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Über Repräsentationen und Praktiken empirischer Forschung in der Politikwissenschaft
 

Jeanette Hofmann , 97

  Sprungbrett
1  Die "Forschungsinsel" und das Schweigen der Methodenhandbücher
2  Forschungsmethoden als Neutralisierungsrezept
3  Forschungspraxis als Anomalie
4  Reflexion des Selbstverständlichen -
Auf der Suche nach gangbaren Wegen über die Forschungsinsel
  Literatur
  Fußnoten

 

  "It could be otherwise. It has been otherwise." John Law
1 Die "Forschungsinsel" und das Schweigen der Methodenhandbücher
  Vor ziemlich genau 20 Jahren veröffentlichte Heine von Alemann (1977) die deutsche Version der "Insel der Forschung"; eine Karikatur, gewidmet dem Leidensweg, den ein jedes Forschungsprojekt mehr oder minder routiniert durchläuft. Der jüngste mir bekannte Nachdruck findet sich in Ulrich von Alemann (1995). Worin besteht die anhaltende Aktualität dieses Cartoons?

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(Aus: Heine von Alemann 1977, 152; mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Vergleicht man die "Forschungsinsel" mit anderen graphischen Darstellungen des Forschungsprozesses (der Einfachheit halber bleiben wir beim aktuellen Band von von Alemann (1995) und blättern lediglich ein paar Seiten vor und zurück), so fallen die Unterschiede sofort ins Auge. In den einschlägigen Darstellungen politikwissenschaftlicher Forschungsmethoden erscheint der Untersuchungsverlauf als ein streng geordnetes chronologisches Geschehen, bei dem treppenförmig eine Stufe auf die andere folgt: Problem- und Fragestellung etwa bilden immer den Ausgangspunkt einer Untersuchung - und nicht etwa selbst eine Erkenntnis. Und die Forschungsbefunde wiederum "ergeben sich" (im doppelten Sinne des Wortes) als Antwort auf die ursprüngliche Fragestellung - nicht etwa als Reformulierung des Problems oder als Kritik der eigenen Annahmen.

Aber nicht nur die einschlägigen Methodenhandbücher repräsentieren den Forschungsprozeß als durchgeplantes und steuerbares Unternehmen, auch in den Methodenkapiteln empirischer Studien erscheint der Forschungsverlauf als Erfolgsgeschichte.

Im Gegensatz zu den kanonisierten Stufenmodellen des Forschungsprozesses kennt die Forschungsinsel weder Gradlinigkeit noch systematische Planung; der Untersuchungsverlauf ähnelt eher einer abenteuerlichen Reise durch unübersichtlich-labyrinthische Landschaften, in denen hinter jeder Weggabelung tragische wie unvermeidliche Unglücksfälle lauern, dargestellt als "Trümmerhaufen der Hypothesen", "Fiebersumpf der Daten" oder "Wo-bin-ich Nebel". Begleitet ist der strapaziöse Weg durch die Forschungsinsel denn auch von wechselnden Gefühlszuständen wie Hoffnung und Verzweiflung, Langeweile und Müdigkeit.

In den seriösen Selbstbeschreibungen der akademischen Forschung kommen, worauf die feministische Forschung immer wieder hingewiesen hat (z.B. Haraway 1985; Grosz 1993; zusammenfassend Abels 1993, 1997), weder Gefühle noch forschende Subjekte vor. "Konfusion", Orientierungsverlust und "Hypothesentrümmerhaufen" scheinen dagegen ausschließlich auf der Forschungsinsel stattzufinden. Man sieht, Karikatur und akademische Dramaturgie zeichnen sehr unterschiedliche Bilder von der Forschungspraxis.

Nun ließe sich argumentieren, daß es sich bei den dramatischen Ereignissen auf der Forschungsinsel weniger um unvermeidliche "Naturkatastrophen" handelt als vielmehr um Ausnahmen oder selbstverschuldete Unfälle, die deshalb der systematischen Diskussion auch gar nicht bedürfen. Die hier vertretene Gegenthese dazu lautet, daß die Forschungsinsel eine Dimension des Forschungsalltags repräsentiert, die in der Politikwissenschaft systematisch ignoriert wird, weil sie eine Reihe konstitutiver Grundannahmen über das Wesen der Politikwissenschaft bedroht. Über Chaos, Unordnung und zeitweilige Ratlosigkeit in der empirischen Forschung können wir uns allenfalls anekdotisch, nicht aber systematisch verständigen, nicht weil es Chaos und Unordnung nicht gibt, sondern weil wir mit den Implikationen eines solchen Eingeständnisses nicht umgehen können oder wollen.

