Startseite Über uns Endbericht (Hyper-)Texte Allerlei Interaktionen Sitemap
Startseite Über uns Endbericht (Hyper-)Texte Allerlei Interaktionen Sitemap

Alles Datenautobahn - oder was?
Entwicklungspfade in eine vernetzte Zukunft
  Kommunikationsnetze der Zukunft - Leitbilder und Praxis. Dokumentation einer Konferenz am 3. Juni 1994 im WZB.. WZB Discussion Paper FS II 94 - 103, Wissenschaftszentrum Berlin 1994

Sabine Helmers, Ute Hoffmann, Jeanette Hofmann

  Sprungbrett
1  "Wenn ich noch einmal digitale Datenautobahn höre, platze ich..."
2  Alles wird anders werden, aber nichts wird sich ändern.
3  Die Mutter aller Netze: Leitbild Internet
4  Datennetze als Kulturraum: Forschungsansätze in den Sozial-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften
5  Landflucht aus dem "globalen Dorf": Reiseziel "digitale Stadt"?

 

  Am Ende dieses Tagungsbandes möchten wir einige Diskussionspunkte der Konferenz aufgreifen und sie im Lichte von Überlegungen, die uns im Rahmen der Projektgruppe "Kulturraum Internet" beschäftigen, kommentieren. Wir beginnen - wie könnte es anders sein - mit der Resonanz der Datenautobahn-Metapher und den Assoziationen, die dieses Bild auslöst. Ein Merkmal teilt die "Datenautobahn" mit dem "globalen Dorf", also jener konkurrierenden, in den 70er und 80er Jahren populär gewordenen Metapher, die die Datenautobahn seit kurzem mit Macht verdrängt hat: eine gewisse Rückwärtsgewandtheit im Entwurf der Informationsgesellschaft. Das Fehlen eines zukunftsorientierten Entwicklungsmodells, an denen viele Szenarien kranken, zeigt sich in den überwiegend konventionellen Nutzungsvorschlägen für die als so zukunftsweisend geltende Technologie: Alles wird anders werden, aber nichts wird sich ändern. Dies lenkt den Blick auf ein lange schon bestehendes Netz, das Internet, das als mögliches Leitbild für Systembildner im Bereich der Datenkommunikation dienen kann. Als neuer, extrem fluider Techniktyp stellt das Internet auch die sozial- und kulturwissenschaftliche Technikforschung vor konzeptionelle Herausforderungen. Ein Blick auf den Stand der Forschung in den Sozial-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften verdeutlicht, daß auch in der nicht-technikwissenschaftlichen Netzforschung das Neue nicht allein mit konventionellem Instrumentarium untersucht werden kann und partikulär ansetzende Herangehensweisen unbefriedigende Ergebnisse liefern. Und wirklich ganz zum Schluß dieses Beitrags wollen wir auf jenen "Ort" verweisen, der mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Internet sich verstärkenden Landflucht aus dem "globalen Dorf" großen Zuwachs verzeichnen kann: die "digitale Stadt".
1 "Wenn ich noch einmal digitale Datenautobahn höre, platze ich..."
  Aus diesem Eintrag in unser elektronisches Gästebuch - eine Reaktion auf einen kurzen, elektronisch publizierten Tagungsbericht - spricht ein gewachsenes Unbehagen an der ausgreifenden Rede von der Datenautobahn, das auch unter den Teilnehmenden der Konferenz verbreitet war. In einem Punkt waren sich die Teilnehmenden nämlich rasch einig: die so eingängige Metapher verführt zu einer verengten Problemsicht, denn "Schnellstraßen" für die Datenkommunikation sind bei der Reise in die Informationsgesellschaft von eher untergeordneter Bedeutung. Mehr Aufmerksamkeit als der Ausbau von Datenleitungen und die Optimierung des Datentransports durch neue Techniken hätten die Bedingungen und Inhalte des "Datenverkehrs" verdient. Zu diesen Bedingungen gehören beispielsweise die Kosten der Datenkommunikation, ihre Ordnung und ihre Form wie etwa das Maß der Interaktivität.

