Von Sabine Helmers
Projektgruppe Kulturraum Internet
s@duplox.wzb.eu
Berlin, März 1997
Für DER SPIEGEL, online world
(Textkopie ohne Quellenverzeichnis)
I.
Wenn man sich im Internet zu Wort meldet, dann geschieht dies unter Nennung von Namen und Netzanschrift: Jede im Internet verschickte E-Mail, jeder Beitrag in den Netnews oder im Internet Relay Chat wird mit einer Absenderkennung versehen, aus der sich rekonstruieren läßt, woher die Nachricht stammt. Falls man sich einmal nicht namentlich äußern möchte, bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: Entweder man legt sich mit etwas technischen Kenntnissen eine fingierte Absenderanschrift, oder man bedient sich der Dienste eines Anonymisierungs-Remailers.
Das Funktionsprinzip der Remailer ist schlicht: Die verschickte Nachricht wird vor ihrem eigentlichen Bestimmungsort zunächst an einen Anonymisierungs-Server im Internet geleitet. Bei diesem Zwischenstop werden die Nutzerkennung und andere Herkunftsangaben entfernt, und die Nachricht wird, mit einer neuen anonymen Kennung versehen, zum Zielort weitergeleitet.
Es gibt verschiedene Remail-Systeme. "Ein-Weg"-Systeme beschränken sich auf die Entfernung der ursprünglichen Nutzerkennung. Andere Systeme bieten eine Art anonymes Postfach und ermöglichen neben dem Versand auch den Empfang von Nachrichten. Bei solchen "Postfach"-Systemen verwaltet der Remailer eine Datenbank, in der die ursprüngliche Kennung und die vom Remailer vergebene Kennung verzeichnet sind.
Ein Blick auf Botschaften in den Netnews, die über einen Remailservice gelaufen sind, zeigt, daß dieser Dienst besonders für den Versand von Sexnachrichten genutzt wird, aber auch für Hilfeersuchen und Gedankenaustausch bei persönlichen Problemen, derer man sich schämt oder bei deren Veröffentlichung man unangenehme Konsequenzen zu erwarten hat. Kein Ehegatte, kein Chef, kein Nachbar und auch nicht Mutti und Vati sollen herausfinden, welche Person hinter der Nachricht steckt. Zum Beispiel fragt gerade ein "nobody@REPLAY.COM" in der Newsgruppe alt.sex.bondage nach gleichgesinnten Interessenten. Und die Kennung "anon-12764@anon.twwells.com" schützt die Identität einer Nutzerin, die auf Rat und Unterstützung anderer Magersüchtiger in der Newsgroup alt.support.eating-disorders hofft. Auch manche Netznutzer, die sich mit politischen oder weltanschaulichen Anliegen an die Netzöffentlichkeit wenden, suchen Schutz hinter einer elektronischen Maske.
II.
Den Schutz der Anonymität suchte auch der Nutzer des populären finnischen Remailers "Anon.penet.fi" mit der Kennung "an144108". Derart maskiert brachte er vor gut zwei Jahren in den Netnews Interna der Scientology-Sekte an die Öffentlichkeit.
Darauf mobilisierte im Februar 1995 die Scientology-Sekte Interpol und die finnische Justiz, um über den in Helsinki stationierten Remailservice die Identität von "an144108" zu erfahren. Unter dem Druck drohender Polizeiaktionen, die nicht nur diesen einen, sondern womöglich allen in seiner Datenbank registrierten Nutzern den Anonymitätsschutz gekostet hätte, gab der Betreiber von Anon.penet.fi, Johan "Julf" Helsingius, den von Scientology geforderten Absendernamen heraus. Und schon ein Jahr später, im Sommer 1996, gelang es der Scientology-Sekte mit Hilfe der finnischen Justiz erneut, Helsingius zur Herausgabe von zwei weiteren Absendernamen Remailernutzern zu zwingen.
Helsingius reagierte schnell: Noch bevor sich die Scientology-Anwälte auf Grundlage einer erstinstanzlichen Entscheidung Zutritt zu seinen Nutzerdaten verschafften, gab er in einer Presseerklärung am 30. August 1996 die Schließung seines Remailservices bekannt. Die finnische Rechtslage für diese Internetdienstleistung sei unklar, er könne den Schutz der Anonymität der Nutzer seines Services nicht gewährleisten. Außerdem sei er selbst als Betreiber zum Ziel ungerechtfertigter Anschuldigungen geworden, die sein berufliches und privates Leben belasteten.
