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Panic Usenet
Netzkommunikation in (Un-)Ordnung
  WZB Discussion Paper FS II 97-106, Wissenschaftszentrum Berlin, Juli 1997

Ute Hoffmann

  Sprungbrett
  Abstract
1  Panic Usenet
2  Annäherungen an einen neuen Medientyp
2.1  Elemente telematischer Interaktivität
2.2  Aspekte eines neuen Interaktionsraums
2.2.1  Elektronische Gemeinschaften
2.2.2  Politik auf und mit dem Usenet
2.2.3  Usenet-Kultur
2.3  Aktor-Netzwerk-Theorie: ein Forschungsansatz
3  Network Ordering I: Design
3.1  Usenet-Artikel und ihre Verbreitung
3.2  Die toponymische Ordnung des Kommunikationsraums
3.3  Akteursgruppen und ihr Handlungspotential
3.3.1  User
3.3.2  Administrator
3.3.3  Moderator
3.4  Translokale Handlungskoordination
4  Network Ordering II: Augmentation
4.1  Indikatoren des Wachstums
4.1.1  Usenet-Wachstum 1979-1995[19]
4.2  Ausdehnung
4.3  Metakommunikation
4.4  Ausdifferenzierung
5  Network Ordering III: Episoden des Wandels
5.1  Organisierter Wandel: Der Fall des "Great Renaming"
5.2  Wandel durch Integration: "Tale"
5.3  Wandel als Auflösung: "Net-abuse"
6  Kommunikationsüberfluß
  Literatur
  Fußnoten

 

 
Abstract
  Netzkommunikation ist zum Schnittfeld von Medien- und Technikforschung geworden. Das Paper untersucht aus techniksoziologischer Perspektive die Materialität des medialen Handelns am Beispiel des Usenet. Das Usenet - genannt auch Usenet News, Internet Newsgruppen, Netnews oder schlicht News - gehört wie Email oder Mailing-Listen zu den asynchronen Formen textbasierter Netzkommunikation. Mit dem Computer als Medium ist ein Möglichkeitsraum symbolischer Tätigkeit entstanden, in dem das Zeichenmaterial über die Interaktion zwischen den Teilnehmern hinaus auch für die Interaktion der Teilnehmer mit technischen Prozessen genutzt werden kann. Zum herkömmlichen, auf die Kommunikation von Inhalten bezogenen Text tritt der operative Text. Im Lichte der Aktor-Netzwerk-Theorie bildet das Usenet einen Kontext für Handlungen, bei denen Mensch und Computer als Aktoren fungieren. Beide sind gleichermaßen Teil heterogener Netzwerke und Beteiligte an ihrer Gestaltung. "Ordnung" ist unter dieser Perspektive das Ergebnis rekursiver Prozesse, bei denen kohärente Aktoren innerhalb eines materiell heterogenen Gefüges stabilisiert werden. Das Paper führt zu unterschiedlichen Orten und Arten der Erzeugung von (Un-)Ordnung im Usenet. Im einzelnen geht es um die Operationsweise des Netzes, um Netzwachstum als Quelle und Lösung von Ordnungsproblemen und markante Phänomene einer (De-)Stabilisierung im Usenet. Dabei zeigt sich, daß das Usenet entgegen einer populären Mythologie nicht an einem Mangel an Ordnung leidet, wohl aber an charakteristischen Formen des Ordnungsversagens.

Communication on the Net has become the point of intersection for media and technology research. The paper deals with the materiality of behaviour in the realm of media using Usenet as an example. Usenet - also known as Usenet news, Internet newsgroups, Netnews or just news - is a form of asynchronous text-based Net communication, as are email or mailing lists. The medium of computers has given rise to a space in which particular forms of symbolic activity are possible. Not only can the resulting sign material be used for the participants to communicate amongst themselves but also enables them to interact with technical processes. Operative text joins conventional text, hitherto used to communicate content. Seen in relation to actor-network theory, Usenet constitutes a context for actions in which both humans and computers are actors. Both are equal parts of heterogeneous networks and included in their design. From this perspective, "order" is the result of recursive processes, in which coherent actors are stabilized within a materially stable structure. The paper deals with different places and modes of creating (dis-)order in Usenet. In particular, it is about the way the Net operates, Net growth as a source of and answer to regulation problems (augmentation) and marked phenomenons of (de-) stabilization in Usenet (eopiseodes of change). It becomes apparent that contrary to popular mythology, Usenet does not suffer from a lack of order, but rather from characteristic forms of order failing.

1 Panic Usenet
  "People panic easily, it seems."
Net.Legends FAQ

Im altgriechischen Volksglauben lebte die Vorstellung vom bocksgestaltigen, in der Landschaft Arkadien heimischen Wald- und Hirtengott Pan, dessen plötzliche und unsichtbare Nähe als Ursache für jenen undeutbaren Schrecken angesehen wurde, der Menschen in einen Zustand kopfloser Erregung und allgemeiner Verwirrung zu versetzen vermag. Die Griechen nannten solche grundlose Furcht [[pi]][[alpha]][[nu]][[iota]][[kappa]][[omicron]][[sigma]] - ,vom Pan herrührend`. Für Kroker u.a. (1994) dient die panische Erregung als Sinnbild für die psychologische Grundstimmung postmoderner Kultur. Ein Eintrag zum Usenet fehlt bislang in ihrer Panic Encyclopedia, wäre dort aber nicht unangebracht.

Die Welt des Usenet reagiert bei unerwartet hereinbrechender oder vermuteter Gefahr leicht aufgescheucht und aufgewühlt. Dazu bedarf es nicht unbedingt spektakulärer Ereignisse wie etwa der abrupten Sperrung von Newsgruppen durch einen Online-Dienst (Borchers 1996). Panik nistet im alltäglichen Netzgeschehen, wenn unvermittelt eskalierende Flame Wars ruhigere Gemüter in die Flucht schlagen oder ganze Newsgruppen im Rauschen unterzugehen drohen, weil der Informationsmüll überhandnimmt. Periodisch flackert Endzeitstimmung auf: "Imminent Death Of The Net Predicted!" (Jargon File 1996, Hauben 1997b) Seit Mitte 1983 der Kollaps des Usenet zum ersten Mal vorhergesagt wurde, hat das Netz den Erwartungshorizont vergangener Zukünfte immer wieder überschritten. Das Usenet wächst und hat dabei den Charakter eines Mediums bewahrt, das seinen Nutzern weitreichende Partizipationsmöglichkeiten einräumt. Es präsentiert sich als radial in alle Richtungen ausgreifender und kontinuierlich fortgeschriebener Text: "ein laufender Kommentar von jedermann zu allem" (Grassmuck 1995: 52).

