Renate Holzapfel

"Jeder ist in seinem Haus eingeschlossen, wir können die anderen Sprachen nicht sprechen...". Gopiram, ein afghanischer Flüchtling, sagte das nach mehr als acht Jahren Asylsuche in Deutschland (Holzapfel 1995, 99). Diese Beobachtung weist in ihrer Vieldeutigkeit weit über den Situationszusammenhang hinaus. Mehr als acht Jahre zwischen allen Stühlen, auf der Flucht und immer noch im Status der Nichtangekommenen, das war die Situation "meiner" Kernfamilie, als ich meine Untersuchung begann. In meiner Magisterarbeit wollte ich Familienstrukturen, Lebensstrategien und Netzwerke innerhalb unserer auf Ablehnung und Abschreckung Asylsuchender eingestellten Gesellschaft aufzeigen. Ein umfassendes Bild dieses "Lebens im Asyl" wurde mir möglich, da ich das Glück hatte, anläßlich von drei Hochzeiten fast die gesamte zahlreiche Verwandtschaft kennenzulernen.

Auf Einladung der GeFKA konnte ich im Juli 1996 meine Arbeit vorstellen, die 19956 erschienen ist. Besonderes Interesse galt an diesem Abend den eingesetzten Forschungsmethoden und dem Netzwerkgedanken, aber auch den Asylsuchenden selbst. Über deren Lebenssituation ist, über rechtliche Fragen hinausgehend, nach wie vor wenig bekannt. Gerade dieser Aspekt war es jedoch, der mich bewogen hatte, dieses Thema aufzugreifen.
Sozialwissenschaftliche Forschung zu Flucht und Asyl setzte erst spät ein, wobei die "traditionellen" Fragestellungen zur Integration von Arbeitsmigranten bzw. zugewanderten Minderheiten auf Asylsuchende und Flüchtlinge nicht so recht zu passen scheinen. Nach wie vor gibt es relativ wenig Literatur, die über politisch-rechtliche Rahmenbedingungen und psychosoziale Auswirkungen von Gemeinschaftsunterbringung hinausgeht, die sich mit dem Alltag dieser Menschen befaßt und durch Informationen einer fruchtbaren Auseinandersetzung dienlich wäre.

Meine Forschungsvoraussetzungen waren günstig gewesen: durch langjährige Kontakte kannte ich zahlreiche Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern. Die Familie, die im Zentrum meiner Fallstudie steht, war sofort bereit gewesen, mich in meiner Feldforschung zu unterstützen. Reiner Zufall war es, daß ausgerechnet während der Feldforschungsphase im Leben dieser Flüchtlinge sehr gravierende Veränderungen und Krisen eintraten, und zwar in Verbindung mit - letztlich drei - Eheschließungen, mit der Wohnsituation und mit ihrem Status als Asylsuchende. Diese Veränderungen ermöglichten eine besonders anschauliche Darstellung des Spannungsverhältnisses, das zwischen Asylsuchenden und der Aufnahmegesellschaft, zwischen "Drinnen und Draußen", besteht.
Teilnehmende Beobachtung erwies sich als besonders effektiv. Verstehens- und Verständigungsprobleme durch mangelhafte Sprachfertigkeit auf beiden Seiten konnten so verhindert bzw. frühzeitig ausgeräumt werden. Meine Sprachkenntnisse sind weniger umfassend als die meiner Untersuchungsgruppe: alle sprechen Dari und Hindi sowie mehr oder weniger gutes Englisch und Deutsch. So verständigten wir uns in Englisch und Deutsch, wobei letzteres trotz der langen Aufenthaltsdauer meiner zentralen Familie immer noch mangelhaft ist, ein Sachverhalt, der mich ebenfalls zu meiner Untersuchung angeregt hatte. Ich wollte wissen, welche Faktoren die Eltern, Verwandten - aber auch die Kinder darin behindert hatten, ihre Sprachfertigkeit auch auf die deutsche Sprache zu erweitern. Als teilnehmende Beobachterin bei allen drei Hochzeiten konnte ich mit vielen der etwa 100 bis 150 Hochzeitsgäste während der dreitägigen Feiern intensive Gespräche führen und so ein vertieftes Verständnis der familiären Struktur meiner Untersuchungsgruppe erhalten.