Hintergrund dieser Entscheidung waren nicht nur die juristischen Aktionen von Scientology: Die britische OBSERVER hatte Helsingius eine Woche zuvor als Schuldigen für die Verbreitung von Kinderporno-Bildern angeprangert. Gleich auf der Titelseite war unter dem reißerischen Aufmacher "Die Hausierer des Kindesmißbrauchs: Wir wissen, wer sie sind, aber niemand hält sie auf" ein großes Foto von Helsingius zu sehen: "Der Zwischenhändler im Internet, über den neunzig Prozent des Kinderporno-Handels läuft." Die finnische Polizei ermittelte daraufhin, doch die im OBSERVER gemachten Anschuldigungen erwiesen sich als falsch. Es war bereits seit längerem technisch ausgeschlossen, über "Anon.penet.fi" Digitalphotos zu verschicken.
Helsingius will nun in einem Widerspruchsverfahren klären lassen, ob es tatsächlich eine Rechtsgrundlage für das Vorgehen der finnischen Behörden im Scientology-Fall gibt. Ferner erwägt er rechtliche Schritte gegen die Zeitung OBSERVER, die ihn und seinen Remailservice als Kinderporno-Lasterhöhle diffamierte.
III.
"Anon.penet.fi" war mit etwa 700 000 registrierten Nutzern und einem täglichen Aufkommen von rund 10 000 Mails der populärste Anonymisierungs-Remailer im Netz.
Entstanden war der Dienst im Jahr 1993 als technische Antwort auf einen Streit, der im finnischen Forschungsnetz entbrannt war. Einige universitäre Einrichtungen verlangten, daß alle Nachrichten stets namentlich gekennzeichnet und bis zum Urheber zurückverfolgbar seien sollten. Julf Helsingius war anderer Ansicht. Er erzählt in einem Interview: "Ich argumentierte, daß sich so etwas nicht erzwingen läßt, weil das Internet nach anderen Prinzipien funktioniert, und es immer möglich wäre, solcherlei Ansinnen technisch auszuhebeln. Und nur um mein Argument zu belegen, habe ich zwei Tage oder so an einer technischen Lösung herumgeköchelt, bis die erste Version meines Servers fertig war".
Der von Helsingius entwickelte Server bot erstmalig ein paßwortgeschütztes Postfachsystem zum Versand und Empfang von Nachrichten. Und als vehementer Verfechter der Redefreiheit stellte Helsingius sein System kostenlos in den Dienst der Netzöffentlichkeit.
Julf Helsingius war schon damals in Netzkreisen kein Unbekannter gewesen. Er war schon ein Net-Head, als das Internet noch ARPANET hieß. In den achtziger Jahren verwaltete er den zentralen finnischen Netzknoten für den News-Verkehr, war Mitbegründer der finnischen UNIX User Group und ist heute als Managing Director von EUnet Finnland sowie als Product Manager von EUnet International im privaten Provider-Geschäft tätig.
Helsingius' Anonymisierungs-Dienst blieb nicht der einzige: Heutzutage gibt es im Internet zahlreiche Remailer, derer man sich im Fall der Fälle bedienen kann. Manche arbeiten als kommerzielle Services, andere hingegen offerieren ihren Dienst gebührenfrei, wie beispielsweise der Server von "Replay.com" in Amsterdam. Der Betreiber, Alex de Joode, kam aufgrund von Diskussionen in einer Cypherpunk-Mailingliste über Anonymität im Netz und Schutz von Privatheit auf die Idee, selbst auf diesem Gebiet aktiv zu werden, und unterhält seinen Remailer seit 1994: "Die freie Meinungsäußerung bedeutet mir sehr viel. Man muß alles sagen können - selbst den größten Unfug. Dummheiten oder rassistische Hetze kann man nicht dadurch bekämpfen, daß man sie einfach durch Zensur mundtot macht, sondern dadurch, daß man sich mit diesem Zeug auseinandersetzt. Mit der Einrichtung des Remailers konnte ich meinen Teil dazu beitragen, es für Regierungen oder Firmen schwieriger zu machen, Leute im Netz zu beobachten und zu verfolgen. Nationale Zensurgesetze werden wirkungslos, wenn sich jeder per Modem und Telefon und geschützt durch einen Remailer frei und ungehindert zu Wort melden kann."
IV.
Die Schließung von "Anon.penet.fi" durch Julf Helsingius hat im Netz eine Welle der Entrüstung und Solidarität ausgelöst. Die amerikanische Electronic Frontier Foundation, eine weltweit agierende Internet-Bürgerrechtsinitiative, berichtete laufend über die Vorfälle um den finnischen Anonymisierer. Die EFF sammelt auch Spenden für Helsingius' Anwalts- und Gerichtskosten.
