Von der technischen Erweiterung des Menschen

Ute Süßbrich

Die Versprechen

Im dritten Jahrzehnt der digitalen Vernetzung haben wir alle mehr oder weniger eine Vorstellung davon, was das neueste technische Faszinosum namens "Virtual Reality" (VR) darstellt. Schließlich überstürzen sich die Nachrichten über die Neu-"Implementierungen" der elektronischen Medien in allen Sektoren. So folgt eine Informationsmesse der anderen und die Anzahl der Vernetzten steigt von einer Million zur nächsten. Doch während manchen eher das "schlechte Gewissen" erheischt, nicht auf dem neuesten Stand zu sein, fällt es auch gut Informierten immer schwerer, sich auf diesem wackeligen Stand zu halten. Bei wieder anderen mag sich Enttäuschung einstellen, wenn die erste Berührung mit den virtuellen Räumen kein tiefreichendes Erlebnis ist. Der Grund dafür liegt in der Diskrepanz zwischen den fiktiven und den tatsächlichen Eroberungszügen durch die neuen virtuellen Welten. Steckt nämlich das entsprechende Rüstzeug für den Marsch durch das unwegsame Virtuelle entwicklungstechnisch noch in den Kinderschuhen, so ist das für unsere Projektionsfähigkeit umso besser. Die gleiche abendländische Phantasie, die uns vor fünfhundert Jahren eine "Neue Welt" eines frisch entdeckten 'territorialen' Kontinents mit güldenen Palästen und Menschen mit Tierköpfen vorgaukelte, präsentiert uns heute eine 'virtuelle' Welt computer-generierter Daten. "Wie der Tag, an dem Kolumbus Amerika entdeckte, wird der 7. Juni - der Tag der virtuellen Realität - die Öffnung einer neuen Welt gefeiert" (Heidesberger 1991, 57). Das 'Virtuelle', so heißt es, kennt keine Grenzen. Unabhängig von Zeit und Raum erhält es sich über und spiegelt sich in unserer Vorstellungskraft und wird zur Herausforderung an unser menschliches Erzeugungsvermögen. Damit will die Eroberung der Outerspace mit dem Cyberspace zu einem Durchroden der Innerspace führen. Unser unbewußtes Eigenkapital nämlich könnte aktiviert werden, wenn wir uns, wie der Simulationsphilosoph Baudrillard es empfiehlt, nur einfach von den virtuellen Objekten "verführen" ließen.

Tatsächlich bleibt jedoch noch einigermaßen vage, welche Versprechen die VR einzulösen vermag. Wegweisende Lockvögel flattern zu Hauf als Zeichenträger des Multimedialen. Sie sind die Verkünder der schönen neuen Welt, die sie, auch wenn sie nicht so schön werden sollte, auf jeden Fall für unvermeidlich halten.

Schon vorhanden ist die Welt der multimedialen Kommunikation über die digitalen Netze. Hier herrscht ein reges Treiben, und es heißt, daß Information längst zum Gold unserer Tage geworden sei. Symbolisiert der Besitz der heiß gehandelten immateriellen Ware Macht - ebenso wie einst der Besitz des Edelmetalls -, so soll der Zugang zur dezentral gespeicherten und jederzeit abrufbaren Information mit der neuen Technik im Zeichen der Freiheit und der Demokratie stehen. Ob unter diesem Wappen ein Sieg gegen die Macht der Medien zu erringen ist, scheint zunehmend unsicher zu werden. Denn dem freien Informationsfluß stellen sich insbesondere zwei Hindernisse in den Weg: die Kommerzialisierung des Internet und die kostspielige Aufrüstung der Hard- und der Software, die im Zuge des stattfindenden Wettlaufs - in jedem Fall für "alle" - unerschwinglich ist und dies auch bleiben wird.

