DAS ZENTRUM ALS EINHEIT

Eine Betrachtung kultureller Phaenomene im Internet hat ein kaleidoskopartiges Bild des Netzes vor Augen, das zum einen in sich heterogen und wechselnd ist, und das zum anderen viel-fache Ueberschneidungen zu der nicht minder heterogenen und wechselhaften Realwelt ausserhalb des hier gewaehlten Be- trachtungsrohres "Internet" aufweist. In diesem Abschnitt wird eine Art gleichmacherische Gesamtimpression des Zen-trums versucht und auf differenziertere Darstellungen zu-naechst verzichtet. Ob das Zentrum als Einheit erscheint, wie hier im folgenden, oder aber als Vielheit, wie im darauffol-genden Abschnitt, ist vor allem eine Frage der Perspektive (Helmers 1993).

Fernsichten

Von aussen, also von der Peripherie oder von der realen Welt betrachtet, laesst sich das Zentrum nur ungenau erkennen, und wie alle Aussenansichten sind die Vorstellungen und Be-schreibungen darueber sehr undifferenziert und vage. Die "Computer Freaks", "Wizards", "Nerds" oder "Geeks", die das Zentrum bevoelkern, erscheinen von aussen betrachtet mehr oder weniger aehnlich. Und es sind immer wieder die gleichen Karikaturen und Witze, in denen ihre Monomanie, soziale Inkompetenz und Weltfremdheit anvisiert und dem Gelaechter der Aussenwelt anheim gestellt wird. Vor einigen Jahren waren es besonders die "Computer Kids", die Erwachsene staunen liessen.

Es sind deutliche Parallelen zu aehnlichen, laecherlichen Brainie-Typen erkennbar, beispielsweise zum dickbebrill-ten, blassen "Buecherwurm" oder zum "Mad Scientist". Zentra-le Botschaft dieser Art von Witzen ist, dass es eine ausglei-chende Gerechtigkeit gibt oder geben sollte, dass die in ihrem Fachgebiet besonders bewanderten und vielleicht ge-nialen Programmierer, Buecherwuermer oder Denker Defizite in anderen Bereichen aufweisen. Zurueckverfolgen lassen sich die Computerfreak-Stereotype mindestens bis auf Joseph Weizenbaum - selbst ein Insider - und seine bekannte Charak-terisierung der "zwanghaften Programmierer", die sich in einem "Zustand geistiger Verwirrung" befinden:

Ueberall, wo man Rechenzentren eingerichtet hat, d. h. an zahllosen Stellen in den USA wie in fast allen Indu- strielaendern der Welt, kann man aufgeweckte junge Maenner mit zerzaustem Haar beobachten, die oft mit tief eingesunkenen, brennenden Augen vor dem Bedie-nungspult sitzen; ihre Arme sind angewinkelt, und sie warten nur darauf, dass ihre Finger - zum Losschlagen bereit - auf die Knoepfe und Tasten zuschiessen koennen, auf die sie genauso gebannt starren wie ein Spieler auf die rollenden Wuerfel. Nicht ganz so er-starrt sitzen sie oft an Tischen, die mit Computer-ausdrucken uebersaet sind, und brueten darueber wie Gelehrte, die von kabbalistischen Schriften besessen sind. Sie arbeiten bis zum Umfallen, zwanzig, dreissig Stunden an einem Stueck. Wenn moeglich, lassen sie sich ihr Essen bringen: Kaffee, Cola und belegte Broetchen. Wenn es sich einrichtenlaesst, schlafen sie sogar auf einer Liege neben dem Computer. Aber hoechstens ein paar Stunden - dann geht es zurueck zum Pult oder zum Drucker. Ihre verknautschten Anzuege, ihre ungewa-schenen und unrasierten Gesichter und ihr ungekaemmtes Haar bezeugen, wie sehr sie ihren Koerper vernachlaes-sigen und die Welt um sich herum vergessen. Zumindest solange sie derart gefangen sind, existieren sie nur durch und fuer den Computer. Das sind Computerfe-tischisten, zwanghafte Programmierer. (Weizenbaum 1982: 160).
Das Bild des "zwanghaften Programmierers" oder Computer- freaks - das auch fuer Zentrumsuser zutrifft, da eigentlich nur Computerfreaks ins Zentrum gelangen - setzt sich aus zwei Teilen zusammen: 1) unmittelbar auf die Taetigkeit bezogene und 2) begleitende Attributionen, die keine direkte Verbin-dung zu Programmen oder Computern aufweisen, statt dessen Eigenheiten wie Ernaehrungsgewohnheiten oder die Erschei-nung betreffen.

