Vom Aus der Vorstädte ins Herz der französischen Gesellschaft? Medienbilder und Selbstentwürfe junger maghrebinischer Frauen in Frankreich

1 Margit Hübner

Selima Ylmaz, 26 Jahre, Tochter eines türkischen Arbeitsmigranten der sechziger Jahre, hat soeben das zweite juristische Staatsexamen abgeschlossen und ist engagierte Abgeordnete im Stadtparlament einer deutschen Kleinstadt. Ihre acht jahre jüngere Schwester Fatima besucht die Oberstufe eines Gymnasiums und will später Medizin studieren. Sie wird per Disziplinarverfahren wenige Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres von der Schule verwiesen, weil sie ein Kopftuch trägt und sich weigert, dieses während des Unterrichts abzunehmen. Begründung seitens des Schulamtes: Das Tragen von religiösen Zeichen ist in öffentlichen Schulgebäuden untersagt. Dieses Szenario mag deutschen Lesern aus den verschiedensten Gründen nicht so recht glaubhaft erscheinen. Für französische Leser hätte diese Geschichte einen vertrauteren Charakter: Die Vornamen blieben die gleichen, lediglich der Nachname hätte in den meisten Fällen eher einen arabischen Klang denn einen türkischen.

In Frankreich besitzen Töchter und Söhne aufgrund der dort geltenden Staatsbürgerrechte auf dem Prinzip des Bodenrechtes2 meistens die französische Staatsbürgerschaft. Doch diese allein gewährt nicht die Akzeptanz als Mitglied der französischen Gesellschaft. Was dies in konkreten Alltagserfahrungen für die jungen Frauen bedeutet und wovon Anerkennung bzw. NichtAnerkennung abhängen, versuche ich in meiner Untersuchung darzustellen und zu beleuchten. Sie basiert auf der Analyse eines wechselseitigen Wahrnehmungsprozesses, wie er in der französischen Gesellschaft zwischen Medienöffentlichkeit und einer von ihr fokussierten "ethnischen" Minderheit im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre entstanden ist, als Beispiel eines langfristigen und wechselseitigen Prozesses zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft. Damit wird die Perspektive bisheriger "Kulturkonfliktstudien" mit dem Schwerpunkt auf Migranten bzw. einer "zweiten Generation" aufgebrochen und auf komplexe und mehrdimensionale Kulturprozesse ausgedehnt.

Die französischen Banlieues gehören inzwischen auch in Deutschland zu den bekannteren Reportagesujets.3 Die städtischen Vorortgürtel sollen städtebaulich durch neue große Wohnblocks in die immer größer werdenden Städte und Agglomerationen integriert werden, sind aber durch kollektive Etikettierungs und gesellschaftliche Segregationsprozesse zu einer symbolischen und sozialräumlichen Bannmeile geworden. Ihre Bewohner sind "draußen", räumlich wie gesellschaftlich. Die Banlieues machen vor allem deshalb von sich reden, weil es in ihnen immer wieder zu Revolten und Entladungen von Haß und Frust kommt, in deren Mittelpunkt Auseinandersetzungen zwischen maghrebinischen und afrikanischen Jugendlichen einerseits und französischen Polizeieinheiten andererseits stehen. Dies zum Anlaß genommen, wird auf die desolate Situation in den Vorstädten hingewiesen: Arbeitslosigkeit, Drogen, Kriminalität, entwürdigende Wohnverhältnisse etc. Dabei wird vor allem den Jugendlichen zunehmend die Integrationsfähigkeit und der Integrationswille in die französische Gesellschaft abgesprochen.

Hinsichtlich der Integrationsfähigkeit und des Integrationswillens wird meinen eigenen Beobachtungen und Recherchen zufolge jedoch sowohl in den Medien als auch in soziologischen und anthropologischen Arbeiten zwischen den Söhnen und den Töchtern maghrebinischer Immigranten differenziert: den maghrebinischen Mädchen und Frauen wird vorwiegend eine wesentlich wohlwollendere Einschätzung entgegengebracht. Diese geht deutlich über eine schlicht geschlechtsdifferenzierte Betrachtung eines sich wie auch immer gestaltenden "Integrations"verhaltens hinaus. "La Beurette" wird bisweilen zur Blume der Hoffnung inmitten der BanlieueTristesse stilisiert. Die französische Presse organisiert ihre Berichterstattung über die "filles d'origine maghr‚bine" in unterschiedlichen Bildern. Zunächst gibt es in dem Genre der "faits divers" Berichte und Portraits über Mädchen, die zu einer Heirat gezwungen werden, Opfer der rigiden sozialen Kontrolle ihrer Brüder und Väter sind und schließlich von zu Hause abhauen. Daneben werden aber auch Beispiele der fleißigen und erfolgreichen Schülerinnen, der diplomierten jungen selbstbewußten maghrebinischen Frau vorgestellt, ein Bild erfolgreicher junger Maghrebinerinnen auf dem Weg des sozialen und gesellschaftlichen Aufstiegs entworfen. Mit der sogenannten "affaire du voile"4 im Herbst 1989 entwickelt sich für die Repräsentationen der weiblichen zweiten und bisweilen dritten Generation maghrebinischer Immigranten eine eigene Dynamik. Es tritt ein anderer Typus ins Bewußtsein der französischen Gesellschaft. Die kopftuchtragende Schülerin wird als ein Affront auf die laizistisch geprägte Republik verstanden. Das Kopftuch als das religiöse Zeichen des Islams, die Frage des Laizismus', das Konzept eines Islams "… la fran‡aise" und das Selbstverständnis der französischen Republik füllen in den letzten Monaten des Jahres 1989 bis in den Frühsommer des folgenden Jahres die Seiten der Printmedien.