Um den anderen Bereich der VR ist es in der letzten Zeit vegleichsweise still geworden. Die Wege zu den begehbaren interaktiven und multisensuell ausgerichteten Modellwelten des sogenannten "Cyberspace" bleiben uns weiterhin verschlossen. Zwar stehen in Spielhallen Geräte vermehrt zur Verfügung, doch schinden die unter den behäbigen Kopfgestellen stattfindenden mühsamen Begehungen in die grobkörnigen schematischen Welten feindlicher Herrschaft nur mäßigen Eindruck. Zur Erlebnisvertiefung bleiben Expertensysteme in den Institutionen der Wissenschaft (wie das Fraunhofer-Institut in Darmstadt), der Industrie oder natürlich des Militärs.
Eine bequemere und noch dazu anregende Art, sich ein Bild darüber zu machen, was Virtualität vorstellt, bietet die Kunst. Hier haben in den letzten dreißig Jahren viele schöpferische Geister versucht, als "Seismographen" (Moholy-Nagy) ihre Fühler auszustrecken, um zu erspüren, was mit den Neuen Medien anzustellen ist, welche Möglichkeiten sie versprechen und in welchem Maße sie eine Bedrohung darstellen. Im Verbund mit der postmodernen Medientheoretikern, -philosophen und -gurus trachten heute viele Künstler danach, der "Tradition" der Avantgarde Folge zu leisten, indem sie unermüdlich mittels der selbst geschaffenen Fiktionen unsere gegebenen Wirklichkeit zu brechen versuchen, um sie dadurch überschreiten zu können. Für diese Aufgabe scheinen Neue Medien besonders geeignet zu sein. Sie geben allein schon aufgrund ihres Prädikats "neu" einen idealen Ausgangspunkt ab, alles einmal anders zu betrachten, anders zu erfahren und anders zu machen. Darüber hinaus vereint VR alle Medien in sich, was bedeutet, daß sie unserer gegebenen Wirklichkeit nicht mehr nur einen neuen Rahmen verleiht, sondern an Stelle der Wirklichkeit zu treten imstande ist, indem sie eine Als-Ob-Welt aus sich heraus erzeugt.
Hervorstechendes Merkmal der VR ist ihre Immaterialität. Wird etwas wahrgenommen, das faktisch und tatsächlich "da draußen" gar nicht vorhanden und zu begreifen ist, dann nennen wir das eine "Illusion". Die Technik als das "Wesen der Schöpfung" (Barthes 1963, 159) hat mit der Magie beginnend bis zu ihrem letzen Auswurf der heutigen elektronischen Datenverarbeitung immer schon verblüffende Effekte erhaschen können. Durch die Illusionstechnologie der VR wird die Täuschung jedoch endlich vollkommen. Der ganze Körper mit all seinen Sinnen soll eines Tages durch die Simulation äußerer Reize stimuliert werden. Utopisch klingt, was mancher Schöpfer und Entdecker der digitalen Traumwelten uns heute prophezeiht. Doch sollte es tatsächlich einmal soweit sein, dann würde ein großer Menschheitstraum wahr werden. Die kindliche Pippi Langstrumpf-Phantasiewelt des "Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt" könnte zur Realität gedeihen. Um sich tatsächlich häuslich darin ein- und auszurichten, sind alle Geister sämtlicher Wissenschaften dazu aufgefordert, sich zu überlegen, was uns denn nun eigentlich gefallen will. Trotz des Undenkbaren, das durch das Virtuelle nun auch erfahrbar werden soll, macht sich eine gewisse Ohnmacht breit, schließlich stellt die potentielle Realisierbarkeit solcher Phantasien unsere aktuelle - noch - gesellschaftliche Wirklichkeit radikal in Frage.