2 Forschungsmethoden als Neutralisierungsrezept
  Auseinandersetzungen über Forschungsmethoden sind immer auch (Selbst-)Verständigungen über die Identität einer Disziplin. Wo es vordergründig um Untersuchungstechniken und -instrumente geht, schwingt die Frage mit, welches die relevanten Problem- und Fragestellungen sind, welche Reichweite und Gültigkeit die Antworten besitzen sollen und schließlich, an welchen Kriterien sich ihre wissenschaftliche Qualität bemißt. Insofern ist es auch kein Zufall, daß der Gründungsdiskurs der feministischen Forschung methodischen Aspekten von Beginn an eine sehr große Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Diskussionen um angemessene Untersuchungsverfahren haben sich in der feministischen Forschung, nicht anders als in den Sozialwissenschaften auch, lange Zeit um die Frage gedreht, ob wir, platt gesagt, zählen und erklären oder verstehen und interpretieren sollen bzw., ob zählen und interpretieren gleichermaßen valide Ergebnisse hervorbringt.[1] Die Rolle derjenigen jedoch, die da empirische Daten sammeln, sortieren, zählen und interpretieren, fand vergleichsweise wenig Beachtung. Das gilt insbesondere für die Politikwissenschaft, in der der Methodenstreit ohnehin nie die Tiefe erlangt hat, die er in einigen angrenzenden Disziplinen besitzt. Unabhängig davon, ob es sich um quantitative oder qualitative Erhebungsverfahren handelt, wird in der Politikwissenschaft bis heute stillschweigend unterstellt, daß Forschungshandeln als Entdecken oder Beobachten sozialer Phänomene zureichend beschrieben ist. Die Vorstellung vom unbeteiligten Forscher als methodisch neutralisiertem Außenstehenden, der den Erkenntnisprozeß mit Hilfe seines Untersuchungsinstrumentariums sorgfältig kontrolliert und objektiviert, ist zentral für eine Reihe von Grundannahmen, die das offizielle Bild der akademischen Wissensgenerierung bestimmen.[2]

Zu diesen Annahmen gehört,

1. daß die Gegenstände unserer Erkenntnis, nämlich: "empirical structures - laws, patterns, rules, or principles - that have hitherto been hidden in some sense" wie es Schwarz/Jacobs (1979, 6) persiflieren, unabhängig und außerhalb von jenen existieren, die sie ans Licht bringen;

2. daß sich wissenschaftliches Wissen von Alltagswissen kategorial unterscheidet, ein sauberes Verfahren also valide, harte Daten hervorzubringen vermag;

3. daß der Untersuchungsprozeß durch die angewandten Verfahren nicht nur gesteuert, sondern auch so weit normiert werden kann, daß Verlauf und Ergebnis intersubjektiv nachvollziehbar oder gar reproduzierbar sind (vgl. Hawkesworth 1988).

Mit anderen Worten, es sind die Forschungsmethoden, seien sie nun qualitativ oder quantitativ, durch die die Produktion akademischen Wissens von subjektiven Einflüssen gereinigt wird und eine prinzipielle Überlegenheit gegenüber Alltagswissen beansprucht werden kann. Es sind die Methoden, die sicherstellen, daß nicht eine konkrete Person mit einem Körper und einem Geschlecht, mit spezifischen Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen, sondern die Forschung zu jeweiligen Schlußfolgerungen gelangt. Und die Diskussionen um die Wahl des Verfahrens drehen sich in der Politikwissenschaft üblicherweise darum, welche Verfahren diesen Grundannahmen gerecht werden, nicht aber darum, ob diese selbst überhaupt angemessen sind bzw. es jemals waren.

