Internet ist ein einzigartiges Feld fuer soziale Interaktion. In seinem Kernbereich haben sich Kommunikationsgruppen mit deutlich ausgepraegten eigenen Stilen, formellen und informellen Regeln und distinkten Interaktionsmustern herausgebildet. Dieses globale Netz, das wegen seiner Unuebersichtlichkeit vielen auf den ersten Blick als Dschungel erscheint, praesentiert sich vielleicht auf den zweiten Blick als eine Kulturlandschaft, die wie ein Dschungel aussieht. Moeglicherweise kann man dieses weltumspannende Supernetz nicht nur als Begegnungs-, sondern auch als Kultur-raum bezeichnen. Dass sich dort innerhalb kurzer Zeit Kul-turen besonderer Art gebildet haben, wird von Insidern be-hauptet und gibt EthnologInnen Anlass, sich mit dem Internet aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu befassen. Wer behauptet und warum, es gaebe so etwas wie Netzkultur oder Netzkulturen? Welche Kulturgruppen sind erkennbar? Wodurch zeichnen sich diese Kulturen aus? Was beeinflusst diese Kulturen?
Schlagworte wie "Virtual Reality" und "Cyberspace" sind der-zeit en vogue. Howard Rheingold (1993, 1992) hat den Begriff der "Virtual Communities" populaer gemacht. In bisherigen Kommunikationsnetzen wie z. B. im weltweiten Telegraphen- und Telephonnetz oder im Briefverkehr haben sich keine ver-gleichbaren und unter den CB Funkern - dort braucht es wie in Computernetzen keine bestimmten Adressaten und die benoe-tigte Funkausruestung vermittelt vielleicht ein gewisses Insidergefuehl - ansatzweise aehnliche "Virtual Communi-ties" gebildet. Es ist vor allem die Undurchschaubarkeit, die Komplexitaet der "Wunschmaschine Computer" (Turkle 1984) und der Netze, die die hier vorgestellten kulturellen Phaeno-mene moeglich werden laesst.
Physikalisch existent als eine Anhaeufung von Leitun-gen - verstanden als Transportnetz von immateriellen Guetern - empfunden als Raum - eroeffnen elektronische Netzwerke Optionen fuer eine uebergreifende Kommuni-kation zwischen Persoenlichkeiten, unterschiedlichen Sichtweisen und Nationalitaeten. (Aus einem Infotext zum Projekt HANDSHAKE der Kuenstlergruppe LUX LOGIS 1994).Internet und andere Computernetze stellen nicht nur einen neuartigen Interaktionsraum dar. Dass internationale Net- ze[1] mit internationalem Zutritt quasi uebernationale Kul-turgruppen entstehen lassen, ist ebenfalls eine nennens-werte Besonderheit, die Fragen nach der Bedeutung der real-weltlichen [2] nationalkulturellen Identitaeten, die jeder Internet'er mitbringt, nahelegt. Welche Rolle spielt es im Netz, ob jemand Amerikanerin, Finne, Neuseelaenderin oder Deutscher ist? Koennte man sagen, es ist unbedeutend, weil die Netzkommunikation reduziert ist und jeder mit dem ein-loggen seine realweltliche Identitaet sowieso weitgehend zurueck laesst? Oder ist es unbedeutend, weil viele Bereiche auch realweltlich weitgehendinternationalisiert sind, z. B. die gleichen Computer und Programme, Musikgruppen, Filme oder Buecher in vielen Laendern geschaetzt werden. Oder ist es amerikanischer Kulturimperialismus,der sich ueber das von Amerikanern dominierte Internet verbreitet, und dem sich alle schlichtweg anpassen? Oder spielt die eigene kulturelle Identitaet sehr wohl eine grosse Rolle, wie die zahlreichen lokalen Treffpunkte im Netz zeigen?