Ein Feld, in dem sich des Phänomens mit besonderer Innigkeit angenommen wird, ist die von den Kognitionswissenschaften bis in die Schönen Künste reichende Ästhetik. Hier stellt sich die Frage, ob Realität und Fiktion, Subjekt und Objekt, Zuschauer und Schauspieler, Wille und Vorstellung zwei je verschiedene oder nur einen einzigen Bereich umschreiben. Realitäten aller Art, so weiß der Neurologe, der Psychoanalytiker, der Linguist, aber auch der Sozialwissenschaftler, entstehen im Kopf des Betrachters. Ungeklärt ist jedoch, ob die Konstitution dessen, was wir als 'wirklich' betrachten, sich in seiner Totalität variieren läßt - und inwieweit eine solch variable Umwertung der Werte ethisch noch vertretbar ist. Die altbekannte Frage, ob das, was machbar ist auch gemacht werden soll, hält ihr Stelldichein; es ist eine Frage, die den geübten "zwischen den Welten wandelnden" Ethnologen und Kulturanthropologen auf den Plan ruft. Den Mitstreitern des technisch-medialen Feldzuges jedenfalls ist an diesem Problem zunächst einmal noch wenig gelegen. Grundtenor: Anstatt die neuen Welten mißtrauisch zu beäugen und uns in kulturpessimistischer Manier selbst aufs ökonomische Abstellgleis zu stellen, sollen wir uns alle daran machen, an ihnen mitzugestalten. Darüber hinaus haben auch viele kritische Geister die Umwertung der Werte mitvollzogen und meinen, wie der im Bereich Multimedia aktive Verleger und Filmemacher Manfred Waffender in einem Interview erklärte, die Welt habe sich mit den Mulimedien dezentralisiert und ist daher unkontrollierbarer, spielerisch-assoziativer und gelassener geworden. Ohne sogleich ins Werten zu verfallen, so Waffender, hätten die neuen Medien eine neue Kommunikationslandschaft entstehen lassen. Daß darin tradierte Bedeutungen weniger ernst genommen werden, ist auch in seinen Augen eine nicht zu bestreitende Folgeerscheinung, doch eben diese verhindere eine Monopolisierung der Gedanken.

Mit dieser Ansicht steht Waffender nicht allein. Besonders fortgeschritten aber ist der lässige und sorglose Umgang mit den virtuellen Landschaften elektronischer Kommunikation erwartungsgemäß vor allem im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier scheinen die virtuellen Welten aufgrund des immer aufs Neue besonnene Selbstverständnis der Staaten auf besonders fruchtbaren Boden zu fallen. Auch thronen die Väter der VR-Technologie von dort. Im äußersten Westen des Westens, dem fröhlich-relaxten Sonnenland California, führen sie ihr eifriges Demiurgen-Dasein. Die Cybercity par exellence ist bekanntlich San Francisco - die Stadt, von der aus die multiplen neuen Strömungen angefangen bei den abenteuerlichen Goldgräbern über die unkonventionellen Hippies, den anarchistischen Hackern bis zur virtuellen Computer-Generation ihren Auftrieb bekamen. Hier sitzt auch der famose Hersteller der VR-Technologie von Silicon Valley, Jaron Larnier, der das Etikett 'virtuell' geprägt hat, sowie der erfolgreiche Publizist in Fragen Virtueller Realität Howard Rheingold. Sie verkünden ein neues Denken der "Kommunikation", des "Selbermachens" und der "Interaktivität", das den alten Fragen nach dem "Wahren, Guten und Schönen" erst richtig nachzuspüren in der Lage ist. Es handelt sich dabei um optimistische Erzählungen der Zukunft; um Erzählungen, durch welche, wenn sich ihre Realisierbarkeit auf die Medien beziehen, der unverdorbene Glaube an die Technik hindurchschimmmert.

Es sind moderne Mythen. Mythen, nicht über eine verborgene Vergangenheit, sondern über noch ungelegte 'virtuelle' Eier, die unter dem wärmenden Zuspruch solcher Glaubensbekenntnisse liebevoll ausgebrütet werden. Unter ihrer Schale verbergen sich zwei voneinander scheinbar unabhängig existierende Nährwerte: die Phantasie und der Machtanspruch. Dabei handelt es sich um zwei für den Fortbestand technischen Wachstums wesentliche Ingredienzen. Auf die als selbstge'machte' "Erweiterungen des Zentralnervensystems" (McLuhan 1964) verstandenen elektronischen Medien wird einiger Stolz verwendet. Daß die "Kulturpessimisten" darüber die Verselbständigung des neuen Mediums wittern, bzw. darauf hinweisen, auch das Kommunikationsmedium par exellence könne sich darauf beschränkten, ein weiteres Instrumentarium ausschließlich Eingeweihter zu werden, bleibt zuweilen unerhört. Denn trotz aller nur zu bekannten Unkenrufe scheint die Neugier und die Faszination vor dem Neuen doch ungebrochen: die virtuellen Eier werden willkommen geheißen - sie sind die jüngsten Beweisstücke technischer Potenz.