In diesem "erzählerischen Treibhaus" (Herz 1995: 80) gedeiht die Anarchie. So jedenfalls will es eine populäre Mythologie. Das Image des "anarchischen" Usenet ist durchaus ambivalent. Die einen verbinden damit das Schreckbild einer Zone unreglementierten Verhaltens und assoziieren die Notwendigkeit ordnender Zugriffe von außen. Andere sprechen gerne von "kooperativer Anarchie" und verstehen darunter eine Form der sozialen Organisation, bei der die Koordinations- und Kontrollnotwendigkeiten zwischen autonomen Einheiten auf der Basis von Freiwilligkeit und Konsens gelöst werden.

Der folgende Streifzug durch die Welt des Usenet zielt auf ein differenzierteres Bild der (Un-)Ordnung im Netz.[1] Zunächst wird genauer zu klären sein, inwiefern das Usenet einen neuen Medientyp verkörpert und mit welchen Aspekten des im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raums sich die Forschung bislang beschäftigt hat. Anschließend verzweigt sich der Text in drei Richtungen, die zu unterschiedlichen Orten und Arten der Erzeugung von Ordnung führen. Dabei geht es im Einzelnen um die Operationsweise des Netzes und das Handlungspotential der Hauptakteursgruppen (Design), um Netzwachstum als Quelle und Lösung von Ordnungsproblemen (Augmentation) und markante Phänomene einer (De-)Stabilisierung im Usenet (Episoden des Wandels). Abschließend wird auf das Problem der Panik zurückzukommen sein. Pan gilt eben nicht zufällig als Sohn des Götterboten Hermes.

2 Annäherungen an einen neuen Medientyp
  "Der Gebrauchswert des programmierbaren Mediums
entsteht aus seiner Anwendbarkeit."
Wolfgang Coy
2.1 Elemente telematischer Interaktivität
  Netzkommunikation läßt sich als ortsunabhängige und textbasierte Interaktion charakterisieren, die synchrone und asynchrone Formen umfaßt. Das Usenet gehört wie Email oder Mailing-Listen zu den asynchronen Formen. Mailboxnetzwerke und die Foren kommerzieller Online-Dienste bilden verwandte Off-Line-Konferenzsysteme. Von diesen unterscheidet sich das Usenet jedoch erheblich im Hinblick auf Größe, Wachstum und technisch-organisatorische Struktur. Im Netzalltag und in den Medien firmiert es unter den heute meist synonym verwendeten Bezeichnungen Usenet News, Internet Newsgroups, Netnews oder schlicht News.

Eine Fülle von Definitionen sucht - je nach Perspektive unterschiedlich - das Besondere dieser Kommunikationsform einzufangen. In der technischen Fachliteratur erscheint das Usenet als ein Netzwerk von Computersystemen, welche mittels der Netnews Software untereinander News (Nachrichten an thematisch ausgerichtete Diskussionsgruppen) austauschen.[2] Anknüpfend an Elemente herkömmlicher Massenmedien erscheinen die Netnews als Zeitung, die nur aus Leserbriefen besteht (Heinau & Schlichting 1993, Pfaffenberger 1996). Im Lichte von geringtechnisierten Kommunikationsmitteln lokaler Öffentlichkeiten wirkt das Usenet wie eine Sammlung von "elektronischen schwarzen Brettern" (Kneer 1994) oder "eine Art öffentliches Pinnbord mit Möglichkeit zur Diskussion" (Stegbauer 1996: 20). Das Usenet wird beschrieben als Ort, an dem gewöhnlich separierte Kontexte der Alltags- und Medienkommunikation interferieren. Aus diesem Blickwinkel präsentiert sich das Usenet als "Mischung aus schwarzem Brett, Zeitung und Kneipe" (Bruchhaus 1994: 1), "riesiges Cafe mit tausend Räumen und gleichzeitig weltweite, digitale Version des Speaker's Corner im Londoner Hyde Park" (Rheingold 1993: 130) oder Kompositum von "Messe, Cocktailparty, Gemeindeversammlung, Unterhaltungen am Rande einer Konferenz und Konversationen im Wartebereich eines Flughafens." (Vielmetti 1997)

Das Usenet verkörpert einen neuartigen Medientyp. Das Neue an der "telematischen Interaktivität" (Esposito 1995) läßt sich durch wenigstens drei miteinander zusammenhängende Phänomene beschreiben:

(1) Mit anderen Formen der Netzkommunikation teilt das Usenet Prozesse einer Hybridisierung. Seine Medialität ist durch die mehrfache Kreuzung konventionalisierter Formen bestimmt. Im Feld von Individual-, Gruppen- und Massenkommunikation nimmt es eine Zwischenposition ein. Der Modus der Kommunikation im Usenet erinnert gleichermaßen an orale und literale Formen, an das Gespräch unter Anwesenden wie an Geschriebenes und Gedrucktes. Das Usenet vereint - davon geben vor allem die metaphorischen Beschreibungen des Usenet anschaulich Zeugnis - die Anmutung von dichten Kontexten einfacher Interaktion mit der virtuellen Gegenwart eines zerstreuten und anonymen Publikums.

(2) Die Verbindungsmöglichkeiten unter den Teilnehmern des Usenet erreichen die Größenordnung einer "Superkonnektivität" (Hiltz & Turoff 1985: 688). Die Zahl der innerhalb des gemeinsamen Interaktionsraums potentiell erreichbaren Kommunikationspartner war im Jahr 1995 auf über 16 (geschätzte) Millionen angestiegen (Reid 1995). Bei gleichzeitiger Entterritorialisierung ist ein öffentlicher Raum mit hoher sozialer Dichte entstanden.

(3) Mit der Netzkommunikation haben sich nicht nur neue Symbolisierungen entwickelt, wie etwa Smilies, Akronyme oder ASCII-Bilder. In die mediale Nutzung des Computers spielt entscheidend hinein, daß er ein "programmierbares Medium" (Coy 1994), bzw. ein "instrumentales Medium" (Schelhowe & Nake 1994) ist. Das bedeutet u.a., daß sich ein Möglichkeitsraum symbolischer Tätigkeit eröffnet, in dem das Zeichenmaterial über die Interaktion zwischen den Teilnehmern hinaus auch für die Interaktion der Teilnehmer mit Sachstrukturen und technischen Prozessen genutzt werden kann. Zum herkömmlichen, auf die Kommunikation von Inhalten bezogenen Text tritt der operative Text. Sowohl in der Zahl der Textebenen als auch in den charakteristischen und zugelassenen Operationen unterscheidet sich das Usenet von anderen Formen der Netzkommunikation. Chat-Kanäle und die virtuellen Welten der Multi-User Domains (MUDs) bilden diesbezüglich je eigene Interaktionsräume.