Schwartz/Jacobskarikieren das damit einhergehende professionelle Selbstverständnis der Sozialwissenschaften, demzufolge

"Sociologists as a group are in the business of producing authoritative descriptions of the lay person's world. Ö lay persons have no business in participating in decision making as to what these descriptions of their world are to be. Their business is to sit still and be measured - to answer the questions, push the buttons, or otherwise provide sociologists with what they need to describe them in ways that the sociologists, and their methodologies, determine to be correct" (1979, 6).

Die Interaktion zwischen Forschern und Beforschten erscheint als kontrolliertes Terrain, in dem das Untersuchungsverfahren das Handeln beider Akteure dirigiert.

Um etwaigen Einwänden zuvorzukommen: Es geht mir nicht darum, tote Hunde zu prügeln, also längst beerdigte Ansprüche an die klinische Reinheit und Objektivität wissenschaftlicher Wissensgenerierung wieder zum Leben zu erwecken, nur um sie dann erneut für gestorben zu erklären. Sicherlich, die einstige Gewißheit ob der universalen Gültigkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hat, vor allem unter dem Einfluß wissenssoziologischer, hermeneutischer und ethnomethodologischer Forschungsansätze, selbst in der Politikwissenschaft inzwischen soviel von seiner Unantastbarkeit eingebüßt, daß auch hier Anforderungen an die Reproduzierbarkeit von Untersuchungsverfahren und die "Härte" der ermittelten Befunde allmählich zurückgenommen werden (vgl. dazu von Alemann/Tönnesmann 1995). Gleichwohl ist dieser Rückzug auf halber Strecke zum Stehen gekommen. Während auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene eine allgemeine Öffnung zu "verstehenden" Forschungsansätzen stattfindet, atmet das praktische Forschungshandeln weiterhin den neopositivistischen Geist der Vergangenheit. Die Vorstellung, die Forschenden steuerten den Untersuchungsverlauf und die gewählte Methode statte sie mit ausreichenden Verhaltens- und Entscheidungshilfen aus, um subjektive Einflüsse oder gar Eingriffe in die Datenerhebung und -auswertung ausschließen zu können, bestimmen bis heute die offiziellen und nicht selten auch die persönlichen Erwartungen an den Forschungsprozeß.

3 Forschungspraxis als Anomalie
  Das neopositivistische Erbe bestimmt indes nicht nur die eigene und fremde Erwartungshaltung an die Resultate der Forschung, sondern auch den Umgang mit den oft wenig modelltypischen Erlebnissen in der Forschungspraxis. Eine wiederkehrende und aus meiner Sicht zentrale Erfahrung "im Feld" besteht darin, daß der Forschungsprozeß viel weniger gesteuert und kontrolliert werden kann als von Untersuchungsverfahren gemeinhin unterstellt wird. Wer einmal Interviews geführt hat weiß, daß es durchaus nicht immer die Befragten sind, die im Sinne von Schwarz/Jacobs "still sitzen" und Knöpfe drücken, sondern auch wir, die angeblichen DirigentInnen des Gesprächs. In solchen Situationen bleiben uns die Befragten die erwünschten Antworten schuldig und wir werden zu ZuhörerInnen von Geschichten, nach denen wir nicht gefragt hatten (vielleicht nicht einmal hätten fragen können). Womöglich wird unsere Meinung oder unser Ratschlag erbeten, obwohl wir doch bloß beobachten und notieren wollten. Und gelegentlich finden wir uns in Gesprächssituationen wieder, in denen es unsere Fragestellung ist, die zum Gegenstand der Diskussion, der Kritik und Belehrung wird. Nachfolgende Interviewtranskriptionen offenbaren dann in aller Schonungslosigkeit, wie lose der Zusammenhang zwischen Fragen und Antworten oft ist. Unsere Interessen und die dahinterstehende Agenda konkurrieren beständig mit den Themen, die für die Befragten augenblicklich oder irgendwann wichtig gewesen sind. Entsprechend gestalten sich viele offene Interviews als eine Art Oszillieren zwischen den eigenen Anliegen und jenen des Gegenübers. Gabi Abels gibt in ihrem Beitrag in diesem Heft eine systematische Übersicht über solche Gesprächskonstellationen.