In der Computerzeitschrift Chip (Kokoschinski 1994) wird das Thema der negativen Aussenbilder aufgegriffen und den Lesern einige sozialwissenschaftliche und psychologische Studien vorgestellt. "Machen Computer dumm, stur und einsam? Dege-nerieren Programmierer bei der Arbeit zu sprachlosen Psycho-krueppeln? Kulturlose Kontaktmuffel?" Nachdem fruehere Studien eben diese weitverbreiteten Vorurteile bestaerkt haetten, habe nun endlich eine psychologische Untersuchung das unselige Vogelscheuchenbild widerlegen koennen: Den solitaeren, introvertierten Programmierergebe es in der betrieblichen Praxis laengst nicht mehr. Joseph Weizenbaums Beschreibung der "zwanghaften Programmierer" betreffe allenfalls eine "verschwindend kleine Randgruppe" (Koko-schinski 1994: 52).

Zu welchen Ergebnissen auch immer diese Art Studien (Eckert et al. 1991, Schachtner 1993, Turkle 1984) gelangen - in dem hier gezeichneten Zusammenhang ist es interessant, einen Blick auf Parallelen zwischen dem Computerfreak-Image, so wie es von aussen ê la Weizenbaum karikiert wird, und dem Image, das Insider selbst pflegen, zu werfen. Hierbei ist auffaellig, dass dieselben Attributionen - z.B. Fast Food Ernaehrung oder Computerslang - von aussen negativ, von Insi-dern aber positiv bewertet oder umbewertet werden, wie in dem folgenden Abschnitt gezeigt wird.-

Innenansichten

Internetkommunikation findet ueber Buchstabenaustausch statt. Ein wichtiger Aspekt des Insidertums und des damit einhergehenden Zusammengehoerigkeitsgefuehles besteht in Entwicklung und Pflege einer gemeinsamen Sprache. Englisch, die Verkehrssprache im Internet, bzw. andere Sprachen, in denen per Netz kommuniziert wird, werden netztypisch gewan- delt. Die verschiedenen Versionen der von Insidern zusammen- getragenen "Hacker-" oder "Jargon"-Sammlungen (Jargon2912 1993, Steele et al. o. J.) gehoeren zum Gemeingut des Zentrums und gelten quasi als "amtlich" wie hierzulande der Duden. Zu den Eigenheiten der Zentrumssprache gehoeren:
- Abkuerzungen (cu = see you, btw = by the way, imho = in my humble opinion).
- Ersetzen von Worten durch aehnlich klingende, mit-unter das zu tippende Wort abkuerzend ("soundalike slang", phreak = freak, MS Dog = MS Dos, b4 = before, u = you, luser = user, thanx = thanks)
- Emotikons bzw. "Smileys" (Godin 1993, Gotterup o.J.).
- Beifuegen von Kommentaren (sigh, oops, mumble, ki-cher, ablach).
- Variationen von Worten und Neuschoepfungen ("... hackers love to take various words and add the wrong endings to them to make nouns and verbs, often by exten-ding a standard rule to nonuniform cases" Steele et al. o. J., "Hackers, as a rule, love wordplay and are very conscious and inventive in their use of language" Jargon29121993).
- Durchmischen mit "Computerjargon". (Hier wird die "Differenz zwischen Computer-Virtuositaet und EDV-Dilettantismus" sehr deutlich, Dahm 1992: 61-63. Gabriel 1992: 5f.).
Neben diesen Beispielen fuer den spielerischen, kreativen Umgang mit Sprache und Sprachkonventionen, ist die Emphase, die Uebertreibung von positiven und negativen Aussagen, charakteristisch fuer Netzkommunikation. "Flaming", das heisst ein ausgesprochen unfreundlicher Gespraechston, der bei realweltlichen Begegnungen wohl nicht in dieser Schaerfe abgefeuert wuerde, ist etwas netztypisches (Jargon2912 1993, Reid 1992, Dahm 1992:48-51). Und auch seine gegentei-ige Entsprechung, der frenetische Jubelton, wuerde in real-weltlichen Gespraechssituationen als unangemessen ueber-trieben gelten.