2.2 Aspekte eines neuen Interaktionsraums
  Vorliegende empirische Untersuchungen zum Usenet lassen sich grob drei Themenfeldern zurechnen: elektronische Gemeinschaften, Politik auf und mit dem Netz und Usenet-Kultur.[3] In allen Studien tritt das Netz mehr oder weniger prominent als technisch vermitteltes Interaktionssystem in Erscheinung. Netzkommunikation ist zum Schnitt- und Begegnungsfeld zwischen Medien- und Technikforschung geworden.[4] Techniksoziologie focussiert die Materialität des medialen Handelns. Die Aktor-Netzwerk-Theorie, die den Bezugsrahmen für die weiteren Überlegungen bildet, nähert sich dieser Materialität im Lichte von Beziehungsmustern zwischen technischen und nicht-technischen Akteuren.
2.2.1 Elektronische Gemeinschaften
  Computer-Mediated Communication (CMC) hat sich im letzten Jahrzehnt als eigenständiges, stetig expandierendes Forschungsfeld etabliert (http://www.uni-koeln.de/ themen/cmc/). Das Usenet wurde von der CMC-Forschung allerdings erst spät entdeckt. Eine Reihe von neueren Studien untersucht den im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Raum unter dem Aspekt der Bildung und Funktionsweise von elektronischen Gemeinschaften. Manche Studien teilen einen ethnographischen Ansatz und die Konzentration auf jeweils eine ausgewählte Newsgruppe (vgl. Aycock 1995, Baym 1995a und 1995b, Patterson 1996, Phillips 1996 und Tepper 1997).[5] Andere Studien beziehen eine größere Zahl von Newsgruppen in die Untersuchung ein und fragen nach übergreifenden Verhaltensnormen im Usenet (McLaughlin u.a. 1995, Smith u.a. 1996), nach Lösungen für das Problem der Kooperation im Management eines Kollektivguts (Kollock & Smith 1996) oder nach der Repräsentation von Identität (Donath o.J.), Macht (MacKinnon 1995) und sozialem Status (North 1994) in einer allein auf sprachliche Interaktionen gegründeten Netzgesellschaft. Auf die Vermessung der Sozialstruktur des Usenet zielen Ansätze einer panoptischen, auf das gesamte Netz ausgreifenden Erfassung der Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen (Smith 1997).
2.2.2 Politik auf und mit dem Usenet
  Politikwissenschaftliche Studien haben das Usenet als Instrument politischer Partizipation (Fisher u.a. 1994) und Ort politischer Sozialisation (Hill & Hughes 1997) entdeckt. Politik erscheint hier als Thema von Diskussionsgruppen. Im Zusammenhang aktueller Zensurfälle gerieten staatliche und institutionelle Politiken gegenüber dem Usenet ins Blickfeld (Bilstad 1996, Shade 1996). Als autonomes Medium politischer Deliberation erscheint das Usenet bei Howard Rheingold (1993), der sich der Entstehungsgeschichte des Usenet im Kontext anderer "grassroots groupminds" widmet. Ronda Hauben (1996 und 1997a) identifiziert im frühen Usenet das Vehikel eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit. Die konstitutiven Elemente der Usenet-Öffentlichkeit erscheinen allerdings heute durch ihr Aufgehen im Internet selbst bedroht (Knapp 1997).
2.2.3 Usenet-Kultur
  In der Rede vom Usenet als Hort "elektronischer Gemeinschaften" und dem Netz als "politischer Öffentlichkeit" werden zwei unterschiedliche Modi sozialer Ordnung auf den Interaktionsraum Usenet abgebildet. In einer dritten Variante erscheinen die Kommunikationsstrukturen auf dem Netz als Ausdruck einer spezifischen Usenet-Kultur (Hauben & Hauben 1997). Wie sich diese Kultur herausgebildet hat, welche Kräfte sie geprägt haben und in welche Richtung sie sich entwickelt, sind immer wieder aufgegriffene Problemstellungen. Ende der 80er Jahre wurde die im Netz schon früher gestellte Frage auch für die Forschung virulent, ob und wie das Usenet den Stress schnellen Wachstums technisch und organisatorisch verarbeiten kann (Durlak u.a. 1987). Für manche stellt sich "kooperative Anarchie" als das konstitutive und unangefochtene Fundament des Usenet-Systems dar (Hardy 1993). Andere sehen demgegenüber in der Usenet-Kultur einer weitreichenden Autonomie ihrer Mitglieder das Resultat von langwierigen sozialen Konflikten um die Kontrolle des Netzes (Pfaffenberger 1996). Historische Untersuchungen, die die formativen Kräfte der Usenet-Kultur freilegen wollen, finden in der Technik des Netzes ihr zentrales Untersuchungsfeld (Jones 1991).
2.3 Aktor-Netzwerk-Theorie: ein Forschungsansatz
  In der Beschreibung von Netzkommunikation wird gerne und häufig zurückgegriffen auf Metaphern, die auf Situationen der Kopräsenz verweisen (z.B. in der Rede von Diskussionsforen oder -gruppen). Die Netzkommunikation entzieht sich jedoch dem anthropomorphen Modell situierten Verständigungshandelns; was im Medium des Computers geschieht, ist nicht adäquat im kategorialen Rahmen von Erfahrungen zwischenmenschlicher Interaktion zu beschreiben (Krämer 1997).

Die Arbeiten zum Usenet gehen in der Regel nicht von einem transparenten Kommunikationsgeschehen aus. Fast jede Studie enthält an irgendeiner Stelle eine "Gebrauchsanweisung", die die Strukturen des Mediums zumindest oberflächlich erläutert. Das mag zum Teil zeitbedingt und darauf zurückzuführen sein, daß das Usenet noch nicht so weit veralltäglicht ist, um Kenntnisse seiner Funktionsweise einfach vorauszusetzen. Zum anderen Teil aber spiegelt sich darin ein technikbezoges Medienverständnis, das die medialen und materialen Charakteristika des Usenet nicht nur im Sinne einer Ermöglichung von Kommunikation interpretiert, sondern auch als Objekte des Handelns in den Blick nimmt. So treten die Strukturen des Mediums beispielsweise als Ressource, die die diskursiven Praktiken bei der Bildung virtueller Gemeinschaften ergänzen, oder als Schauplatz von Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Netzes in Erscheinung.

In der Aktor-Netzwerk-Theorie liegt ein Ansatz vor, der darüber hinausgehend den Computer als Teilnehmer von Interaktionen in die Betrachtung einbezieht.[6] Dem zugrunde liegt ein Konzept generalisierter Symmetrie, nach dem menschliche und nicht-menschliche Aktoren - analytisch gesehen - den gleichen Status haben. Aus dieser Perspektive bildet das Usenet einen gemeinsamen Kontext für Handlungen, in denen Mensch und Computer als Aktoren fungieren. Beide sind gleichermaßen Teil heterogener Netzwerke und Beteiligte an ihrer Gestaltung. Die Handlungsfähigkeiten der zu soziotechnischen Ensembles assoziierten heterogenen Elemente sind nicht vorauszusetzen, sondern ihrerseits ein Netzwerkeffekt. Mit anderen Worten: Zeichnen sich interaktive Medien einerseits dadurch aus, daß sie durch den Eingriff des Benutzers veränderbar sind, bestimmen die Strukturen des Mediums andererseits mit darüber, was ein Benutzer ist. "Ordnung" ist unter dieser Perspektive das Ergebnis rekursiver Prozesse, bei denen kohärente Aktoren und deren Position innerhalb eines Netzwerkgefüges stabilisiert werden.