Gleichwohl erlebt die Datenautobahn-Metapher gegenwärtig eine unaufhaltsame Medien-Karriere. Man betrachte neben der Telekom-Werbung, der Tagespresse und den üblichen Montags-Magazinen beispielsweise die Überschriften in den August- und September-Ausgaben der auflagenstarken VDI Nachrichten: "Regierung an der Datenautobahn", "Software für die Datenautobahn", "Politiker setzen auf die Datenautobahn", "Datenautobahn soll Millionen Arbeitsplätze schaffen", "Bayern erprobt Datenautobahn", "Auf den Datenautobahnen Europas will jeder Erster sein" - die Datenautobahn ist ein mythischer Ort geworden. Auch Kritiker dieses Begriffs müssen zugeben, daß es erst der "Information Superhighway" war, der weit über die Grenzen der USA hinaus der Diskussion über die Informationsgesellschaft neuen Auftrieb verliehen und bis dato eher esoterische und dem Diskurs von Spezialisten und Insidern überlassene Sujets wie Telekommunikationssysteme und Datennetze ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit gerückt hat. Und das sich artikulierende Unbehagen an der "Datenautobahn" - mit wachsender Vertrautheit und Vertraulichkeit zunehmend auch

"I-way" oder "Infobahn" genannt - ist meist von einer lähmenden Hilflosigkeit begleitet, diesem Bild ein ähnlich einprägsames entgegenzusetzen. Von Anhängern öffentlicher Verkehrsmittel hervorgebrachte Wortschöpfungen wie dem "Neuigkeiten-Train" prophezeihen wir bei aller Sympathie eine eher geringe Resonanz.

Die Datenautobahn-Metapher lehrt - wieder einmal - die Bedeutung von metaphorischen Denk- und Leitbildern im Diskurs über neue Techniken und offenbart die Art, wie diese an bestehende Erfahrungen angeschlossen werden. Sprachbilder dienen dazu, das Unbekannte und Nicht-Vorstellbare in der Imagination anschaulich zu machen. Je abstrakter das Medium, umso größer die Anforderung an oder das Bedürfnis nach Vergegenständlichungen. Die künftige Bedeutung einer in ihren Möglichkeiten noch unbeschriebenen Technik wird durch den selektiven Rückgriff auf bereits präsente Technologien und ihre Nutzungsformen eingekreist. Die "Datenautobahn" lehnt sich so an den Straßenverkehr und seine internen Hierarchien an, um bestimmte erfahrene oder erwünschte Eigenschaften dieses Verkehrssystems auf den Datentransport und Informationstransfer zu projizieren. Die "Datenautobahn" spielt mit dem Ende des Automobils und knüpft gleichzeitig als technisch-kulturelles Projekt in ihren Verheißungen scheinbar bruchlos an den Automobilismus als Massenbewegung an.

Reminiszenzen an eine "andere" Wirklichkeit und die Evokation von Bildern, in denen die Beschaffenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließt, bietet freilich auch das "globale Dorf" - ein Leitbild, das in der ersten Runde der Diskussion um die entstehende Informationsgesellschaft in den 80er Jahren vielbeschworen wurde, heute als Gegenbild zur "Datenautobahn" allerdings kaum zu reaktivieren sein wird. Gegensätzliche Visionen zwar, teilen die "Datenautobahn" und das "globale Dorf" doch ein Charakteristikum: Je nach Standort und Interessenlage leuchten sie einzelne Eigenschaften von Datennetzen aus und reduzieren diese auf die durch das gewählte Bild herausgehobenen Merkmale. Dies gilt für die Idylle des gemächlichen Lebens in einer überschaubaren, nachbarschaftlichen Gemeinschaft ebenso wie für die kapital- und bürokratieintensive Unternehmung einer Informationsinfrastruktur, für die die Datenautobahn im Kern steht, auch wenn diese Metapher für vielfältige Anspielungen verfügbar ist und der Assoziationshof des "information superhighway" in einem Land weiter Entfernungen, geringer Besiedlung und langjährig eingeübter Geschwindigkeitsbegrenzungen ein anderer ist und an andere Erfahrungen anknüpfen kann als der der "Datenautobahn" im vergleichsweise dichtbesiedelten Europa und besonders im übermotorisierten und geschwindigkeitsverliebten Autoland Deutschland.