Diese und verwandte Interviewsituationen zeigen exemplarisch, wie fragwürdig die Vorstellung einer methodisch kontrollierten und neutralisierten Datenerhebung ist. Interviews aller Art sind unabwendbar interaktive, singuläre und damit nicht-reproduzierbare Ereignisse, deren Ertrag und Qualität erheblich davon abhängen, ob die GesprächspartnerInnen überhaupt willens sind, sich auf das Forschungsthema einzulassen. Die entscheidenden, ein Interview bestimmenden Faktoren,"are within the gift of the interviewee, and thus outside the control of the interviewerÓ, konstatieren Davidson/Layder (1994, 124). Auch Meuser/Nagels Darstellungen von Experteninterviews lassen sich dahingehend interpretieren:

"Ein gelungenes Interview zeichnet sich dadurch aus, daß der Forscher den Experten für seine Sache interessiert und der Experte seine Sicht der Dinge entfaltet. Dieser bedient sich der verschiedenen Darstellungsformen: er berichtet, typisiert, rekonstruiert, interpretiert, kommentiert und exemplifiziert" (1994, 123).

Weder kann als selbstverständlich unterstellt werden, daß es gelingt, den Interviewten für die eigene Fragestellung zu interessieren, noch läßt sich umgekehrt davon ausgehen, daß sich die ExpertInnensicht auf die Dinge in das vorgefertigte Konzept der Fragenden fügt. Meiner Erfahrung nach ändern auch stärker strukturierte bzw. standardisierte Interviews an der interaktiven Gemengelage nichts, sie täuschen über die Abhängigkeit des Fragenden vom Befragten lediglich hinweg.[3]

Wir neigen dazu, die Erfahrung und Folgen unserer beschränkten Steuerungsmöglicheiten im Forschungsprozeß als Abweichungen vom normalen, erwartbaren Forschungsverlauf zu interpretieren. "Loosing control of the interview is almost always a methodological disaster that terminates useful data gatheringÓ, so apodiktisch formuliert Hessler (zit. n. Davidson/Layder 1994, 120) für das konkrete Interview, was sich wohl nach Meinung vieler auch für den gesamten Forschungsprozeß behaupten ließe. Und sofern Abweichungen vom Forschungsplan gehäuft auftreten und womöglich in Heine von Alemanns "Trümmerhaufen der verworfenen Hypothesen" münden, betrachten wir das als - persönlich zu verantwortendes - Fiasko. Darin liegt meiner Ansicht nach die eigentliche Tragik eines nur unzureichend, d.h. allenfalls konzeptionell, nicht aber praktisch überwundenen Forschungsmodells in der Politikwissenschaft. Solange sich ernsthafte Abhandlungen über Forschungsmethoden dem traditionellen Modell eines linearen und durchgeplanten Untersuchungsverlaufs beugen, bleibt die Auflösung der notwendigen Differenzen zwischen idealtypischen Modellvorstellungen und forschungspraktischem Alltag dem individuellen Geschick überlassen.

Tragisch ist die Tabuisierung der Forschungspraxis nicht nur, weil es deren Wechselfälle zur Anomalie erklärt, sondern mehr noch, weil hierdurch die Integration und Weiterentwicklung solcher Untersuchungsansätze blockiert wird, die diese Forschungspraxis mitsamt ihrer Interaktivität und Subjektivität als Prämisse akzeptieren. Während in anderen Disziplinen wie etwa der Soziologie, der Psychologie, der Anthropologie oder der Geschichtswissenschaft, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Frauen- und Geschlechterforschung, eine wachsende Bereitschaft zum Experimentieren mit ethnographischen und hermeneutischen Verfahren zu beobachten ist, herrscht in der Politikwissenschaft noch großflächiges Schweigen zu den Fragen, die die Erosion neopositivistischer Glaubenssätze aufwirft:

Wenn empirische Forschung nicht länger als verfahrenstechnisch neutralisiertes Beobachten und Auswerten, sondern als subjektiver und kontextabhängiger Akt schöpferischer Konstruktion zu verstehen ist, worin unterscheidet sich dann akademisches Wissen von Alltagswissen? Welche methodischen Schlußfolgerungen ergeben sich aus dem Rollen- und Statuswechsel vom "Beobachter" zum "Mitspieler" für die Forschungspraxis? Und schließlich, welche Konsequenzen könnte ein subjekt- und praxisorientierter Forschungsbegriff für politikwissenschaftliche Fragestellungen haben?