3 Network Ordering I: Design
  "Usenet is not real life."
news.groups: A Survival Guide

Oft wird davon gesprochen, daß sich die von Berthold Brecht in seiner "Radiotheorie" artikulierte Vision eines symmetrischen Kommunikationsapparates in der Netzkommunikation erfüllt habe. Tatsächlich ist im Usenet die Trennung von Leser und Autor, Produzent und Konsument der Möglichkeit nach aufgehoben.[7] Die Welt des Usenet weicht jedoch nicht nur darin von der herkömmlichen massenmedialen Ordnung der Dinge ab. Sind die "Inhalte" der alten Medien bereits einem mehrstufigen Selektions- und Bearbeitungsprozeß auf der Produzentenseite unterworfen, bevor sie beim Rezipienten ankommen, ist das Usenet bis zum Empfänger ein weitgehend filterloses Medium. Während bei den alten Medien die Anbieterseite feingliedrig horizontal und vertikal ausdifferenziert ist, hat sich im Usenet ein ausgefeiltes System des Routing, der Speicherung und Abfrage von Mitteilungen herausgebildet, das auf die dezentrale Strukturierung des Kommunikationsflusses durch die Empfängerseite ausgelegt ist: "the receiver controls what is received."[8]

3.1 Usenet-Artikel und ihre Verbreitung
  Das Grundelement innerhalb der Usenet News ist der "Artikel". Artikel sind an thematisch ausgerichtete Newsgruppen (newsgroups) adressiert und werden auf weitgehend automatisiertem Wege von einer Usenet Site zur anderen befördert. Der hier als Illustration herangezogene Artikel entstammt der von Katzenbesitzern und -liebhabern frequentierten Gruppe rec.pets.cats.[9] Usenet-Artikel sind in ihrem Aufbau standardisiert und bestehen aus drei Komponenten: dem header, dem Artikel-Inhalt (body) und - optional - einer Signatur (signature).

Path: fu-berlin.de!newsfeed.nacamar.de!dispatch.news.demon.net!
demon!blakjak.demon.co.uk!blakjak.demon.co.uk!joe
From: Joe Smith <joe@blakjak.demon.co.uk>
Newsgroups: rec.pets.cats
Subject: Re: The new groups
Date: Thu, 3 Mar 1997 12:27:17 +0100
Organization: knave
Distribution: world
Message-ID: <yTV9UyAVQ5QzEwjK@blakjak.demon.co.uk>
References: <3342F8C1.652@smart.net>
Reply-To: Joe Smith <cats@blakjak.demon.co.uk>
NNTP-Posting-Host: blakjak.demon.co.uk
MIME-Version: 1.0
X-Newsreader: Turnpike Version 3.01
<C1QwiTKHUKosRE+WuqS1FpLqgI>
Lines: 19

stella@smart.net (Mary Higgins) writes: 

>Can someone tell me the names of the new groups?
>My server doesn't carry them, but will if I can
>tell them the names.

            unmoderated group rec.pets.cats.anecdotes
              moderated group rec.pets.cats.announce
          unmoderated group rec.pets.cats.community
           unmoderated group rec.pets.cats.health+behav
              unmoderated group rec.pets.cats.rescue
   unmoderated group rec.pets.cats.misc (renames rec.pets.cats)

HTH

-- 
Joe Smith                                /\_/\    Quango  /\ /\
See Quango and Nanki Poo!              =( ^*^ )=    +      @ @
New on the Web: check my Homepage:      ( | | )   Nanki  =( + )=
http://www.blakjak.demon.co.uk         (_~^ ^~     Poo      ~

Header, Body und Signature bestehen aus dem gleichen Zeichenmaterial (in unserem Fall aus Zeichen, die im ASCII-Code darstellbar sind); sie repräsentieren jedoch drei verschiedene Textebenen. Im Body befindet sich die aktuelle Mitteilungsebene. Dabei kann es sich - wie bei unserem Beispiel - um ein Text-Dokument handeln, den Quellcode eines Programms (sources) oder um ein als Binärdatei codiertes Bild (binaries). Wie bei dem folgenden Artikel "kann" die Mitteilung auch fremde Texte als Zitat, beispielsweise durch ">" markiert, enthalten.

Die Signatur erfüllt die Funktion einer elektronischen Visitenkarte. Der Absender teilt etwas über sich mit; beispielsweise, daß er eine Homepage im World Wide Web (WWW) hat und stolzer Besitzer von zwei Katzen ist. Signaturen werden nicht bei jedem Artikel jeweils neu erstellt; der Sender kann an seine Artikel eine entsprechend angelegte Datei (sig file) automatisch anhängen lassen. Der Header schließlich, der teilweise vom Absender eines Artikels und teilweise von seinem Newsreader-Programm angelegt wird, liefert einerseits der Leserin des Artikels Kontextinformationen über seine Herkunft, andererseits beinhaltet er den operativen Text, den die Netnews Software für den Transport des Artikels benötigt.[10]

Nachdem der Absender seine Mitteilung gepostet hat, legt der lokale Newsserver eine Kopie an und verteilt den Artikel an benachbarte Usenet Sites. Dort wird der Artikel wiederum gespeichert und weiterverbreitet, bis die Mitteilung nach dem Schneeballprinzip bei all den Sites angelangt ist, die untereinander Artikel der Newsgruppe rec.pets. cats austauschen und sich innerhalb des vom Absender gewählten Verteilungsgebiets[11] (distribution) befinden.

Die Übertragung der News zwischen den einzelnen Usenet Sites erfolgt auf verschiedene Arten, je nachdem, ob die installierte News Software über eine Datenleitung einen kontinuierlichen Abgleich und Austausch neuer Artikel vornimmt oder ob die Artikel in bestimmten Abständen gesammelt über eine Telefonverbindung von einer Maschine an die andere übertragen werden. Rec.pet.cats gehört einer international verbreiteten Hierarchie von Newsgruppen an und hat ein hohes Artikelaufkommen. Wer in dieser Gruppe postet, kann mit einer schnellen und weiträumigen Fortpflanzung (propagation) seiner Mitteilung rechnen, d.h. der Artikel wird einen hohen Prozentsatz aller Usenet Sites erreichen. Usenet-Artikel werden - im Gegensatz etwa zu den Mitteilungen in Mailing-Listen - nicht in die Mailbox der Teilnehmer geliefert. Sie werden vielmehr von den Servern eine bestimmte Zeit lang aufbewahrt und warten darauf, gelesen und beantwortet zu werden.