Der Kern der Datenautobahn-Metapher ist ein Aktionsprogramm, das an den Auf- und Ausbau von Großen Technischen Systemen, wie in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung die großen Infrastruktursysteme im Energie-, Verkehrs- und Telekommunikationsbereich genannt werden, anschließt und die entsprechenden Kategorie von "großen" Akteuren mobilisiert: Regierungen, Behörden, Banken und - bleiben wir im Bild des Straßenverkehrs - Straßenbaufirmen planen und errichten im Verein eine neue Schnellstraße, die nach ihrer Fertigstellung mit einem großen Staatsakt - ein Band wird zerschnitten etc. - der Öffentlichkeit übergeben wird. Das Problem mit den Datenautobahnen ist, zumindest hierzulande, aber folgendes: Es gibt sie weitgehend schon, nur viele haben's nicht gemerkt. Geht es nach den Vorstellungen des Telekom-Beirats "Netzstrategien", sollen künftig allenfalls breitbandige Glasfaserkabel flächendeckend bis an jede Straßenecke Deutschlands führen. Nur: Werden sich dann auch die weitgespannten Erwartungen erfüllen, die sich an die Realisierung von "Datenautobahnen" knüpfen?

2 Alles wird anders werden, aber nichts wird sich ändern.
  Dem Zusammenwachsen von elektronischer Datenverarbeitung und Telekommunikation wird schon länger ein gewaltiges Innovationspotential nachgesagt. Die populäre Prognose jedoch, die von gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der informationstechnischen Vernetzung ausgeht, welche denen der industriellen Revolution gleichkommen, muß mit Skepsis betrachtet werden. Konkrete Nutzungskonzepte von Datennetzen knüpfen bei genauerer Betrachtung ganz überwiegend an vertraute Tätigkeiten und bekannte Dienstleistungen an. Es fehlen, wie Helmut Volkmann unter großen Zuspruch der übrigen Konferenzteilnehmer konstatierte, "zukunftsweisende Vorstellungen zum Wandel der Gesellschaft". Stattdessen werden gegenwärtig erst einmal mehr oder weniger vielversprechende "Märkte" abgesteckt, wobei sich drei Typen abzeichnen: Ein Markt für sogenannte Grunddienste wie elektronische Post, Märkte für professionelle Anwendungen wie etwa die multimediale Telekooperation und Massenmärkte hauptsächlich mit interaktiven Diensten im Unterhaltungs-, Distributions- und Konsumtionsbereich, so etwa das Teleshopping oder Video-on-Demand. Obwohl für telematische Systeme und Produkte nach wie vor unbestritten ein großes Wachstumspotential gesehen wird und, wie auch die Präsentationen auf der Konferenz deutlich werden ließen, die Marktreife entsprechender Anwendungsentwicklungen inzwischen zugenommen hat, sind scheinbar neuartige Produkte, dies gilt in besonderem Maße für die strahlende Multimediawelt, vielfach strukturkonservativ: alles wird anders werden, aber nichts wird sich ändern.

Als Hindernisse, die einer massenhaften, breiten Nutzung der Datennetze gegenwärtig noch im Wege stehen, werden zwar immer wieder gern "technische" Schwachstellen wie verbesserungsfähige Datensicherheit, Datenkompression bzw. Übertragungsprotokolle einerseits oder überteuerte Preise und Leistungsdefizite von Leitungsanbietern andererseits genannt. Was aber, wenn der Markt selbst offenkundig nicht die Schubkraft hat, die von ihm erwartet wird? Und wie steht es mit den gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten und der Frage, wie sich die informationstechnische Vernetzung weiterentwickeln sollte?

