Organisationsformen anverwandeln und mithin im überkommenen Sinne regieren lassen wird, entzieht sich nach wie vor der Macht derjenigen, die staatliche Regierungsgewalt ausüben und bleibt damit eine offene Frage. |
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