Und welche Bedeutung hat die persoenliche Identitaet im Netz? Realweltliche Koerperlichkeit gibt es dort nicht. Ob ein User gross ist oder klein, Mann oder Frau, haesslich oder schoen, reich oder arm - im Netz sehen alle gleich aus. Alles Persoen-liche, das sich verbal vermitteln laesst, kann natuerlich ins Spiel gebracht werden, doch ist es nicht so offenkundig wie bei realweltlichen Begegnungen.
Internet bietet also etwas Besonderes. Computer Mediated Communication (CMC) hat sich als Forschungsfeld in ver- schiedenen Disziplinen etabliert. Wie bestimmt der Umstand, dass Computertechnik als Mittler zwischen Sendern und Empfaengern steht, das Vermittelte, d.h. die "Botschaft"? Wie die Vermittelnden, d.h. die "Sender" und "Empfaenger", die "Akteure"? Ethnologische Untersuchungen zu kulturellen Identitaeten und Gemeinschaften haben im gleichen Masse das Vermittelte, die Vermittelnden sowie den Kontext im Blick, wobei angestrebt wird, dies besonders aus der Perspektive der Vermittelnden zu verstehen.
Um etwas ueber kulturelle Phaenomene im Netz herauszufinden, begeben sich EthnologInnen ins Netz. Ich versuche, den menschlichen "Sendern" und "Empfaengern" im Netzzentrum gewissermassen ueber die Schulter zu schauen, dort wo sie mir dies erlauben, um den Kontext - die Kultur - ein bisschen mit ihren Augen sehen zu koennen. Diese empathische oder viel-leicht bis zu einem gewissen Grad mimetische Annaeherung an "das Fremde" wirkt sich auf den ethnographischen Text aus. Viele EthnologInnen, und ich gehoere dazu, lieben Origi-nalton und Selbstportraits und bringen dies in ihren poly-phonen Texten zum Ausdruck. Die zahlreichen O-Ton Zitate mit reichlich Jargon und "Techspeak" [3] in diesem Text stehen zumeist ohne "Untertitel" bzw. "Uebersetzung" da, sie sind aber immer kommentiert, so dass der Beitrag als eine Art gefuehrte Exkursion durch eine fremde Welt gelesen werden kann. Diese Welt mag vielen sehr fremd und unverstaendlich anmuten, aber wer neugierig ist und offen fuer Anderes und Andere, wird das zurueckbleibende heimisch Vertraute und Verstaendliche, das Sauerkraut, das Bier, die deutsche Sprache nicht einfordern muessen. Etwaige Beschwerden soll-ten da bitte an die Reiseleiterin gerichtet werden, nicht an den Veranstalter.
Ziel dieses Beitrages ist es, die hierzulande unter Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen nicht sehr bekannten und bislang wenig untersuchten kulturellen Phaenomene des Internet in Ausschnitten vorzustellen und aus ethnologi-scher Sicht zu diskutieren. Die hier gewaehlte landschaft-liche Perspektive ist nur eine von vielen moeglichen, andere waeren beispielsweise Internet als Organisation zu unter-suchen oder als verschriftete Oral Culture. Aus einer Art "technikethnologischer Perspektive" - sie wartet bis heute auf ihre Konstituierung als Fachrichtung innerhalb der Ethnologie - waere zu fragen, wie Technik als Medium fun-giert, auf dem Kulturen gedeihen und wie sich nicht allein die Mensch- Mensch-Interaktion im Netz, sondern wie sich die Mensch-Maschine- Interaktion gestaltet. Dies sind inter-essante Fragestellungen, die aber in diesem Beitrag nicht naeher verfolgt werden.