Mein Analysekonzept baute auf dem Gedanken des "sozialen Netzwerkes" (Barnes 1954) auf. Im Zentrum steht der Mensch als interagierendes soziales Wesen, "vernetzt" in einem Geflecht von Rollen und Beziehungen. Die Struktur der sozialen Netzwerke (z.B. Dichte, Homogenität, Häufigkeit von Interaktion), ihre konstitutiven Elemente (z.B. Verwandtschaft, Status) waren für mich ebenso von Interesse, wie die Strategien, die im Umgang mit ihnen eingesetzt wurden. In die Strategien der Alltagsbewältigung wurde auch ich einbezogen, wodurch sich für mich verstärkt die Notwendigkeit ergab, meine wissenschaftliche Distanz und ethnologische Arbeitsweisen einer steten Überprüfung zu unterziehen.
Der Netzwerkgedanke erwies sich als ideales Konstrukt, um die unterschiedlichen Verflechtungen und deren Ebenen zu definieren und zu analysieren. Dabei ging es mir in erster Linie um den eher metaphorischen Netzwerkbegriff. Eine detaillierte Darstellung eines sozialen Netzwerkes wäre alleine kaum zu leisten, zum anderen stellt sich die Frage nach dem Wert rein technisch angelegter Modelle. Sie erlauben zwar Moment- und Bestandsaufnahmen mit der Möglichkeit, Verhalten detailliert festzuhalten, insbesondere unter Einsatz neuer Computertechniken. Auch Vergleiche und Prognosen lassen sich so durchführen. Letztlich bleiben Modelle jedoch starr und lassen den interagierenden Menschen leicht hinter Zeichen und Symbolen verschwinden.

Spannend und oft bedrückend empfand ich bei meiner Untersuchung die Beobachtung von Strategien (vgl. Goffmann 1970), die im Umfeld begrenzter Mittel, behördlicher Ermessensspielräume und dem Streben nach Maximierung minimaler Möglichkeiten eingesetzt wurden. Migrationsprozesse stellen stets hohe Anforderungen an die davon Betroffenen. Ganz besonders ist dies der Fall, wenn die Wanderung unfreiwillig und gegen Widerstände erfolgt. Soziale Netze werden zerstört, neue Orientierungen werden erforderlich. Die Funktion von Netzwerken als soziale Stützsysteme erhält besonderes Gewicht, ihr Bestand kann die Fähigkeit zur Konflikt- und Alltagsbewältigung positiv beeinflussen, andererseits jedoch gleichzeitig Ursache von Konflikten sein, wie die Untersuchung deutlich zeigte. Ständig gab es Balanceakte: zwischen Selbstwertgefühlen und dem Zwang zu Kompromissen, zwischen Traditionen und deren Repräsentanten und den Freiheiten und Restriktionen des neuen Umfeldes. Ganz besonders deutlich wurde dies vor der Hochzeit von Rina mit einem anderen Asylsuchenden.

Nach meiner Projektvorstellung wurde u.a. die Frage diskutiert, welche Möglichkeiten der Loslösung aus traditionsgebundenen Netzwerken für Asylsuchende gegeben sind und inwieweit solche Möglichkeiten überhaupt attraktiv erscheinen in einer Lebenssituation, in der Unwägbarkeiten und Fremdbestimmung die Annäherung an das etablierte Umfeld der Einheimischen wenig erstrebenswert erscheinen lassen. Diese Zuwanderer werden in allen Kontakten und in allen Bereichen deutschen Kontexts gerne als defizitär dargestellt. Hinzuarbeiten wäre auf einen Perspektivwechsel, der es der deutschen Aufnahmegesellschaft ermöglicht, Zuwanderer als positiven Beitrag eigener Horizonterweiterung zu begreifen.

Literatur:

Barnes, J. A.: Class and committees in a Norwegian island parish. In: Human Relations. Vol. 7 1954, 39-58 Goffman, Erving: Strategic Interaction. Oxford, 1970 Literaturhinweis: Noch ein kurzer Hinweis auf mein neues Buch, für das ich in Kanada Interviews mit ehemaligen Frankfurtern durchführte. Einige der Interviews werden im Wortlaut abgedruckt. Ergänzend enthält das Buch Informationen zur Auswanderung in der Nachkriegszeit und zur Einwanderungspolitik und Geschichte Kanadas. Ein abschließendes Kapitel befaßt sich unter anderem mit der Frage nach der "unaufgearbeiteten Vergangenheit" ausgewanderter Deutscher und der Situation von Auswanderinnen der 50er Jahre.
Das Buch erscheint im September, im Verlag Brandes & Apsel, mit einem Zitat als Titel: "Ich bin halt ein Frankfurter Child." Kanada-Auswanderer erzählen. Hrsg. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt (M).

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aus:

ANTHROPOLITAN Computerwelten

Mitteilungsblatt der Frankfurter Gesellschaft zur Förderung der Kulturanthropologie (GeFKA), Jg 4 1996

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