3.2 Die toponymische Ordnung des Kommunikationsraums
  Mit dem Artikelformat und dem Verteilmechanismus sind grundlegende Merkmale der Kommunikation via Usenet beschrieben. Das Herzstück des Usenet aber ist seine toponymische Ordnung. Jede Newsgruppe hat einen Namen, der aus mehreren Komponenten besteht, welche durch Punkte "." voneinander getrennt sind.[12] Über ihren Namen ist jede Newsgruppe einer bestimmten Hierarchie (hierarchy) zugeordnet. Hierarchien können dabei größere thematische Felder bezeichnen; rec.pets.cats etwa gehört der rec-Hierarchie (rec für recreational) an. Lokale Hierarchien markieren ein geographisch oder organisational begrenztes Einzugs- und Verbreitungsgebiet. Beispiele lokaler Hierarchien sind "bln" für Berlin oder "cern" für die in Genf gelegene Forschungseinrichtung für Hochenergiephysik. Hierarchien können darüber hinaus Sprachgemeinschaften abbilden; so gibt es etwa französischsprachige ("fr"), polnischsprachige ("pl") oder japanischsprachige ("fj") Newsgruppen, die in sich wiederum thematisch gegliedert sind.

So wie ein Usenet-Artikel mehrere Textebenen in einem Dokument vereint, sind im Namensraum des Usenet mehrere Ordnungsebenen repräsentiert. Der Namensraum beschreibt das Usenet zunächst als Netzwerk der Kommunikation, das sich sachlich in mehr oder weniger spezialisierte Themenfelder gliedert und räumlich in eine Vielzahl von überlappenden lokalen, regionalen, nationalen und weltweiten Arenen verzweigt. Der Name einer Newsgruppe erfüllt hier eine Orientierungsfunktion. So signalisiert der Name "rec.pets.cats", daß es sich bei dieser Newsgruppe um eine englischsprachige Gruppe mit internationaler Verbreitung handelt, "de.rec.tiere.katzen" dagegen steht für ihr deutschsprachiges Pendant.

Der Name einer Newsgruppe impliziert darüber hinaus ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten "Selbstverwaltungsbezirk" innerhalb des Usenet. Diese Bezirke zeichnen sich u.a. durch unterschiedliche Formen der Bewirtschaftung des eigenen Namensraums aus. Die rec-Hierarchie gehört mit comp (computer), humanities, misc (miscellaneous), news, sci (scientific), soc (social) und talk zu den englischsprachigen "Big-8" des Usenet, die ein einheitliches Prozedere bei der Einrichtung neuer Gruppen teilen. Andere Hierarchien kennen solche Regularien nicht, wie etwa die alt-Hierarchie (alternate, alternative), oder sind - wie die clarinet-Gruppen - kostenpflichtig in der Teilnahme.

Schließlich dient der hierarchisch strukturierte Namensraum als Ausgangs- oder Ansatzpunkt für technische Operationen der News Software. Nach demselben hierarchischen Muster organisiert ein Newsserver die Speicherung neu erhaltener Artikel: jeder Newsgruppe korrespondiert ein eigenes Unterverzeichnis. Unser Beispielartikel aus der Gruppe rec.pets.cats würde etwa im Verzeichnis /usr/spool/news/rec/pets/cats abgelegt. Die Substitution der Punkte durch Striche signalisiert, daß ein Wechsel der Materialität stattgefunden hat: der semantische Raum wurde in den digitalen Raum "übersetzt". Das hierarchische Ordnungsschema ermöglicht dabei feingliedrige lokale Selektionen im Hinblick auf den Ein- oder Ausschluß einzelner Newsgruppen oder Hierarchien. In der toponymischen Ordnung des Usenet verketten sich also deskriptive, klassifikatorische und operative Prozesse der Lenkung von Kommunikationsströmen. Der Name einer Newsgruppe bildet ein - zuweilen umkämpftes - Grenzobjekt.[13]

3.3 Akteursgruppen und ihr Handlungspotential
  Namensraum, Verteilmechanismus und Artikel-Format sind wesentliche Elemente des Handlungsrahmens, innerhalb dessen sich die Akteure im Usenet bewegen. User, Administrator und Moderator verfügen dabei über ein spezifisches Handlungspotential und bestimmte Handlungsspielräume, deren Grenzen gleichermaßen technisch und sozial abgesteckt sind.
3.3.1 User
  Nutzer partizipieren am Usenet über eine Software, die Newsreader genannt wird, obgleich sich dieses Programm im Hinblick auf seine Funktionalität eher als Editor charakterisieren läßt. Newsreader erlauben Operationen am Text der News, die das Posten, Lesen, und Nicht-Lesen von Usenet-Artikeln umfassen. Mittels des Newsreaders verwaltet die Teilnehmerin ihre individuelle Kombination der lokal verfügbaren Newsgruppen über eine Auswahldatei (.newsrc). Viele, wenngleich nicht alle Newsreader-Programme erlauben bei der Anzeige neuer Artikel über entsprechende Filter zusätzliche Vorselektionen. Die Killfile-Option gestattet es nicht nur, wie der Name nahelegt, bestimmte Themen und Personen auszublenden, sondern diese auch hervorzuheben.

Bei jedem Usenet-Artikel handelt es sich nicht nur um eine Mitteilung, sondern auch um ein technisches Objekt, das mit Regeln und Prozeduren versehen ist. Steuernachrichten (control messages) sind Artikel eines besonderen Typs, bei denen der handlungsauslösende Aspekt im Vordergrund steht. Steuernachrichten können von jedem Nutzer mittels des Newsreaders erzeugt werden. Sie ermöglichen über das Schreiben und Lesen hinausgehende Operationen wie etwa das Löschen. So hätte Joe Smith in unserem Beispielartikel feststellen können, daß er sich bei einem der Newsgruppen-Namen vertippt hat. In diesem Fall hätte er seinem Artikel eine cancel message nachschicken können, um die weitere Verbreitung zu unterbinden.

3.3.2 Administrator
  Für die Einrichtung und Wartung der Software, die dem Transport und der Speicherung der News dient, ist der News Administrator zuständig. Er entscheidet darüber, welche Hierarchien und Newsgruppen über welchen Zeitraum auf "seiner" Maschine verfügbar sind, handelt mit den Administratoren benachbarter Sites oder mit kommerziellen Providern ihren Bezug aus und fungiert, vielleicht, seinerseits für andere Sites als Newsfeed. Die Administratorin verfügt darüber, welchen Nutzern innerhalb und außerhalb der eigenen Site sie Zugriff auf die News einräumt, und wie sie die Ausführung von Steuernachrichten zu handhaben gedenkt. Sie kann dabei ihre automatische Ausführung veranlassen oder sich eine Prüfung im Einzelfall vorbehalten. Administratoren sind die dezentralen Schaltstellen des Usenet.