Und es heißt: "sich der rasanten Entwicklung der elektronischen Technologie zu widersetzen ist ebenso unsinnig wie der Versuch, die Wellen des Meeres aufzuhalten" (Waffender im selben Film). Wir haben keine Wahl und mit der Brut wird sich, das singen längst die Spatzen von den Dächern, unser Leben verändern. Die virtuelle Revolution aber soll anders sein als jede bekannte Art technischer Revolution, die uns in der Vergangenheit neben Zeitersparnissen, Bequemlichkeiten und vielen anderen feinen Dingen immer nur weiter um unsere Naturverbundenheit gebracht hat. VR-Technologie soll dem Menschen seine eigene schöpferische Grenzenlosigkeit vor Augen führen, so daß sein Leben "überhaupt erst ein menschliches Leben zu nennen ist" (Flusser 1989,142).

Signifikative Texte

Was also mag das für eine Hoffnung sein, die Leute wie Vil‚m Flusser hier hegen? Worauf wird gesetzt, wenn Probleme sozialer, ökologischer und ökonomischer Art mit immer neuem Werkzeug angegangen werden sollen? Was ist der Antrieb unüberschreitbare Grenzen unseres endlichen Daseins mittels der schöpferischen Potenz der Technik zu überwinden?
Der Untersuchung offen stehen Texte, auf welchen die phantastischen Wirklichkeiten und die herbeigewünschten Elektro-Utopien aufbauen. Sie sind gepflastert mit signifikanten Bausteinen bereits vorhandener Wirklichkeitskonstruktionen, und sie sind nicht nur individuell, sondern sie sind auch mit dem gesellschaftlichen Kontext eng verwoben. Um einen symbolischen Rahmen für diese verborgenen Wirklichkeitskonstruktionen abzustecken, muß eine Wahl aus den sich in reicher Zahl anbietenden Texte getroffen werden.
Der anschließende Überblick faßt einige Thesen zusammen, die sich aus den Ansichten verschiedener Experten herausfiltern lassen. Daß in diesem Text genau diese Thesen zu lesen sind, ist die Folge einer eigenen Konstruktion aus den Versatzstücken subjektiver Interpretation. Sie setzt die Erzählungen der Erzählungen über die virtuelle Wirklichkeit durch eine weitere auf eine bestimmte Weise fort. Ich möchte mit ihr versuchen, VR doch noch einmal - trotz des Ratschlags die neuen Medien nicht so ernst zu nehmen - in ihrer Bedeutung zu erfassen und der Ungreifbarkeit des 'Virtuellen' entgegenzuwirken.

Was wird konstruiert?

1. Anthropologische Vorraussetzungen:
VR entspricht dem Bedürfnis, andere Wirklichkeiten zu finden:
VR ermöglicht die Erfahrung mit neuen Wahrnehmungsebenen über künstlich realisierte Sinnestäuschungen.
VR-Illusionen wollen eine gesamte 'Als-Ob'-Welt erlebbar machen.

2. Wissenschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit
VR kommt einer wissenschaftlich orientierten Denkart unserer Zeit entgegen:
Wir können unser Denken erfahren, indem wir es medial externalisieren.
VR ist eine Technologie, die unsere vorhandene Wirklichkeit erweitert. (Stichwörter: Selbstreferenz, Autopoiesis, Komplexität).
VR ist eine Erweiterung und Vernetzung unseres Denkens: Sie ist von evolutionärer Bedeutung.

3. Kontinuität kultureller Konstruktion von Wirklichkeit
VR ist das jüngste Produkt unserer abendländischen Konstruktion von Wirklichkeit:
Ohne apriorische Verankerung verkehrt sich die Sinnsuche in der Wirklichkeit in die Suche nach 'Möglichkeit' im Schein.
Die Unzulänglichkeiten der physischen Welt werden verlassen.
Es soll ein 'neues', selbstgeschaffenes und grenzenloses Territorium erobert werden.

4. Aspekte des Selbstverständnisses aus der medialen Perspektive
VR-Verfechter und Medien-Künstler zeigen uns, wie wir 'wirklich' sind:
Selbst-Erkenntnis ist nur über mediale Externalisierung unseres Denkens im Erleben möglich.
Die Externalisierung eigene Schöpferkraft ersetzt die 'Natur'.
Der Körper als Teil der Natur soll überwunden werden.