Der Markt als Triebkraft der bevorstehenden kommunikationstechnologischen Revolution spielt sowohl in den Plänen der US-amerikanischen Regierung als auch im sog. "Bangemann-Report" - Europa und die globale Informationsgesellschaft - eine herausragende Rolle. Die Vorstellung einer duch Marktmechanismen mediatisierten und in erster Linie industriepolitisch motivierten Entwicklung von Informationsinfrastrukturen weckt aber nicht nur große Wachstumshoffnungen, wie begründet diese auch immer sein mögen. Angesichts der Offenheit der Entwicklung und möglicher Fehlentwicklungen durch Untersteuerung regt sich auch große Besorgnis. Im wesentlichen decken sich viele der bei der WZB-Konferenz geäußerten Bedenken mit denen, die auch in der US-amerikanischen Debatte über die von der Clinton/Gore-Administration geplante nationalen Informationsinfrastruktur eingebracht wurden, etwa von den Computer Professionals for Social Responsibility. Um den größtmöglichen gesellschaftlichen Nutzen der Vernetzung sicherzustellen, klagt diese Vereinigung von Computerarbeitern unter anderem eine egalitäre Struktur ein: Netzanschlüsse sollten allgemein und zu annehmbaren Bedingungen verfügbar gemacht werden. Eine offene Netzarchitektur und Standards, die Interoperabilität gewährleisten, sollten einen wahlfreien Zugriff auf alle verfügbaren Informationsangebote möglich machen. Das Systemdesign sollte es erlauben, daß alle Nutzer ebenso Produzenten von Informationsangeboten wie auch Konsumenten sein können. Einem passivem Rezipientenmodell, bei dem couch potatoes im Angesicht der nun interaktiven Glotze vor sich hindämmern, wird eine klare Absage erteilt.

Die Diskussion in den USA basiert auf anderen Voraussetzungen und kann daher im Detail nur begrenzt konkrete Vorbilder für die hiesige Entwicklung bieten. Sie verdeutlicht aber angesichts der hohen Unsicherheit über die weitere Entwicklung die Notwendigkeit und den Nutzen einer breiten Debatte über vielfältige Fragen, die die Bedingungen und Inhalte der Nutzung von Kommunikationsnetzen aufwerfen.

Was die sog. Endgeräteseite betrifft, liegen den gegenwärtigen Debatten - oft nicht klar getrennt - drei grundlegend verschiedene Konfigurationen zugrunde, in denen sich die Gestalt von Kommunikationsnetzen der Zukunft als technisch-kulturelles Projekt mehr oder weniger deutlich erahnen läßt. Da ist zunächst gewissermaßen die klassische Variante: Datennetze, die sich aus einem Verbund von einzelnen Rechnern und Computernetzwerken via Standleitung, Modem und Satellit zusammensetzen, wobei sich die Nutzer sowohl über einen uralt-Homecomputer, eine high-tech Multimedia-Workstation oder ein kleines Notebook einloggen können. Zweitens ein sog. intelligenter bzw. interaktiver Fernseher sowie drittens, gegenwärtig weniger in der Diskussion, jenes Ensemble von Utensilien aus dem Virtuelle Realität genannten Gebiet, wo spezielle 3D-Brillen, Datenhandschuhe oder -anzüge den Systembenutzern die Erfahrung einer sensorischen Immersion in simulierte Welten vermitteln.