4 Reflexion des Selbstverständlichen -
Auf der Suche nach gangbaren Wegen über die Forschungsinsel
  Zusammengefaßt läuft mein Vorschlag darauf hinaus, die "Trümmerhaufen der verworfenen Hypothesen" und ähnliche, unerwarteten Einsichten geschuldete Abweichungen vom Forschungsplan nicht länger als zu vermeidende Katastrophen anzusehen, sondern im Gegenteil als erkenntnispraktische Glücksfälle. Die Entwicklung eines offeneren und vor allem selbstbewußteren Umgangs mit den Unwägbarkeiten in der empirischen Forschung hat Voraussetzungen und Konsequenzen, von denen ich einige kurz skizzieren möchte.

Der Beginn der Feldforschung markiert meiner Erfahrung nach eine Art "Sollbruchstelle" im Untersuchungsprozeß. Während wir es in der ersten Phase hauptsächlich mit Dokumenten über den Forschungsgegenstand zu tun haben, geht es in der Interviewphase darum, das untersuchte Handlungsfeld selbst zum Sprechen zu bringen. Beruhen unsere ersten Kenntnisse über einen Forschungsgegenstand auf den allgemein zugänglichen Quellen und mithin darauf, was alle schon wissen oder wissen können, werden wir in Befragungen erstmals damit konfrontiert, wie die Akteure eines Politikfeldes sich selbst, ihr Handeln, ihre Ziele, Motive und ihre Handlungszwänge beschreiben. Anders ausgedrückt beziehen Forschungsprojekte die Formulierung von Problemstellungen und Hypothesen üblicherweise aus der zugänglichen Literatur und reproduzieren damit, was bereits gesagt worden ist und als "gesichert" befunden wurde[4]. Interviews hingegen gewähren uns Einblicke in eine Welt der Praxis (vgl. dazu Bourdieu 1979), die ihre Wahrnehmungen in einem speziellen, von unserem deutlich unterschiedenen Erfahrungszusammenhang erzeugt. Honer (1993) bezeichnet diese als "Subsinnwelten". Solche, einen spezifischen sozialen Handlungs- und Rationalitätskontext reflektierende Beschreibungen sind es, die Meuser/Nagel mit der"Sicht" des Experten"auf die Dinge" ansprechen: Interviews eröffnen Perspektiven auf gesellschaftliche Zusammenhänge, die uns zumeist verschlossen waren und daher nicht selten fremd, überraschend oder unverständlich erscheinen. Der, wie ich finde, unschätzbare Wert solcher Konfrontationen mit fremden Sichtweisen auf die vorgeblich vertraute Welt besteht darin, daß sie uns ermöglichen, über die Voraussetzungen und Grenzen der eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen nachzudenken. Befragungen bieten die Chance, in ein relatives und damit reflexives Verhältnis zum eigenen "gesicherten" Wissen zu treten, indem sie uns, um es postmodern zu formulieren, die "Vielstimmigkeit" der Wirklichkeit vorführen, sofern wir bereit sind zuzuhören.

Die Bereitschaft zuzuhören meint, sich auf die Weltsicht der Befragten einzulassen und sie so ernst zu nehmen wie die eigenen Auffassungen auch: "There is no reason to suppose that we are different from those whom we study", schreibt John Law (1994, 16). Dieses "going native", d.h. sich vorbehaltlos in die Welt der anderen hineinzubegeben, gehört in Disziplinen wie der Ethnologie zu den eher selbstverständlichen Übungen, hat jedoch in der Politikwissenschaft keine ausgeprägte Tradition (um es freundlich zu formulieren). Statt dessen besteht hier die Neigung, zwischen der eigenen Person und den untersuchten Akteuren kategoriale Unterschiede einzuziehen, um auf dieser Basis divergierenden Weltsichten mit dem Verweis auf (sich selbst erklärende) ökonomische, sexistische oder institutionelle Interessenstrukturen und Machtkonstellationen analytisch einzuebnen.[5] Bewußt oder unbewußt manövrieren sich die Forschenden mit solchen Erklärungsmustern in eine Vogelperspektive auf das Untersuchungsfeld und beanspruchen für sich eine Art akademisches Meta-Wissen, das jenem der untersuchten Akteure nicht nur überlegen ist, sondern auch einen fragwürdigen Unterschied zwischen akademischem und nicht-akademischem Wissen statuiert.