Der operative "Text", über den ein Administrator mit dem Usenet interagiert, sind die Systemdateien der News Software. In der Konfiguration des News Systems legt der Administrator gleichzeitig seine Handlungskompetenzen - innerhalb des historisch variablen, durch die Software abgesteckten Spielraums - fest. Die Ausdifferenzierung von User und Administrator als technisch separierte Akteurstypen vollzieht sich in der Ausdifferenzierung der Usenet Software. Umfaßte die Netnews Software ursprünglich gleichermaßen Programme zum Management des Kommunikationsflusses wie auch Schnittstellen für das Posten und Lesen von Artikeln, verkümmern die Lese- und Schreibfunktionen über die verschiedenen Versionen zusehends zugunsten verbesserter Transport- und Speicherleistungen und wandern ab in separate Newsreader.[14] Auch die organisatorischen Kontexte verändern sich. Typische Usenet Sites der 80er Jahre waren Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Unternehmen und Telefongesellschaften. Die Nutzer und Administratoren des Usenet bezogen und verwalteten die News in der Regel als Beschäftigte dieser Organisationen, oft ohne daß dies dem Management bekannt war. News Administratoren kannten "ihre" Nutzer. Heute bieten Internet Service Provider die News als regulären Dienst für ihre verstreute, auch für die Administratorin weitgehend anonyme Nutzerschaft an.[15] Die Rahmenbedingungen, unter denen News Admins dafür Sorge tragen (können), daß die Nutzer einer Usenet Site über die Gepflogenheiten im Netz informiert sind und sich an die Netiquette halten, haben sich dadurch gravierend geändert.

3.3.3 Moderator
  Die ganz überwiegende Mehrzahl der Newsgruppen sind unmodertiert. In diesen Gruppen wird jeder Artikel ohne Intervention einer weiteren Instanz im Usenet verbreitet. Manche Gruppen, innerhalb der "Big 8"-Hierarchien sind dies rund 280, in der alt-Hierarchie ca. 80, haben jedoch einen oder mehrere Moderatoren (McKeon 1997). Eine Moderatorin erhält zuerst alle an eine Gruppe gerichteten Artikel per Email zugeschickt, um diese dann - "per Hand" oder mit Hilfe spezieller Moderatoren-Programme (Landfield 1996) gefiltert - an die Gruppe zu posten. Moderation soll, von der Idee her, gewährleisten, daß die mit dem Namen einer Newsgruppe und mit ihrer "Charter", einer Art Grundsatzprogramm, gesetzte Orientierung eingehalten wird. Diese Türhüter-Funktion weckt im Einzelfall oder dem Prinzip nach jedoch häufig Zensurverdacht und gehört zu den kontroversen Themen, die das Usenet seit seiner Anfangszeit begleiten.
3.4 Translokale Handlungskoordination
  Das Handlungspotential von Usern und Administratoren ist hoch, in seiner Reichweite allerdings begrenzt. Sie sind beide lokale Akteure. In Abwesenheit von zentralen Steuerungsinstanzen hat sich eine Vielfalt von Formen einer dezentralen Handlungskoordination herausgebildet. "Informierter Konsens" oder, allgemeiner formuliert, "informierte Handlung" (Ishii 1995) wäre dabei als ein erstes Regulierungsmuster zu nennen. Unterstützt wird dieses Regulierungsmuster durch die Ausformulierung und Verfügbarkeit von Dokumenten zur Arbeitsweise des Usenet, zu Verhaltenserwartungen (Netiquette) und tendentiell allen Fragen, die sich im Umgang mit dem Usenet stellen. Solche Dokumente finden in einer Fülle einschlägiger Texte als FAQ (Frequently Asked Questions), "Guideline" oder "Primer" ihren konkreten Ausdruck.[16]

Setzt der "informierte Konsens" auf Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit, zielen software-kontrollierte Formen der Verhaltenssteuerung auf die Minimierung von Entscheidungsspielräumen und -zwängen zugunsten einer Standardisierung. Solche Standardisierungen können ermöglichenden Charakter haben wie etwa die "Fähigkeit" von Newsreader-Programmen, aufeinander bezogene Mitteilungen zu Diskussionssträngen (threads) zusammenzufassen, wodurch eine geordnete Konversation erleichtert wird. Software-Steuerung kann aber auch dazu eingesetzt werden, um "hinter den Kulissen" Handlungspielräume von Nutzern einzuschränken. In diesem Sinne ist etwa die schon in den Anfangsjahren des Usenet vorgeschlagene, aber nie realisierte Idee zu verstehen, die maximale Zahl von Postings pro Nutzer zu kontingentieren, um das als bedrohlich empfundene Wachstum des Usenet Traffic einzudämmen.

Formalisierte Regelwerke als ein dritter Weg der translokalen Handlungskoordination haben sich schon früh in Bereichen herausgebildet, wo es um Entscheidungen im Netz mit globaler Tragweite geht. Ein Beispiel dafür ist das Wahlverfahren, dem innerhalb der "Big 8"-Hierarchien die Einrichtung neuer Diskussionsforum unterliegt und auf das später noch genauer einzugehen ist. Hier finden auch intermediäre Instanzen wie die Usenet Volunteer Votetakers ein Wirkungsfeld. Über die Entstehung solcher netzbasierter Funktionsgemeinschaften haben Prozesse der Institutionalisierung im Sinne einer Herausbildung (formaler) Organisationen im Usenet bislang nicht stattgefunden.

4 Network Ordering II: Augmentation
  "The ability to express oneself
to the rest of the world is addictive."
Michael Hauben

Das Usenet ist seit seinen Anfängen erheblich gewachsen. Die Zunahme der Datenströme speist sich aus verschiedenen Quellen. Zum einen dehnt sich das Netz in mehreren Wachstumsschüben immer weiter aus. Eine Reihe ermöglichender Technologien helfen dieses Wachstum zu bewältigen, steigern dabei jedoch auch die Zugänglichkeit des Usenet und bewirken so selbst weiteres Wachstum. Zum anderen wirken die im Usenet praktizierten Formen der Konfliktbearbeitung und -vermeidung als eingebaute Quellen einer Steigerung der Kommunikation.

4.1 Indikatoren des Wachstums
  Als Indikatoren für die "Größe" des Usenet lassen sich die Zahl der Usenet Sites und das Volumen der News heranziehen. Konnte ein Nutzer Anfang der 80er Jahre jeden Artikel lesen, der im Usenet gepostet wurde, zirkulierten im Jahr 1995 täglich weit mehr als 100.000 neue Artikel. Der entsprechende Datenverkehr war auf knapp 600 Megabytes (MB) angewachsen. Bis Anfang 1997 hat sich das Artikelaufkommen auf mehr als 200.000 Postings pro Tag gesteigert. Eine News Administratorin, die das komplette Angebot - den Full Feed - eines größeren Providers bezieht, muß dafür täglich rund zwei Gigabyte Speicherplatz veranschlagen.[17] Heute werden im Usenet pro Tag mehr Artikel gepostet als Mitte der 80er Jahre in einem Jahr. Allein misc.job.offers hat mit über 7000 Postings ein höheres täglich Artikelaufkommen als seinerzeit alle Newsgruppen zusammen. Das wachsende Volumen der News verteilt sich auf eine steigende Zahl von Newsgruppen. Gab es Mitte der 80er Jahre gut 200 Gruppen, waren es zehn Jahre später 10.000 und Anfang 1997 rund 20.000. Zu diesem Zeitpunkt umfaßt das Usenet neben den "Big 8" über 450 verschiedene Hierarchien.[18]
4.1.1 Usenet-Wachstum 1979-1995[19]
 