Solche Konfigurationen markieren unterschiedliche Entwicklungspfade in einem kontingenten Feld von Medientechnologien, das ein semantisches wie technisches Kontinuum darstellt, abgesteckt durch die Begriffe digital und mutimedial. Neuartige Erscheinungs- und Nutzungsformen werden sich vermutlich erst in einem längeren Prozeß der Technikgenese und -adaptation herausbilden - ganz so wie es mehrere Jahrzente brauchte, bis sich beispielsweise Telefon und Rundfunk als distinkte Medien aus einer Grippe von Verfahren zur Übertragung von Tönen im allgemeinen und der menschlichen Sprache im besonderen herausgebildet haben. Erst in diesem sozialen Prozeß der Technikgenese wird sich entscheiden, ob und in welchen konkreten Erscheinungsformen die künftigen Kommunikationsnetze für die Einweg- oder die Zweiweg-Kommunikation ausgelegt sein werden, ob Datennetze eher als Vermittlungs- oder Verteilnetze - oder beides - genutzt werden (können). Das Schicksal des "Bildtelefons" verdient dabei aus historischen Gründen besondere Aufmerksamkeit. Als seinerzeit das "Fernsehen" als Ein-Weg-Massenmedium technische Gestalt annahm, war das "seeing by telephone" als "natürliche" Fortsetzung des "hearing by telephone" ebenso ein Teil des Erwartungshorizonts der Zeitgenossen, blieb aber dann eine nicht-realisierte Option. Ob es sich heute unter veränderten Vorzeichen wohl durchsetzen wird?

3 Die Mutter aller Netze: Leitbild Internet
  Für die Diskussionen um die Ausgestaltung der elektronischen Netze bietet sich der Blick auf bereits bestehende Netze an, um die augenblicklich teils noch sehr spekulativen Zukunftsentwürfe auf eine solide Datenbasis zu stellen. Das Internet ist ein seit über zwanzig Jahren bestehender, internationaler Verbund von Computernetzen, der in der letzten Dekade enorme Wachstumsraten zu verzeichnen hat. Dieses "Supernetz", das hierzulande außerhalb eines Insiderkreises erst relativ spät wahrgenommen wurde und fälschlicherweise meist noch als reines Forschungsnetz gilt, ist das älteste und bis heute bedeutendste öffentlich zugängliche, anwendungsoffene und voll interaktive Datennetz. Derzeit hat das Internet ca. 25 Mio. Nutzer und verbindet weltweit über hunderttausend lokale, regionale und nationale Computernetze miteinander, an die wiederum Millionen von Terminals und PCs angeschlossen sind. Allein in Europa kommen monatlich 25.000 bis 40.000 neue Hostrechner mit einer mehrfachen Anzahl an Nutzern hinzu. Das Internet wird in den USA als Leitbild für die geplante nationale Informationsinfrastruktur gehandelt; auch die Computer Professionels for Social Responsibility haben es der Regierung als Modell für den "Information Superhighway" empfohlen. Unter den Empfehlungen des Bangemann-Reports findet sich die Aufforderung an den Europäischen Rat, die Entwicklung des Internet genau zu beobachten und eine aktive Beteiligung am Aufbau von Verbindungen in Erwägung zu ziehen.

Am Internet läßt sich besonders gut zeigen: Ein Computernetz besteht nicht allein aus Leitungen, wie die populäre Metapher von der "Datenautobahn" nahelegt, sondern ebenso auch aus den "Netzknoten", d. h. den Rechnern, die durch die Leitungen verbunden werden. Der Begriff des "Cyberspace" wird den Qualitäten der Netzrealität als Interaktionsraum eher gerecht als das Bild eines flachen, zur Durchreise und nicht zum Aufenthalt bestimmten Verkehrswegenetzes. Im Unterschied zur ebenfalls räumlichen Metapher vom "globalen Dorf" und zur "Datenautobahn" knüpft dieser Begriff nicht an Herkömmliches an. Im Internet hat sich, dies wäre an anderer Stelle genauer auszuführen, ein neuartiger Kulturraum konstituiert. Neben der Realwelt ist in den Interaktionen der Netzbewohner eine Netzwelt entstanden, die charakteristische Innovations-, Nutzungs- und Koordinationsmuster ausgebildet hat, die bislang von den Kultur- und Sozialwissenschaften noch kaum erforscht wurden. Diese Erkenntnislücke gilt es zu schließen, wenn die Kultur- und Sozialwissenschaften auf der Grundlage von empirischen Daten der Netzrealität an Diskussionen um mögliche Netzzukünfte partizipieren wollen.