On-line Kommunikation von Insidern laeuft bevorzugt schnell. Der im Vergleich zum gesprochenen Wort langsamere Buchstabenaustausch wird durch moeglichst schnelles Tippen, Abkuerzungen und bei vielen durch Verzicht auf die per Um- schalt-Taste zu erzeugenden Blockbuchstaben, d. h. Verzicht auf korrekte Gross- und Kleinschreibung [7] beschleunigt. Dem Primat des Tempos wird haeufig auch die Rechtschreibung geopfert. Die reduzierten Kommunikationsmoeglichkeiten befoerdern schnelle und knapp gefasste on-line Beitraege. Also Grundregel: schnelles Denken und flinke Tastatur-betaetigung bei on-line Gespraechen.

Netzbriefe werden oft mit einer besonderen Unterschrift bzw. Duftmarke versehen, den sogenannten Signatures oder kurz Sigs. "Durch den eingeschraenkten ASCII-Zeichensatz zuMinimal-Kunstwerken herausgefordert, ist an dieser Stelle Phantasie und Einfallsreichtum angesagt, um aus der begrenz-ten Zahl von Zeichen ein ansprechendes persoenliches Signum zu entwickeln" (Dahm 1992: 65). Sigs koennen Namen, Titel, Anschriften und Nummern, Sprueche und auch kleine Bildchen enthaltem, beispielsweise Monogramme, Dekore oder Symbole, die einen Bezug zu den Signierenden haben. Hier einige Bei-spiele von ASCII-Bildchen:

    _  o
   |()_/0| 
   TT <T   

          o/    \o   
          /\    /\
           /\  /\

        o
     _>\ _
    (_)<(_)     

         ,,,  
        (o_o)
----oOO--(_)--OOo------


    _--_|\
   /      \    
   \_.--._*      Canberra


      |\/\/\/|     ____/|              ___    |\_/|    ___
      |      |     \ o.O|   ACK!      /   \_  |` '|  _/   \
      |      |      =(_)=  THPHTH!   /      \/     \/      \
      | (o)(o)        U             /                       \
      C      _)  (__)               \/\/\/\   _____   /\/\/\/
      | ,___|    (oo)                      \/       \/
      |   /       \/-------\         U                  (__)
     /____\        ||     | \    /---V  `v'-            oo )
    /      \       ||---W||  *  * |--|   || |`.         |_/\

(Abb.: Aus diversen Signaturen, die letzte Bildreihe entnommen aus
jargon2912 1993).

Einsteiger

Neulinge werden als "Frischlinge", "Newbies" oder "Novizen" bezeichnet. Personen, die bis ins Zentrum vordringen, brin-gen gewisse Vorkenntnisse mit, vor allem Computer- und Netz-wissen, aber auch Kenntnisse ueber das "Insider-Image". Pas-send zum etwas abgehobenen Selbstverstaendnis vieler Insi-der wird von Aspiranten erwartet, dass sie sich mehr oder weniger selbst "enkulturieren", d.h. sich das notwendige Basiswissen selbst aneignen. Neulingen wird geringer Status zuerkannt, weshalb eine Titulierung als Neuling mithin als Beleidigung verwendet werden kann. "The label 'newbie' is sometimes applied as a serious insult to a person who has been around USENET for a long time but who carefully hides all evidence of having a clue" (Jargon2912 1993).

An vielen Stellen des Netzes finden sich Hinweise zum korrek-ten Benehmen, die vor allemEinsteigern die sonst impliziten Regeln der "Netiquette" nahebringen sollen. Zum Beispiel bieten die Hilfetexte des IRC einige Informationen zu "how to behave on IRC" an (Viljanen, Husa und Rollo o.J.), worin der Gebrauch der englischen Sprache in internationalen Chat-Kanaelen, ein angemessen sparsamer Einsatz von Grussformeln und andere Gespraechsteilnehmer nicht stoerendes Verhalten in den IRC Kanaelen als Gebote der Hoeflichkeit erklaert wer-den. "Remember, people on IRC form their opinions about you only by your actions, writings and comments on IRC. So think before you type." Im "Media MOO" am MIT, einer textbasierten Mikrowelt, in die sich viele User gleichzeitig einloggen koennen, um dort mit einem beschriebenen Alter Ego in einer beschriebenen Umgebung in Schriftform zu kommunizieren (Rheingold 1993: 145- 175), bietet das Kommando 'help man-ners' von Mikroweltbewohnern zusammengestellte Informa-tionen zum guten Ton in dieser Umgebung.