5. Folgen dieses Selbstverständnisses
VR als 'Neues Medium' ermöglicht neue Kommunikationsformen: 'Information' wird zum Selbstzweck:
VR als Prinzip virtueller Vernetzung liefert eine nicht zu fassende Komplexität an Informationen,Informationen ermessen sich über ihre Quantität; Bedeutung ergibt sich aus dem Neuheitswert der Information, entstehende Kommunikationsmuster versuchen der Komplexität gerecht zu werden (z.B. durch 'Informationssprachen').

Mit der Möglichkeit, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Erfahrbarkeit noch einmal zu erzeugen, wird eine Tür geöffnet, der bestehenden Wirklichkeit zu entfliehen, um in einer Welt der Sinnestäuschungen neue Erfahrungen zu machen. Die Art dieser neuen Erfahrungen erfüllt zweierlei: Sie läßt der Phantasie freien Raum, und sie ist doch eine wissenschaftliche, was soviel heißt wie eine menschlich erzeugte Erfahrenswelt. Entscheidend ist, daß eine solche Welt dem Bedürfnis nach Kontrolle sowie dem nach evolutionärem Fortschritt entgegenkommt. Ganz besonders wichtig ist dabei die von Medientheoretikern wie Marshall McLuhan angenommene These, daß wir Menschen uns mit Hilfe der vorhandenen Medien erweitern. Im Fall der VR nun erweitern wir unser Zentralnervensystem und schließlich unser eigenes Genium: die auschließliche dem Menschen eigene Schöpferkraft.

Was aber suchen wir in dieser Illusionswelt eigenen Prädikats und welche Aufgaben verbleiben uns Menschen innerhalb der Super-Elektro-Welt? Eine These ist, daß wir dort weiter nach unserer ureigensten Wirklichkeit suchen, wie wir es in alt-abendländischer Tradition immer schon getan haben. Nicht von ungefär werden den technischen Errungenschaften in den regelmäßig wiederkehrenden Maschinenwelt-Utopien magische Eigenschaften zugeschrieben, durch die einerseits Herrschaft über das Vorhandene, andererseits Ohnmacht gegenüber dem Kommenden verbunden wird. Daß die selbstgeschaffene Welt unsere Kräfte widerzuspiegeln scheint, täuscht nicht darüber hinweg, daß diese, einmal medial veräußerlicht, eigenen Gesetzen gehorcht. Nun soll es aber nach Ansicht der Medienbefürworter nicht mehr darum gehen, das aus der Kontrolle Geratende unserer Machwerke zu bannen, sondern im Gegenteil geht es nun darum, sich der Eigengesetzlichkeit des Immateriellen unterzuordnen, um sich mit ihr zu neuen Erfahrungen aufzuschwingen. Die Wirklichkeit, nach der schon die alten Griechen im All-Einen gesucht haben, liegt - so weiß man jetzt - im Multiplen, im Möglichen - und, wie Nietzsche es bereits vor hundertfünfzig Jahren postulierte, in der die Wirklichkeit überschreitenden Fiktion.

Dermaßen unbegrenzt, kann sich der Mensch als körperloses Wesen endlich frei entfalten. Er kann die schnöde physische Welt verlassen und in den kosmisch-elektronischen Gehirn-Spiegel seines eigentlichen Selbst eintauchen. Dabei liegt die Selbsterkenntnis in unserer Schöpferkraft: Nur indem wir dies mit Hilfe unserer technischen Erweiterung reflektieren, erreichen wir unsere 'Wirklichkeit'. Allerdings ist stetiges Überschreiten des Wirklichen als Vorgegebenem dafür Bedingung. Anders gewendet heißt das, daß wir nur dort wirklich sind, wo wir nicht sind, was wiederum ein unenedliches Streben nach Neuem voraussetzt. An dieser Stelle aber geraten wir in einen Kreislauf ohne Ausgang. Denn um schöpferisch zu uns selbst zu kommen, brauchen wir das "Unvordenkliche", das, im entäußerten Stadium, wieder überschritten werden muß. Die infinite und niemals zu befriedigende Sehnsucht nach dem Selbst wird zur Quelle der kreisenden kreativen Bewegung, dem Baudrillardschen "Begehren". Ein Begehren, das sein Objekt niemals erlangt und daher das Neue, das Andere, das aus dem Eigenen hervorbricht magisch erhöht. Und was eignet sich dafür besser als eine immaterielle Technik, die keine Grenzen kennt?