Es sind verschiedene Besonderheiten, die das Internet aus unserer Sicht so bemerkenswert machen. Augenfällig ist erstens seine Wachstums- und Innovationsdynamik. Fortlaufend entstehen an vielen Orten neue, sich in großer, netztypischer Geschwindigkeit ausbreitende Dienste. Die Netzpopulation nimmt rasant zu. Das Internet zeichnet sich zweitens dadurch aus, daß die transnationale Wachstums- und Innovationskraft von einer ebenso entwickelten Fähigkeit zur globalen Integration und Kultivierung dieser Kreativität begleitet wird. Drittens sind erhebliche Ausstrahlungseffekte zu verzeichnen. In der gut 20-jährigen Existenz des Internet ist eine Fülle von technischen Normen, Programmen, Diensten und Kommunikationsstilen herangereift, die eine Art informellen Standard bilden, in anderen Netzen nachgeahmt wurden oder dort auch zum Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen geworden sind. Das Internet zeichnet sich viertens durch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstregelung durch horizontale Koordination und das Fehlen hierarchischer Steuerung(smöglichkeiten) aus. Vom Internet läßt sich auch lernen, was in den Diskussionen über die "deutsche Datenautobahn", über eine nationale Infrastruktur in den USA oder über einen gemeinsamen "europäischen Informationsraum" nicht aus dem Blick geraten sollte: die Informationsgesellschaft wird global sein - oder gar nicht.

4 Datennetze als Kulturraum: Forschungsansätze in den Sozial-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften
  Neben den bereits angesprochenen gestalterischen Fragen sehen sich die Kultur- und Sozialwissenschaften angesichts der Novität der Netzwelten auch vor theoretisch-konzeptionelle Herausforderungen gestellt. Insbesondere in im folgenden skizzierten drei Bereichen sehen wir Innovationsbedarf, aber auch -möglichkeiten.

Innerhalb der sehr vielfältig gewordenen sozialwissenschaftlichen Technikgeneseforschung liegen inzwischen einige empirische Untersuchungen über die Entstehung und Gestaltung von informations- und kommunikationstechnischen Netzwerken vor. Dabei sind zwei Schwerpunkte erkennbar. Zum einen geht es um die Analyse einer bestimmten Art von Technisierungsprozessen: die zwischenbetriebliche und branchenübergreifende Vernetzung entlang der Produktions- und Distributionskette durch interorganisationale Anwendungssysteme, die ansatzweise auch private Haushalte mit einbeziehen. Zum anderen wird, angeregt durch technikhistorische Arbeiten, die Entwicklungsdynamik eines eigenständigen Techniktyps untersucht: großtechnische Infrastruktursysteme im Bereich der Telekommunikation. Hier hat sich ein institutionalistisch ausgerichteter Ansatz herausgeschält, der das strategische Handeln kollektiver Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und wissenschaftlich-technische Erscheinungen im Lichte ihres institutionellen Kontexts interpretiert. Das Internet, ein anwendungsoffenes Netz, das als Verbund von eigenständigen Computernetzwerken entstanden ist und eine grundlegend andere "constituency" als herkömmliche technische Infrastruktursysteme aufweist, fällt weder in die genannte Kategorie von Technisierungsprozessen, noch entspricht es einem großtechnischen System im Sinne der GTS-Forschung. Die Schwierigkeiten, für das Internet einen technischen Kern auszumachen - zu heterogen sind die Mittel und Wege, die der elektronische Datenaustausch annehmen kann - führen zu der Frage, ob in diesem Fall eine Bestimmung, die an der technischen Seite ansetzt, überhaupt möglich und die Unterscheidung von Artefakt bzw. System und Kontext sinnvoll ist. Die Frage, wie eine angemessene und konzeptionell tragfähige Bestimmung von anwendungsoffenen, elektronischen Datennetzen im einzelnen lauten kann, wird mit der wachsenden informationstechnischen Vernetzung in der sozialwissenschaftlichen Technikdiskussion generell an Bedeutung gewinnen.