Und last but not least stellt sich die Frage, ob diese Netz-kulturenueberhaupt etwas Besonderes und Neues sind. Ist es angemessen, wie Hardy (1993: 9) von einer "new human culture" zu sprechen? Oder ist es nicht einfach der alte realweltliche Kulturwein, der nur in neuen Computernetzschlaeuchen daher-kommt? Moeglicherweise treffenbeide Sichtweisen gleicher-massen zu, und die passendste Antwort ist ein eindeutiges Sowohl-als-auch. Das auf binaerem Datentausch aufbauende Internet bietet auf der sozialen Ebene reichlich Platz fuer viele Sowohl-als-auch, weshalb sich vielleicht gerade so viele pluralitaetsverliebte postmoderne Zeitgeister mit der Netzwelt beschaeftigen.
(Typisch fade Computergraphik)
Im Zentrum des Internet kommunizieren, arbeiten und lebenMenschen, die fuer sich in Anspruch nehmen, sie haetten in dem recht kurzen Zeitraum seit Bestehen des Internet, innerhalb von etwa zwanzig Jahren [5] eigene "virtuelle" Kulturen ent-wickelt. Viele verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Tage bzw. Naechte am Rechner, um zu arbeiten, aber auch um ueber das Netz zu kommunizieren und sich dort mit FreundInnen zu treffen (Zornemann 1992, Forschungsgruppe Medienkultur und Lebensformen 1993, Eckert 1991). Die elektronischen Gemein-schaften werden so zum bedeutenden oder vielleicht auch bedeutendsten Sozialbezug. Damit wird das Netz zu einem Lebensraum, zu einer Art "Biotop" oder, um Ingo Brauns Aus-druck zu verwenden, zu einem "Technotop".
Zentrumsuser fuehlen sich im Internetdschungel heimisch, er ist ihnen eine vertraute Umgebung und die Spielregeln sind bekannt. Sie verstaendigen sich in einer Sprache, die mit technischen Begriffen angefuellt ist, die Besonderheiten aufweist wie z.B. Emoticons, Abkuerzungen, eigene Schreib-weisen, auf bestimmte Science Fiction-Motive bezugnimmt und sich als "Insider Jargon" von der Sprache gewoehnlicher Nutzer abgrenzt. Neben Insiderwissenserwerb ist es wichtig, stets mit dem aktuellen Stand vertraut zu sein, sonst ver-liert man schnell die Orientierung, da sich taeglich Dinge aendern. Viele Insider entwickeln und nutzen ihre eigenen Programme und verbreiten sie durch das Netz. Zentrumsnutzer sind Computerspezialisten. Nicht jeder Computerfreak ist ein Internet'er, doch muss jemand schon ueber einigermassen "Computerfreak-Qualitaeten" verfuegen, um in das Netzzent-rum zu gelangen. Hacker, Cyberpunks oder die MUD Gemein- schaften wuerde es ohne Vernetzung nicht geben.
Peripherienutzer befinden sich auf der Durchreise. Sie betreten den Raum Internet nicht um seiner selbst willen, sondern bedienen sich seiner Moeglichkeiten fuer so schlich-te Zwecke wie beispielsweise dem Briefaustausch und der Informationsbeschaffung. Fuer sie stellt das Internet somit eigentlich kaum mehr als einen gewoehnlichen Fernschreiber und Fernleser von Nachrichten und Datenbankinformationen dar. Ebenfalls in der Peripherie bewegen sich Aspiranten, die irgendwann das Zentrum erreichen moechten. Sie unterschei-den sich von den erstgenannten durch das Interesse am Netz selbst und die Bereitschaft, Lernzeit zu investieren, umirgendwann die Schwelle zum Zentrum ueberschreiten zu koennen.
Der rasch wuchernde Netzdschungel macht es schwierig, Anga-ben ueber die Relation von Zentrum und Peripherie im Netz zu machen. Es gibt fuer das Internet kein "Zentralregister", worin alle NutzerInnen und Nutzungen erfasst wuerden. Worueber eine Art Buchfuehrung versucht wird, das sind die Zahlen der Netzanschluesse. Einigkeit besteht darueber, dass in den Anfangsjahren eigentlich nur Spezialisten ueber die noetigen Kenntnisse und technischen Mittel verfuegten, die Netzwelt zu betreten. Ihr Anteil wird mit verstaerkten Nutzungsvereinfachungen weiterhin abnehmen.