Der verbreiteten Haltung unter PolitologInnen, immer schon alles vorher zu wissen, setzt Hitzler die "Attitüde der künstlichen Dummheit" entgegen, die auf "einen systematischen Zweifel gegenüber dem je Selbstverständlichen" zielt (1991, 297). Der zentrale Unterschied zum klassischen Forschungsmodell besteht zum einen im Selbstverständnis, zum anderen im Zuschnitt des Untersuchungsareals. In dem Maße wie es gelingt, all das, was man über das Untersuchungsfeld bereits zu wissen glaubt, einer dauerhaft zweifelnden Reflexion zu unterziehen, verabschiedet man sich zum einen von der liebgewonnen Illusion, die eigenen Kenntnisse seien qua Ausbildung und Profession denen der Untersuchten überlegen. Zum anderen wird mit dieser neuen Bescheidenheit das Forschungsfeld um die eigene Person erweitert: Wer seinem eigenen Wissen mißtraut, ist nicht länger neutrale, außenstehende Beobachtungsinstanz, sondern zählt zum Kreis der Akteure, deren jeweilige Handlungen und Denkweisen kollektiv das Untersuchungsfeld konstituieren. Sehr ertragreich, weil kontrovers aufgearbeitet, ist die doppelte Rolle des Beobachtens und Konstruierens für die Konstitution der Geschlechterverhältnisse: "Doing gender" (West/Zimmerman 1987) schließt die, die darüber forschen mit ein (vgl. auch Hagemann-White 1993; Knapp 1994; Hirschauer 1993).

Ein Forschungskonzept, das heterogene Wirklichkeitswahrnehmungen einkalkuliert und darauf verzichtet, solcherlei Vielstimmigkeit zugunsten monistischer Erklärungen aufzulösen, wird Fragestellungen verfolgen, die eher mit "Wie" als mit "Warum" beginnen, d.h. eher phänomenologisch-verstehend als nomologisch-erklärend orientiert sind. Dvora Yanow illustriert den Unterschied mit den Fragen"How does a policy mean?" im Gegensatz zu "What does a policy mean?". Während letzterer Fragetyp unterstellt, "that the world is knowable in one best way" (Yanow 1995, 124) und es folglich nur eine beste Antwort geben kann, richten sich Fragen nach dem Wie darauf ein, daß politische Handlungszusammenhänge grundsätzlich mehrere, sich zudem wandelnde Interpretationen erlauben, von denen keine einen Anspruch auf universelle, zeitlose Gültigkeit erheben kann (vgl. Hirschauer 1993; exemplarisch: Hofmann 1993).

Damit verbunden ist eine Veränderung des Erwartungshorizonts empirischer Forschung. Forschungsprojekte, die politische Prozesse oder Handlungszusammenhänge danach befragen, wie sich diese darstellen, orientieren weniger darauf, den so gern zitierten "Bestand gesicherter Erkenntnisse" durch ontologische Aussagen zu erweitern, sie stützen vielmehr das Vermögen einer Gesellschaft, über sich selbst zu reflektieren und, wie es Yanow in Anlehnung an William Dunn auszudrückt, Fragen zu stellen:

"We need, then, to see policy analysis as a process of inquiry that seeks to ask questions, rather than as a collection of tools and techniques designed to provide the right answers. The `right answers' approach begins from the assumption that the perception of the problem is accurate, whereas the inquiry approach problematizes the very definition of the problem" (1996, 15).