Die Gegenstände und Fragestellungen der Kommmunikationswissenschaft sind überwiegend an der technischen Auslegung und den herkömmlichen Nutzungsweisen der klassischen Medien im Print- und AV-Bereich ausgerichtet. Davon sind die forschungsleitenden Kategorien der Kommunikation (Einweg- versus Zweigweg-Kommunikation, Individual- versus Massenkommunikation) ebenso geprägt wie das Nutzerkonzept des Rezipienten. In den letzten Jahren hat sich aus der Untersuchung der kommunikativen Nutzungsweisen elektronischer Medien, etwa von elektronischen schwarzen Brettern und Diskussionsforen, interaktiven Rollenspielen oder Schwätzprogrammen wie dem Internet Relay Chat, eine eigene, stark expandierende Forschungsrichtung herausgebildet: die sog. CMC-Forschung (Computer-Mediated Communication). Es gilt, ein neues kommunikationstheoretisches Paradigma zu entwickeln, das das weithin als revisionsbedürftig empfundene Sender-Kanal-Empfänger-Modell ablösen kann. Dieses auf die Arbeiten von C. E. Shannon und W. Weaver in den 40er Jahren als Reflexion auf die Nachrichtentechnik zurückgehende informationstheoretische Paradigma ist den sozialen Kommunikationsvorgängen in Computernetzwerken, wie die Entstehung von virtuellen Gemeinschaften oder Dörfern zeigt, inadäquat und verführt zu einem reduktionistischem Technikverständnis, das Datennetze als neutrale Transportmittel - als "Datenautobahnen" - sieht.

Die Exploration von Datennetzen beeinhaltet schließlich reizvolle Möglichkeiten für technikanthropologische Untersuchungssätze. Technikanthropologie ist ein Unterbereich der Kulturanthropologie. Diese Disziplin befaßt sich seit geraumer Zeit nicht mehr nur mit fremdartigen Kulturen in entfernten Erdteilen, sondern auch mit modernen Industriegesellschaften. Im Bereich der Organisationsforschung beispielsweise hat sie sich als eigener Forschungszweig inzwischen fest etabliert. Die Hinwendung zum Gebiet der Wissenschafts- und Technikforschung ist ganz allgemein eine neuere Entwicklung. Vorliegende kulturanthropologische Studien über Computernetze richten sich bislang aber noch sehr auf Teilphänomene wie bestimmte virtuelle Gemeinschaften oder einzelne Artefakte, so etwa die sog. Signatures, mit denen Netznutzer ihren Botschaften eine - häufig auch graphisch gestaltete - persönliche Note verleihen. Als Vorzug einer technikanthropologischen Herangehensweise sehen wir insbesondere ihre Offenheit für neue kommunikationstechnische Konfigurationen, die in ihren konstitutiven Merkmalen und Entwicklungsmustern noch weitgehend unbegriffen sind. Eine Analyse von Computernetzen aus technikanthropologischer Sicht könnte zu einem besseren Verständnis der Beschaffenheit von elektronischen Netzen und den Bedingungen ihrer Formung, Nutzung und Ausbreitung vor allem dadurch beitragen, daß hier die Netzwelt als Ganzheit von Netztechnik und Netznutzung erschlossen und die Binnenperspektive der "Netzbewohner" erfaßt werden.