JahrUsenet SitesArtikel/TagMegabytes/Tag
197932<1
19801510<1
198115020<1
198240050<1
1983600120<1
1984900225<1
198513003751+
198625005002+
1987500010002,5+
198811.00018004+
199263.00017.55642
199369.00019.36250
1994190.00072.755190
1995330.000127.446586
4.2 Ausdehnung
  1979 werden die ersten Usenet-Artikel zwischen zwei Universitäten an der US-amerikanischen Ostküste ausgetauscht. Danach faßt das Usenet zunächst in der Unix-Gemeinde an Hochschulen, Forschungseinrichtungen, in Computerfirmen und Telefongesellschaften Fuß. Ein erster Wachstumsschub erfolgt 1981/1982, als über Gateways die Mailing-Listen des zugangsbeschränkten ARPANET ihren Weg in das von Anfang an offene Usenet finden (Hauben 1996b und 1997). Mit dem NSFNET der National Science Foundation erweitert sich seit 1986 der Kreis der ins Usenet einbezogenen US-amerikanischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Firmen und Behörden. Bereits 1981 beginnt mit der Einrichtung einer Usenet Site in Kanada die Internationalisierung des Netzes.[20] Mitte der 80er Jahre wird das erste Gateway zu einem Mailboxnetz, dem Fidonet, eingerichtet. Zehn Jahre später, 1994/95, ermöglichen auch die kommerziellen Online-Dienste ihren Nutzern den Zugang zum Usenet. Heute gehören die News zum Standardservice jedes Internet Service Providers.

Eine Reihe ermöglichender Technologien hilft die mit der Ausdehnung des Usenet erzeugten wachsenden Datenströme zu bewältigen. Dazu zählen in den Anfangsjahren vor allem zunehmend leistungsfähigere Modems. Seit Mitte/Ende der 80er Jahre steht durch die Verwendung von Internetverbindungen deutlich mehr Bandbreite als zuvor für die Verbreitung der News zur Verfügung. Der Umschlag der News beschleunigt sich.[21] Die vermehrten Transportkapazitäten erhalten eine Antwort auf der Interface-Seite. Eine ab Mitte der 80er Jahre entwickelte "zweite Generation" von Newsreadern unterstützt gezielt Operationen des Nicht-Lesens. Mitte der 90er Jahre erleichtern WWW-Browser mit eingebauter Newsreader-Funktionalität auch weithin unkundigen Websurfern den Einstieg in die News ohne Medienbruch.

Solche ermöglichenden Technologien sind allerdings nicht einfach "da". Ihre Nutzung erfordert einerseits einen teilweise erheblichen Entwicklungsaufwand ohne jede Chance auf monetäre Entschädigung, etwa wenn die News Software umgeschrieben werden "muß" oder neue Kommunikationsprotokolle verlangt sind. Andererseits beruht ihre Anwendung auf einem voraussetzungsvollen Prozeß der "Übersetzung" in die Usenet-Umgebung, wobei dieser Prozeß neben technischen auch kognitive, soziale und politische Dimensionen hat. Solche Übersetzungsprozesse können scheitern, wie der unter dem Namen "Project Stargate" Mitte der 80er Jahre unternommene Versuch zeigt, Satelliten für die Übertragung der News zu nutzen.

Die Einschätzungen von Zeitzeugen divergieren in der Frage, ob diesem Projekt trotz einer Anschubfinanzierung durch die Usenix-Vereinigung hauptsächlich aus "technischen" oder "politischen" Gründen der Erfolg versagt blieb. Übereinstimmend wird als Handicap gewertet, daß der Einsatz von Satelliten die Kosten des News-Transports, die bis dahin meist im Telefonetat der die Usenet Sites beherbergenden Organisationen verborgen waren, plötzlich sichtbar gemacht hätte. Läßt sich beim "Project Stargate" von einem Scheitern der Übersetzung sprechen, gibt es auch schlicht unterbleibende Übersetzungsprozesse. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen, daß viele, auch neuere Entwicklungen im Bereich der Usenet-Technik auf die Unix-Gemeinde beschränkt bleiben. So gibt es zwar inzwischen eine große Zahl von Newsreadern und einige Newsserver für DOS-, Windows- und Macintosh-Rechner, "Werkzeuge" für Moderatoren oder Votetaker sind jedoch nach wie vor weitgehend nur in einer Unix-Version verfügbar. In dieser Ungleichzeitigkeit von Übersetzungsvorgängen spiegeln sich gleichermaßen technische wie soziale Selektionsprozesse. Oder anders formuliert: Soziale Selektionsprozesse erhalten eine technische Übersetzung.

Gelingende Übersetzungsprozesse beim Newstransport lassen sich nicht nur als Lösungen für das Problem das wachsenden News-Volumens interpretieren. Wenn gleichzeitig die Zugangsmöglichkeiten zum Usenet verbreitert werden, schafft dies seinerseits Probleme. Eine Stimme aus den 80er Jahren:

Recently, some Usenet participants have expressed a fear that a new software product on the market called UULINK will mean a deluge of new users. UULINK is designed to allow micro-computers with the MS-DOS operating system to connect up to UNIX-based computers, something not previously possible. This means that all IBM and IBM-compatible personal computers will now be able to link up to USENET. Should this fear be realized, the system could be in danger of overloading to the point of collapse. (Durlak u.a. 1987)

Mit jedem Wachstumsschub wird die Nutzerschaft (und bedingt auch die Gruppe der News Administratoren) heterogener. Gateways haben nicht nur neue Artikelleser und
-schreiber aus dem ARPANET, den Mailboxnetzen und den Online-Diensten ins Usenet importiert, sondern auch unterschiedliche Netzkulturen. Störungen der Kommunikation bleiben da nicht aus. Ihre Bereinigung erzeugt wiederum Kommunikation.

4.3 Metakommunikation
  Netzkommunikation gilt an sich im Verhältnis zur mündlichen Interaktion als störungsanfälliger, weil sie in der Beschränkung auf den Text parakommunikativer Aspekte (Tonfall, Gestik, Mimik etc.) entbehrt und die Anonymität des Bildschirms Hemmschwellen sinken läßt. Das in der Netiquette fixierte Interaktionswissen zielt zwar darauf, solche Störungen zu vermeiden, wird aber nicht immer beachtet und manchmal sogar bewußt mißachtet. Kommentare über Verletzungen der Netiquette, den unkundigen Ge- oder Mißbrauch von Netztechnik und -ressourcen bilden einen wichtigen Bestandteil der Kommunikation im Usenet. McLaughlin u.a. (1995) beziffern den Anteil "korrektiver Episoden" am Traffic der von ihnen untersuchten Newsgruppen auf rund 15%. Dies gilt für den Normalfall; in Krisensituationen - etwa wenn unterschiedliche Netzkulturen in einer Newsgruppe aufeinandertreffen (Phillips 1996) oder Teilkulturen innerhalb des Usenet miteinander in Konflikt geraten (Quittner 1994) - kann der Umfang an Metakommunikation erheblich steigen. Gleiches gilt für Konflikte, die sich an der Moderation von Gruppen oder am auch als Retromoderation bezeichneten Löschen fremder Artikeln entzünden.