Das Erfragen und Hinterfragen des politisch Selbstverständlichen und Kenntlichmachen der "Standortabhängigkeit" jeweiliger Wahrnehmungen begründet eine reflexive Kompetenz, die wohl nicht länger eine kategoriale Sonderstellung gegenüber Alltagswissen beanspruchen kann, sondern sich legitimiert durch das, was Jo Reichertz für die Ethnographie so treffend als Haltung bezeichnet hat: Entscheidend sei "die im Text zum Ausdruck kommende Haltung, mit der sich der Ethnograph seinen eigenen Deutungen und den Deutungen seiner Kollegen zuwendet" (1992, 346).

Eine solche Forschungsperspektive ist nicht ohne Risiken. Wer sich bewußt der Möglichkeit öffnet, daß die eigenen Kategorien, Begriffe und Problemwahrnehmungen im Zuge des Forschungsprozesses revisionsbedürftig werden, läuft Gefahr, inmitten eines Forschungsprojektes größere konzeptionelle Umbauten vornehmen zu müssen. Veränderungen in den Fragestellungen, die vom Standpunkt des Erkenntnisgewinns aus betrachtet, einen großen Schritt nach vorne bedeuten mögen, können sich aus projektadministrativer Sicht, nicht zuletzt angesichts enger werdender Zeitbudgets, sehr problematisch, und karrierretechnisch betrachtet, sogar reputationsabträglich auswirken. Solange die wissenschaftliche Qualität eines Projekts auch oder gar vorrangig daran gemessen wird, daß Fragestellungen eingehalten, Forschungspläne durchgehalten, die Kontrolle mithin gewahrt, ungeplante Erkenntnisse aber gleichsam ausgeschlossen werden, sind Forschungsmethoden, die es darauf anlegen, die eigenen Wissensbestände reflexiv zu hinterfragen, nur gegen das herrschende Selbstverständnis in der Politikwissenschaft möglich. Eben deshalb ist eine offene Diskussion der alltäglichen Forschungserfahrungen und -praktiken so notwendig. Sie bildet die Voraussetzung dafür, daß die subjektive und interaktive Natur des empirischen Arbeitens nicht länger als Störgröße, sondern als Bedingung von Erkenntnisgewinn und Theorieproduktion anerkannt wird.

Literatur
  Abels, Gabriele, 1993: "Zur Bedeutung des Female-Stream für die Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften". Soziologie. 22. Jg. H. 1, 6-17.

Abels, Gabriele, 1997: "Zur Methodologie-Debatte in der feministischen Forschung". In: Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim, München: Juventa, 5-17 (i.E.).

Alemann, Ulrich von/Tönnesmann, Wolfgang, 1995: "Grundriß: Methoden in der Politikwissenschaft". In: Alemann, Ulrich von (Hg.): Politikwissenschaftliche Methoden. Opladen: Westdeutscher Verlag, 17-140.

Alemann, Heine von, 1977: Der Forschungsprozeß. Stuttgart: Teubner-Verlag.

Bourdieu, Pierre, 1979: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Davidson, Julia O' Connell/Layder, Derek, 1994: Methods, Sex And Madness. London, New York: Routledge.

Garz, Detlev/Kraimer Klaus, 1991: "Qualitativ-empirische Sozialforschung im Aufbruch". In: dies. (Hg.): Qualitativ-Empirische Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1-33.

Grosz, Elizabeth, 1993: "Bodies and Knowledges: Feminism and the Crisis of Reason". In: Alcoff, Linda/Potter, Elisabeth (Hg.): Feminist Epistemologies. New York, London, Routledge, 187-215.

Haraway, Donna, 1985: "A manifesto for cyborgs." In: Socialist Review. 15. Jg. H. 2, 65-107.

Hawkesworth, Mary E., 1988: Theoretical Issues in Policy Analysis. Albany: State University of New York Press.

Hirschauer, Stefan, 1993: "Dekonstruktion und Rekonstruktion. Plädoyer für die Erforschung des Bekannten". In: Feministische Studien, 11. Jg. H. 2, 55-67.

Hitzler, Ronald, 1993: "Verstehen: Alltagspraxis und wissenschaftliches Programm". In: Jung, Thomas/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): "Wirklichkeit" im Deutungsprozeß. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 223-240.