5 Landflucht aus dem "globalen Dorf": Reiseziel "digitale Stadt"?
  Das Internet war nie die pastorale Idylle, die die Metapher vom globalen Dorf verheißt. Gegenwärtig befindet sich das Internet wieder in einer tiefgreifenden Umbruchphase. Die Zusammensetzung der Netzpopulation hat sich, wie oben bereits erwähnt, in den vergangenen beiden Jahren erheblich verändert. Neuartige Dienste, insbesondere das Hypertext-basierte World Wide Web (WWW) haben die Navigationsmöglichkeiten im Netz deutlich komfortabler werden lassen und neue, technisch weniger versierte Nutzerkreise angezogen. Auch kommerzielle Anbieter von Informationsdiensten finden das Internet zunehmend attraktiv; eine wachsende Zahl von Firmen - vor allem in den USA - geht dazu über, das Internet für den eigenen Geschäftsverkehr zu nutzen. Bei den angestammten Internet'ern treffen diese Entwicklungen auf äußerst gemischte Gefühle und Reaktionen. Einige wenden sich ab, einige versuchen, im Strom zu schwimmen, andere verteidigen "ihren" Lebensraum ganz handgreiflich und wieder andere brechen auf zu neuen Ufern.

Insbesondere die verschiedenen konkreten Kommerzialisierungsinitiativen im Netz, aber auch die von politischer Seite forcierte Tendenz, vor allem auf den Markt als Triebkraft der kommunikationstechnischen Vernetzung zu bauen und womöglich auch die inhaltliche sowie strukturelle Ausgestaltung der Netze den Marktmechanismen zu überlassen, stoßen auf Skepsis bzw. Widerspruch. Eine Reaktion darauf ist beispielsweise die Freenet-Bewegung, die seit 1984 in den USA zunächst auf lokaler Ebene und inzwischen international einen freien, öffentlichen Zugang zu nicht-kommerziellen Computernetzwerken von und für Bürger mit Unterstützung privater und öffentlicher Einrichtungen realisiert.

In Anlehnung an den Freenet-Gedanken wurde 1993 in Europa die erste Digitale Stadt gegründet. Als gemeinsames Projekt der holländischen Hackervereinigung Hack-Tic und des Politik- und Kulturzentrums De Balie wurde mit finanzieller Unterstützung der Stadtverwaltung, die selbst auch aktiv partizipiert, in Amsterdam ein System eingerichtet, das per eigenem Modem sowie auch per öffentlich aufgestellten, kostenlosen Terminals einen Zugang zur Digitalen Stadt und zum Internet ermöglicht. Aufgrund des Erfolges des Pilotprojekts ist im August 1994 eine Stiftung "De Digitale Stad" gegründet worden, die nun nicht mehr allein auf regionaler Ebene von der Stadt Amsterdam, sondern auch vom niederländischem Innenministerium gefördert wird. Nach dem Amsterdamer Vorbild werden derzeit auch in London und Berlin Digitale Städte geplant.

Diese und ähnliche Initiativen, bei denen mit richtungsweisenden Konzepten zur Ausgestaltung von voll interaktiven Kommunikationsnetzen mit freiem Zugang öffentliche Interessen verwirklicht werden sollen, wollen ein Gegenbild errichten zur am grünen Tisch geplanten Technopolis, zur "Sprawl", der Vision einer ausufernden Metropole in William Gibson's Cyperpunk-Science Fiction und zur Schreckensvision einer Welt vernetzter "Couch Potatoes". Auch die Projektgruppe "Kulturraum Internet" wird im Rahmen ihrer technikanthropologischen Arbeiten zur Entwicklung und Organisation des Internet an der so notwendigen öffentlichen Diskussion um die "Kommunikationsnetze der Zukunft" weiterhin teilnehmen - realweltlich wie auch im Netz.

 

Startseite Über uns Endbericht (Hyper-)Texte Allerlei Interaktionen Sitemap
Startseite Über uns Endbericht (Hyper-)Texte Allerlei Interaktionen Sitemap

Projektgruppe "Kulturraum Internet". c/o Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
Reichpietschufer 50, 10785 Berlin. Telefon: (030) 254 91 - 207; Fax: (030) 254 91 - 209;
; http://duplox.wzb.eu.