Im Spätsommer kommt es mit dem vom nationalen Erziehungsministerium erlassenen "circulaire Bayrou", einem Rundschreiben, in dem das Tragen von "ostentativen" religiösen Zeichen in Schulen und vor allem während des Unterrichts verboten wird, zu einer Fortsetzung der Schleieraffäre, die in der Folge erneut zu etlichen Ausschlüssen der betroffenen Mädchen von den Schulen führt. Die maghrebinische junge Frau steht immer wieder in unterschiedlichen Figuren im Mittelpunkt der französischen Öffentlichkeit und wird zu einem Gegenstand des Diskurses über gesellschaftliche Werte und Ziele. "La Beurette" ist nicht nur eine von französischen Dictionnaires unübersetzbare Vokabel (beur = personne n‚e en France de parents immigr‚s maghrebins), sondern steht als Chiffre für einen aktuellen in der französischen Gesellschaft geführten Diskurs über die Integration oder NichtIntegration maghrebinischer Migranten und deren Kinder in Frankreich. Dieser Diskurs macht die gesellschaftliche Problematik wie auch die gesellschaftliche Produktion von Gleichheit und Differenz sichtbar.

Es stellen sich eine Reihe von Fragen: Weshalb sind es die Mädchen und jungen Frauen, die offenbar eine höhere gesellschaftliche Anerkennung genießen? Welches sind die Voraussetzungen und Bedingungen für diese Anerkennung, die sie selbst bieten oder zuvor erfüllen müssen? Können sie für die französische Gesellschaft möglicherweise etwas erfüllen oder erreichen, was ihre Familienmitglieder nicht können? Sind sie weniger "auffällig"? Erhalten sie als "Opfer" eines patriarchalischen Systems im Land der "droits de l'homme" notwendigerweise die Sympathien und Fürsorge, und sollen sie als Komplizinnen für den Kampf gegen einen befürchteten muslimischen Fundamentalismus gewonnen werden? Wer trägt und gestaltet ein positives Bild mit welchem Interesse? Welchen Sinn macht eine Stigmatisierung des Kopftuchs? Wie sehen sich die Mädchen und Frauen selbst? Welche Vorstellungen entwickeln und haben sie von ihrem Leben in der französischen Gesellschaft? Identifizieren sie sich mit bestimmten Medienbildern? Wie orientieren sie sich im Hinblick auf die eigene Familie, die eigene "communaut‚"? Werden die Anforderungen der französischen Gesellschaft erfüllt oder werden Gegenstrategien entwickelt? Welche individuellen, welche kollektiven Strategien im Umgang mit Selbst und Fremdbildern sind erkennbar?

Der Analyse der Medienbilder stehen sechs aus narrativ geführten Interviews entstandene Portraits maghrebinischer Frauen und die Präsentation zweier Frauenvereinigungen mit ihren impliziten oder explizit formulierten Integrationskonzepten gegenüber, die Einblicke in Lebensentwürfe, in Befindlichkeiten, Hoffnungen, Frust, Gestaltungsalternativen und Zukunftswünsche geben. Orte der Interviews und Begegnungen mit den Frauen, mit und in den beiden Frauenvereinigungen sind Paris, Nanterre und Billancourt.

Literaturhinweis:
Noch ein kurzer Hinweis auf mein neues Buch, für das ich in Kanada Interviews mit ehemaligen Frankfurtern durchführte. Einige der Interviews werden im Wortlaut abgedruckt. Ergänzend enthält das Buch Informationen zur Auswanderung in der Nachkriegszeit und zur Einwanderungspolitik und Geschichte Kanadas. Ein abschließendes Kapitel befaßt sich unter anderem mit der Frage nach der "unaufgearbeiteten Vergangenheit" ausgewanderter Deutscher und der Situation von Auswanderinnen der 50er Jahre.
Das Buch erscheint im September, im Verlag Brandes & Apsel, mit einem Zitat als Titel: "Ich bin halt ein Frankfurter Child." Kanada-Auswanderer erzählen. Hrsg. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt (M).

1. Die Untersuchung erscheint demn„chst als NOTIZEN-Band 55.
2. Im Jahre 1993 wurden hier allerdings eine Reihe von rechtlichen Einschr„nkungen im Staatsbrgerrecht vorgenommen. Eine "automatische" Staatsbrgerschaft gibt es nicht mehr, sie mu˜ jetzt formell beantragt werden.
3. Der fremde Kontinent vor der Stadt. In: Die Zeit, 1.12.1995; Das Lied der grauen Vorst„dte. In: Frankfurter Rundschau, 10.1.1996.
4. "L'affaire du voile" l„˜t sich mit "Schleieraff„re" bersetzen. Neben "voile" tauchen die Begriffe "foulard", "foulard islamique", "tchador", "hidjab" und "fichu" auf. zurück


aus:

ANTHROPOLITAN Computerwelten

Mitteilungsblatt der Frankfurter Gesellschaft zur Förderung der Kulturanthropologie (GeFKA), Jg 4 1996

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