Hitzler, Ronald, 1991: "Dummheit als Methode. Eine dramaturgische Textinterpretation". In: Garz, Detlev/Kraimer, Klaus (Hg.): Qualitativ-Empirische Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 295-318.

Hagemann-White, Carol, 1993: "Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht". In: Feministische Studien. 11. Jg. H. 2, 68-78.

Hofmann, Jeanette, 1993: Implizite Theorien in der Politik. Interpretationsprobleme regionaler Technologiepolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Honer, Anne, 1993: "Das Perspektivenproblem in der Sozialforschung. Bemerkungen zur lebensweltlichen Ethnographie". In: Jung, Thomas/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): "Wirklichkeit" im Deutungsprozeß. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 241-257.

Law, John, 1994: Organizing Modernity. Oxford, Cambridge: Blackwell.

Latour, Bruno/Woolgar, Steve, 1979: Laboratory Life: The construction of scientific facts. Princeton: Princeton University Press.

Knapp, Gudrun-Axeli, 1994: "Politik der Unterscheidung". In: Institut für Sozialforschung (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Politik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 262-287.

Knorr-Cetina, Karin, 1984: Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Meuser, Michael/Nagel, Ulrike, 1994: "Experteninterview". In: Kriz, Jürgen, u.a. (Hg.) Lexikon der Politik. Bd. 2: Politikwissenschaftliche Methoden. München: Beck, 123-124.

Reichertz, Jo, 1992: Über das Verfassen Ethnographischer Berichte". In: Soziale Welt. 43. Jg. H. 3, 331-350.

Schwarz, Howard/Jacobs, Jerry, 1979: Qualitative Sociology. A Method to the Madness. New York: The Free Press.

West, Candace/Zimmerman, Don. H., 1987: "Doing Gender". In: Gender & Society. 1. Jg. H. 2, 125-151.

Yanow, Dvora 1995: "Editorial: Practices of Policy Interpretation". In: Policy Sciences. 28. Jg. H. 2, Special Issue: "Policy Interpretations", edited by Dvora Yanow, 111-126.

Yanow, Dvora, 1996: How Does a Policy Mean? Interpreting Policy and Organizational Actions. Washington, D.C.: Georgetown University Press.

Fußnoten
  1 Wie nicht anders zu erwarten war, löst sich dieser Streit in den Sozialwissenschaften insgesamt wie auch in der Frauenforschung allmählich zugunsten einer pluralistisch-pragmatischen Haltung auf, der zufolge diese Fragen nicht prinzipiell, sondern je nach Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse entschieden werden sollten (etwa von Alemann 1995; Abels 1993; Garz/Kraimer 1991).

2 Die Wissenschaftssoziologie hat sich in den 70er und 80er Jahren der "Fabrikation von Erkenntnis" (Knorr-Cetina) in den Naturwissenschaften zugewandt und zeigen können, daß der Boden der Tatsachen auch in den Forschungslaboren ein sozial konstruierter ist (vgl. z.B. Knorr-Cetina 1984; Latour/Woolgar 1979). Wäre es nicht an der Zeit, sich an teilnehmenden Beobachtungen in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu versuchen?

3 Alemann & Tönnesmann (1995, 114) gehen dem gegenüber davon aus, daß der Typ des Fragebogens die Interviewsituation strukturiert.

4 In den Worten Hitzlers: "Die herkömmliche Forschungspraxis (...) setzt ihre Gegenstände, ohne Rechenschaft darüber zu geben, wie sie sich konstituieren. Sie perpetuiert somit unreflektiert den `gesunden Menschenverstand' des Alltag im sogenannten `Fachverstand' der Sozialwissenschaften." (1993, 232)

5 John Law (1994, 12) bezeichnet dies als "ReduktionismusÓ. Sein Reiz liege darin, alle Vorkommnisse einer Gesellschaft mit Hilfe weniger Phänomen oder Prinzipien (etwa: Geschlecht, Macht, Ethnie, Produktionsverhältnisse etc.) zu erklären, deren Existenz und Wirkungsweise ihrerseits als gegeben vorausgesetzt werden. Der umstrittene Gegenvorschlag sieht vor, solche Phänomene nicht als Ursachen, sondern ebenfalls als Effekte zu konzeptionalisieren.

 

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