Trotzdem leben wir in einer Welt medialer Komplexität. In ihr ist Kommunikation von oberster Bedeutung. Es ist nur auch hier die Frage, auf welches Verständnis von 'Kommunikation' wir uns einigen. Ist es der bloße Austausch von Informationen, welche durch eine möglichst vollkommene Vernetzung der unzähligen Informationsquellen erreicht wird, rationalisieren wir uns selbst als deutende Wesen von der Bildfläche weg. Denn um einen Neuheitswert zu erreichen genügt es nun, Informationen hin und her zu senden, welche sich beim Empfänger - und dieser muß dann kein Mensch, sondern kann ebenso eine Kommunikationsmaschine sein - in den ulkigsten, nie dagewesenen Kombinationen zusammenführen lassen. Der daraus hervorgehende Erkenntniswert: Wir sind relativ, alles ist möglich und nichts ist wirklich. Es scheint, daß uns erst dann, wenn wir dies richtig begriffen und schätzen gelernt haben, das Reich der unbegrentzen Welten mit all seinen wunderbaren Möglichkeiten offensteht.

Der kulturanthropologische Blick auf die virtuellen Elektro-Welten fragt nach der dem Medium schon vorauseilenden Bedeutungseinbettung. Meines Erachtens läßt sich eine Bewertung der Konstruktionen schwerlich ausklammern. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Bewertung der Ansichten, der wissenschaftlichen Diskurse und der Hoffnungen, die einen Bezug zu VR haben und nicht um das Medium als solches. Es kann nicht darum gehen, durch vorschnelles Urteilen die tatsächlich existierenden Vorteile elektronischer Kommunikationsformen angstvoll herunterzuspielen oder gar zu ignorieren. Tatsache aber ist, daß diese Sonnenseiten der VR in jedem Fall zu ihrem Recht kommen. Für die Geistes- und Sozialwissenschaften ist es daher aufschlußreich zu sehen, wie über die wirklich werdende Virtualität geredet, geschrieben und geforscht wird. Es ist ein spannendes Unternehmen zu versuchen, die zugrundeliegenden Bedeutungstexte, die der aktuellen Entwicklung den An- und Auftrieb geben, offenzulegen und damit die alten immer wiederkehrenden Machtansprüche ins Bewußtsein zu heben. Die multikulturelle Gesellschaft lebt in einer multimedialen und multirealen Welt, in der der Alltag durch die immaterielle Technologie ganz wesentlich bestimmt wird. Das 'Virtuelle' ist vielleicht eine sehr passende Metapher für unsere medial dominierte Wirklichkeitskonstruktion. Aus alter abendländischer Suche nach universellen Konstanten finden wir uns heute wieder in dem Glauben an ein projiziertes Machbares, das eher als Spiegel des 'Möglichen' als des 'Wirklichen', des 'Scheins' als des 'Seins' fungiert. Es ergibt sich eine seltsam ungreifbare Chance, unsere Welt noch einmal zu erfinden. Ob diese daraus entstehenden neuen multiplen und immateriellen Welten dazu geeignet sind, uns weiter zu beherbergen, ist eine Frage, die genau das herausfordert, was nicht nur die technokratischen Maschinen-Demiurgen am Menschen am meisten schätzen: es ist eine Herausforderung an unsere Konstruktionsfähigkeit.

Literaturhinweise / weiterführende Literatur

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Lyotard, Jean-Fran‡ois mit anderen: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985
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Schmidt, Siegfried: Jenseits von Realität und Fiktion? in: Rötzer, F./ Weibel, P.: Strategien des Scheins. Kunst, Computer, Medien, München 1991, 83-92
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Steinmüller, Karlheinz (Hrsg.): Wirklichkeitsmaschinen, Basel 1993
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Sturman, David: Spürbar real? Virtuelle Wirklichkeit und menschliche Wahrnehmung; in: Waffender 1991, 99-126
Thürmel, Sabine: Virtuelle Realität. Ursprung und Entwicklung eines Leitbildes in der Computertechnik. In: Steinmüller 1993, 39-60
Waffender, Manfred (Hrsg.): Cyberspace - Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Hamburg 1991
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aus:

ANTHROPOLITAN Computerwelten

Mitteilungsblatt der Frankfurter Gesellschaft zur Förderung der Kulturanthropologie (GeFKA), Jg 4 1996

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