Es ist anzunehmen, dass - wenn eine Uebertragung der bishe-rigen, anhand realweltlicher Gemeinschaften entwickelten Kulturkonzeptionen auf diesen Bereich sich als sinnvoll und angemessen erweisen sollte, und davon gehe ich aus - nur im Zentrum netzspezifische Kulturphaenomene deutlich werden, weshalb es in diesem Beitrag vorwiegend um die Zentrumsuser gehen wird.
Basically, there are two classes of people who work with a program: there are implementors (hackers) and users (losers). The users are looked down on by hackers to a mild degree because they don't understand the full ramifications of the system in all its glory. (A few users who do are known as real winners.) It is true that users ask questions (of necessity). Very often they are annoying or downright stupid. (Steele et al. o. J.).Gemeinsames Herabsehen auf die niederen Dilettanten der Peripherie foerdert das Gemeinschaftsgefuehl. Im Netz kur-sieren eine Menge Insiderwitze, in denen auf Kosten dummer "loser" gelacht wird. Sie sind zu doof, um mit Disketten sach-gemaess zu hantieren (Gabriel 1992) und kuschen vor allmaech- tigen Systemverwaltern, die sie mit ein bisschen Computer- kauderwelsch mundtot machen koennen, wie in "BASTARD OPERATOR FROM HELL" (Travaglia o. J.) beschrieben wird:
A user ringsWissen - d.h. Computerkenntnisse und Orientierung im Netz - ist auch innerhalb des Zentrums wichtiges Kriterium fuer das Ansehen in der Netzwelt. In einer koerperlosen Welt koennen Geld und Gold keine Statussymbole sein. Goldene Uhren stuen-den auch im Widerspruch zu der im Netz verbreiteten anti-kommerz Haltung. In einem heiter-ironischen Ratgeber fuer Aspiranten auf Netzgott- Status beschreibt Oliver Wagner (o. J.) mit Beispielen aus der Amiga-Welt, "wie Mann sich netz-richtig profiliert": sich niemals eine Bloesse geben, dezent und gezielt mit Fachwissen protzen, wobei darauf zu achten sei, sorgfaeltig zwischen Personen, die weniger wissen, und solchen, die ebenfalls Netzgottstatus innehaben oder an-streben, zu unterscheiden - "Erstere sindgrundsaetzlich kuehl zu behandeln, da sie de facto dumm sind und so grund-saetzlich dumme Fragen stellen, und das wahrscheinlich mit Absicht. ... machen Sie sich effektiv ueber [sie] lustig". Fuer Kommunikationsforen der Goettern gilt - "... begehen Sie *NIE* den Fehler, unqualifiziert dort mitschreiben zu wollen -- das wird von den wahren Goettern als versuchter Einbruch in den Olymp verzeichnet ... und schadet dem Ansehen".
- "Do you know why the system is slow?" they ask
- "It's probably something to do with..." I look up today's excuse ".. clock speed"
- "Oh" (Not knowing what I'm talking about, they're satisfied)
- "Do you know when it will be fixed?"
- "Fixed? There's 275 users on your machine, and one of them is you. Don't be so selfish - logout now and give someone else a chance!"
- "But my research results are due in tommorrow and all I need is one page of Laser Print.."
- "SURE YOU DO. Well; You just keep telling yourself that buddy!" I hang up. Sheesh, you'd really think people would learn not to call!
Neben dem Wissen spielt ein an machen Stellen im Netz moegli-cher Privilegiertenstatus und eine damit verbundene, im Unterschied zu normalen Usern groessere Einflussmacht und Uebersicht eine statushebende Rolle. Dies koennen bei-spielsweise Systemverwalter, IRC Operators [6] oder Mailing-List Moderatoren sein.