Darüber hinaus ehrte sie Helsingius in diesem Jahr mit einem EFF Pioneer Award, der ihm am 12. März im Rahmen der Computers, Freedom, and Privacy Conference in Burlingame, Kalifornien, überreicht wurde. Die Auszeichnung würdigt seine Pionierleistung auf dem Gebiet der Remailer-Entwicklung und seinen langjährigen persönlichen Einsatz für anonyme Kommunikation im Netz. Durch Anon.penet.fi habe es für alle Nutzer des Internet die Möglichkeit gegeben, sich ohne Gefahr von Repressionen zu Wort zu melden und frei und geschützt im Cyberspace zu kommunizieren.
In den netzweiten Protestbekundungen geht es nicht so sehr um den Schutz einzelner privater Problem- und Sexbotschaften. Man argumentiert vielmehr grundsätzlich für Informationsfreiheit und die Gewährleistung eines von Verfolgung und Zensur unbehinderten Austausches im Netz: Selbst wenn sich unter vielen hundert unspektakulären Anonym-Botschaften nur eine einzige befinde, die des informationspolitischen Schutzes vor Verfolgung wirklich bedarf, rechtfertige schon diese eine Nachricht den ganzen für den Remail-Betrieb erforderlichen Aufwand. Und der Schutzwert dieser Nachricht sei so hoch anzusetzen, daß ein paar schwarze Schafe, die die Remailer für kriminelle Zwecke nutzen, nicht zum Anlaß genommen werden dürfen, den gesamten Remailservice zu verdammen und zu verbieten.
So sieht es auch der Münchner Netztheoretiker Florian Rötzer: "Die möglichen Gefährdungen, die von Remailern ausgehen, müssen anders als durch Verbot in den Griff zu bekommen sein. Ich finde es ganz wichtig, sich auch anonym in die Diskussionen einklinken zu können." Und sein Amsterdamer Kollege und Internet-Aktivist Geert Lovink fordert: "Schafft zwei, drei, viele Remailer!" Lovink wirkt derzeit mit am Aufbau eines Netz-Exils für Inhalte, die anderswo verboten wurden. Zensuropfer sollen bei Contrast.org eine Zuflucht finden.
"Replay.com"-Betreiber De Joode ist der Ansicht, daß Helsingius den Fehler gemacht hat, bei seinem Anonymisierungskonzept nicht weit genug gegangen zu sein: "Julfs Probleme resultieren aus dem Zwei-Wege-Typ seines Remailers, der eine Nutzerdatenbank beinhaltet. Ich hatte bei Replay.com einmal Ärger mit Strafverfolgungsbehörden aus Singapur wegen regierungskritischer Botschaften, die über meinen Remailer liefen. Aber bei mir haben sie keine Chancen, an Namen zu kommen, denn ich betreibe wohlweislich einen Ein-Weg-Typ ohne Nutzerdatenbank, und auch ich habe keine Ahnung, von wem eine bei mir durchlaufende Nachricht stammt."
Durch Remailer getarnte Missetäter sind nicht leicht dingfest zu machen. De Joodes Beispiel zeigt, daß nicht überall und in jedem Falle für Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit besteht, sich Zugang zur wirklichen Nutzerkennung zu verschaffen. Gerade den Rufern nach Zucht und Ordnung wäre es daher sehr gelegen, wenn man im Internet ein generelles Vermummungsverbot durchsetzen könnte. Auf internationaler, aber auch schon auf europäischer Ebene, sind jedoch die Rechtsauffassungen zu unterschiedlich, als daß eine über Absichtserklärungen hinausgehende einheitliche Regelung in nächster Zeit zu erwarten wäre. Viele Remailer befinden sich beispielsweise in den USA, wo die Redefreiheit durch die Verfassung garantiert ist.
Solange das globale Netz auch solche Staaten umfaßt, deren Gesetze Einschränkungen der Redefreiheit nicht zulassen, und solange es ausgeklügelte Remailersysteme und andere Maskierungsmöglichkeiten für die Netzkommunikation gibt, wird es zum Alltag der Informationsgesellschaft gehören, daß sich jeder selbst auf Grundlage eines nicht mehr zensierbaren Meinungsspektrums ein Urteil bilden kann. Wenn Meinungsverbote technisch umgangen werden können, bleiben anstelle der Verbote immer noch die Gegenmeinungen, die vielleicht besseren Argumente.
Und die wirksamsten nicht-argumentativen Waffen im Kampf gegen unliebsame oder kriminelle Netzbotschaften setzen vor der eigenen Netzhaustür an: Löschtasten und Filterprogramme. Der kundige Internet-Nutzer weiß: Navigare necesse est. Und wenn auch nicht im globalen Datenmeer, so bin ich doch allemal in meiner eigenen Datenbadewanne Kapitän und entscheide darüber, was an Bord gehen darf.
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