The MOO, like other MUDs, is a social community; it is populated by real people that you interact with via network connections. Like other communities of human beings, the members of this one have evolved certain guidelines for the behavior of the participants. This article lays out what the wizards believe to be the gen-eral consensus concerning these `rules of courteous behavior,' or `manners,' on the MOO. Many of the rules that follow are by no means `obvious' or even related to similar rules in the real world. The MOO is not the real world; it has its own special properties that require new kinds of rules. These rules have been worked out through our experiences with the MOO; they reflect what we've learned about what make the MOO an enjoyable place. * [8]
Elizabeth Reid (1991) betont in ihrer Studie ueber IRC den grundsaetzlich freundschaftlichen Umgang miteinander, Howard Rheingold (1992, 1993) ist begeistert von Gemein-schaftssinn und emotionaler Waerme, und hierin liegt ein wichtiger Teil der besonderen Attraktivitaet des Netzes. Bei aller Freundlichkeit ist Internet aber keineswegs eine "hei-le Welt". Zwar ist es ein Terrain, das ohne Gefahr fuer Leib und Leben betreten werden kann, weil es eben nicht leiblich betreten wird, es birgt eigene "Gefahren". Netztypische Bedrohungen, vor denen niemand sicher sein kann, sind z. B. Lauschangriffe oder Eigentumsdelikte durchDatenklau oder Viren. Ausserhalb der Netzwelt werden diese Bedrohungen groesser eingestuft als im Netz selbst, wo - obwohl bzw. gera-de weil keine festgeschriebenen Gesetze und kaum Ueberwa-chungs- und Sanktionsinstitutionen deren Einhaltung ge- waehrleisten - es nur selten zu ernsthaften Schaedigungen anderer Netzinsider kommt.

Die Benimmregeln variieren bis zu einem gewissen Grad in den verschiedenen Bereichen des Internet und anderer Netze (Dahm 1992: 67-74); ueberall gueltig ist, dass das eigene Verhalten andere in ihrer Netznutzung nicht stoert (wozu auch gehoert, dass sich jeder prinzipiell erst einmal selbst auf Antwort-suche begibt, bevor er/sie andere durch fragen nervt (Wagner o. J.) [9] und ein prinzipiell freundlicher Umgangston empfoh-len wird. Dies ist nun nicht netztypisch, sondern gehoert auch zum realweltlichen 1 x 1 des guten Tons. Die besondere Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in vielen Zentrums-bereichen laesst sich zum einen in Verbindung bringen mit dem Zusammengehoerigkeitsdenken einer stolzen Elite - man ist ja schliesslich unter sich - zum anderen kann man hierin etwas Amerikanisches sehen, das sich auch User anderer Nationali-taeten zu eigen machen. Und schliesslich - wenn man sich das Internet als einen riesigen, dunklen, weitgehend unbekann-ten Raum vorstellt, in dem sich die Datenreisenden nur vage erkennen koennen - lassensich Freundlichkeit und Hilfsbe-reitschaft mit dem technischen Medium in Beziehung setzen.

Aussteiger

Durch die mittlerweile deutlich wahrnehmbare Ueberlastung des Netzverkehrs zu bestimmten Zeiten und auf stark frequen-tierten Verbindungen wird die Datenfernuebertragung, beson-ders im nur noch an Wochenenden einigermassen zuegig laufen-den transatlantischen Verkehr, zu einem Geduldsspiel. Waeh-rend der einzelne Rechner durch bessere Hard- und Software immer schneller wird, wird das Netz mit zunehmender Nutzung langsamer. Neben dem Technischen liefert das Zwischen-menschliche Grund zum Aussteigen, denn die Kommunikation im Netz ist zeitaufwendig und im Vergleich zu realweltlichen Gespraechen reduziert.
This kind of electronical meeting has its disadvan-tages, it's usually more fun to meet nose-to-nose *

Zu Anfang habe ich gedacht, das waeren alles meine Kumpels. Sind sie aber nicht. *

I am a happy man since I stopped reading e-mail. *

Nicht alle, die in den Kernbereich vordringen, bleiben daher auf Dauer Insider. Manchen wird das Netz langweilig, die In- formationsflut zu gross, erscheint es unwichtiger als andere Informations- und Kommunikationsbereiche, einige partizi-pieren nach einer Zeit nur noch in kleinen Netzsegmenten.