Gedächtnisprotokoll der Veranstaltung zum Thema Zensur im Netz am 14.10.96 in den Räumen der Internationalen Stadt in Berlin
14.10.96
Rund 30 bis 35 Leute folgten der Einladung der Projektgruppe zu einem Informationsaustausch anläßlich der Maßnahmen der Bundesanwaltschaft gegen die Verbreitung der Zeitschrift Radikal über das Internet durch einen Kunden des holländischen Providers XS4ALL. Es kamen viele Provider aus Berlin, aber auch aus anderen Bundesländern sowie Fachjournalisten verschiedener Medien.
Felipe Rodriquez, eines der Gründungsmitglieder von XS4ALL, hielt einen einleitenden Vortrag, der sich mit den Handlungsmöglichkeiten der Provider angesichts der zunehmend schwieriger werdenden Beziehung zwischen nationalem Recht und globaler Kommunikationskultur im Internet befaßte.
Da auch in Holland die Verbreitung von Kinderpornographie strafbar und anzeigepflichtig gegenüber der Polizei ist, hat XS4ALL im Verbund mit anderen Providern ein Hotlinesystem entwickelt. Dieses sammelt Hinweise von Nutzern über pornographische Schriften und Bilder im Netz. XS4ALL reagiert auf solche Hinweise mit einer Warnung an die Verbreiter. Sollten diese trotz Verwarnung weiterhin pornographische Inhalte im Netz anbieten, wird Mitteilung an die Polizei gemacht. Diese, mit den Behörden abgestimmte Regelung hat den Vorteil, vergleichsweise schnell auf pornographische Aktivitäten reagieren zu können.
Die Hotline Initiative ist inzwischen von Providern in Belgien und England übernommen worden. Das Safety Net in England habe darüber hinaus ein als problematisch befundenes Ratingsystem entwickelt, vermittels dessen eine effektive "Säuberung" des news feed erreicht werden soll.
Rodriquez definiert die Verantwortung des Providers als eng begrenzt. Sie erstrecke sich allenfalls auf seinen eigenen Abonnentenkreis. Alle Aktivitäten außerhalb desselben könne der Provider nicht kontrollieren und sei daher auch nicht dafür verantwortlich zu machen.
Für alle rechtlich strittigen Fragen, für die kein weltweiter Konsens bestehe, gelte:
Die Reichweite der Rechtsprechung sei immer geographisch begrenzt weshalb die Redefreiheit im Internet nicht eine Frage der Wahl, sondern ein Fakt sei: "The freedom of speech is not a choice but a fact". Deshalb seien wir "forced into tolerance because we have no other options". Derzeit wichtig sei vor allem, die Verantwortlichkeiten der Provider zu definieren.
Das Thema Rolle der Provider zog sich auch durch die nachfolgende Diskussion als ein roter Faden: Wie wird sich ihre künftige Funktion entwickeln? In welchem Maße wird auch "content" zu ihrem Service gehören und wofür sind sie unter diesen Umständen haftbar zu machen? Provider stellen eine relativ junge, erst mit der Privatisierung des Internet auftretende Erscheinung dar, deren Identität - rechtlich wie praktisch - noch unbestimmt ist.
In diesem Zusammenhang mehrfach angesprochen wurden die in Vorbereitung befindlichen Gesetzespakete zu den neuen Medien, namentlich das Multimedia-Gesetz (Bund) sowie der Staatsvertrag über Mediendienste (Länder) Gut geheißen wurde die im Entwurf des Multimedia-Gesetz vorgeschlagene Regelung, derzufolge sich die Verantwortlichkeit der Provider auf solche Inhalte beschränkt, die sie entweder selber herstellen oder von denen sie nachweislich Kenntnis haben.
Darüber hinaus wurde darauf verwiesen, daß das Spiegeln von in Deutschland verbotenen Inhalten auf deutschen Servern eine Form des Protests sei, die den politischen Geist der 70er und 80er Jahre atme. Schließlich sei das Internet ein globales Netz. Weshalb sich also freiwillig auf Gefechte einlassen, die den Logiken der alten nationalstaatlichen Grenzen folgen?
Abschließend läßt sich festhalten, daß die Reibungsflächen zwischen geographisch begrenzten Rechtsräumen und unbegrenzten, potentiell globalen Kommunikationsräumen, wie sie durch das Internet geschaffen werden, aller Wahrscheinlichkeit zunehmen werden. Prognostiziert wurde in diesem Zusammenhang, daß eine rechtliche Entlastung der Provider mit wachsenden Kontrollanstrengungen gegenüber den einzelnen Nutzern einhergehen dürften.
Weiterführende Maßnahmen und Institutionenbildungen wurden nicht vereinbart, ließen sich aber jeder Zeit initialisieren, zum Beispiel über das Netzforum@medea.wz-berlin.de.