In der Metakommunikation als korrektiver Ausgleichshandlung offenbart sich ein Grundzug des Usenet: die geringe Ausdifferenzierung der Arten, in der Verständigungs- und Steuerungsprobleme bearbeitet werden. Dieses Muster wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen. "Primäre Lösungsformen" (Wetzstein u.a. 1995: 92), die sich unmittelbar im kommunikativen Netzgeschehen abspielen, haben Vorrang vor "sekundären Formen", bei denen "real life"-Instanzen eingeschaltet sind. Wer sich beim Arbeitgeber eines mißliebigen Nutzers beschwert oder vielleicht sogar ein Gericht bemüht, zeigt damit gemäß der Netiquette nicht nur schlechte Manieren, sondern begibt sich auf einen Weg, der aufweniger und riskanter ist als netzinterne Sanktionen. Wenn bei notorischen Missetätern "rhetorische Strategien" (Phillips 1996) wie das Flaming - aggressive, oft persönlich verletzend gemeinte Kommentare - nicht greifen, kann es zum Einsatz umstrittener "struktureller" Mittel kommen, wie etwa dem "mail bombing" oder der Retromoderation.[22] Hier spielt sich die Intervention zwar nicht in der Kommunikation ab, sie hat jedoch die Form von Kommunikation. Eine Löschmitteilung ist, technisch gesehen, ein Artikel wie jeder andere. Löschanweisungen und andere Steuernachrichten haben zusammengenommen ein Artikelaufkommen, mit dem sie unter den "Top 20" der Newsgruppen rangieren. Die Kommunikation in den Newsgruppen ist von administrativen Angelegenheiten zwar in einem gewissen Umfang entlastet, indem diese in eigens dafür eingerichteten Gruppen behandelt werden. Die Administration selbst aber wird mit den Mitteln des Usenet geregelt. Und bei fast jedem Namenskonflikt steht die Ordnung des Namensraums selbst zur Debatte.

4.4 Ausdifferenzierung
  Steuerung der Kommunikation mittels Kommunikation kann zu Überlastungen führen. Dagegen hilft die Ausdifferenzierung, bzw. Erweiterung bestehender Strukturen Reibungsflächen zu minimieren, Konflikten vorzubeugen und Konfliktursachen zu beseitigen. Die für das Usenet charakteristischen Formen einer segmentären Ausdifferenzierung reduzieren zwar die Metakommunikation, tragen jedoch auf ihre Weise zum Wachstum des Netzes bei. So können sich Gruppen, die nach dem Eindruck ihrer Mitglieder zu "noisy" geworden sind, aufsplitten wie es etwa bei rec.pets.cats geschehen ist. Nach der Reorganisation hat sich das Artikelaufkommen in allen rec.pets.cats.* Gruppen zusammengenommen allerdings vervielfacht. Solche Reorganisationsprozesse innerhalb der "Big 8"-Hierarchien sind wie die Einrichtung neuer Gruppen nicht ganz unaufwendig. Nutzer, die diesen Aufwand scheuen oder im Prozeß scheitern, können auf die alt-Hierarchie ausweichen, in der neue Gruppen zwar leichter einzurichten sind, aber eine weniger gute Verbreitung haben. Bei Konflikten um die Moderation einer Gruppe kann parallel eine unmoderierte Gruppe eingerichtet werden. Die Entstehung der alt-Hierarchie ihrerseits folgt dem Muster einer Konfliktlösung durch segmentäre Ausdifferenzierung. In diesem Fall war der Konfliktgegenstand allerdings nicht (allein) die Einrichtung bestimmter Gruppen, sondern der Modus der Einrichtung von Gruppen selbst. Im Lichte dieses Musters, das auf die Entschärfung von Konflikten durch eine Separierung von Kommunikations"kanälen" zielt, erscheint es nur folgerichtig, wenn, wie kürzlich geschehen, die Einrichtung einer Meow-, Flame- oder Chaos-Hierarchie angeregt wird, um so notorische Störer von den regulären Newsgruppen ab- und an einen davon getrennten Ort umlenken zu können ,-).
5 Network Ordering III: Episoden des Wandels
  "On the Net, the Net-Way is best. It's just that
we're trying to figure out what the Net-Way is."
Eugene Miya

Usenet ist ein unabgeschlossenes Projekt. Es stellt sich nicht als ein fertiges Gebilde dar, sondern als ein anfälliges und irritierbares Unternehmen. Trotz der erheblichen Ausdehnung und einer sozialen Ausweitung und Ausdifferenzierung ist das Netz ein "offener Kanal" geblieben. Usenet ist ein Medium, das sich in hohem Maße in seiner Nutzung reproduziert und darauf angelegt ist, die "konstitutiven Regeln" (Höflich 1996) dieser Nutzung unter wechselnden Umständen von neuem revitalisieren zu müssen. In den Modus der selbstbezüglichen Reproduktion sind Spielräume für die Erweiterung und Revision bestehender Praktiken eingebaut. Aus dem Wechselspiel von Design, Nutzung und Deutung entsteht Wandel.

5.1 Organisierter Wandel: Der Fall des "Great Renaming"
  Die ursprünglichen Vorstellungen über den Gebrauch eines neuen Mediums und die Praktiken, die sich dann tatsächlich herausbilden, klaffen häufig recht weit auseinander. Daß dies auch beim Usenet nicht anders ist, zeigen die Wandlungen, die der Namensraum durchlaufen hat. Anfänglich gab es entsprechend der Überzeugung der Entwickler, im Usenet primär ein Medium der lokalen Vernetzung geschaffen zu haben, nur eine netzweite Kategorie von Gruppen ("net"). Die Nutzer wiederum zeigten sich von Anfang an vor allem an weiträumigeren Kommunikationsstrukturen interessiert. Als Mitte der 80er Jahre das Volumen der News einen als kritisch empfundenen Wert erreichte, wurden eine Reihe von Projekten konzipiert, die den Kommunikationsfluß verbessern sollten. Das bereits erwähnte "Project Stargate" war eines dieser Vorhaben.

Ein anderes Projekt zielte auf die Reorganisation des Namensraums. Im Kern ging es dabei um die Hierarchisierung des bis dato "flachen" Systems. In einem langen und von heftigen Auseinandersetzungen begleiteten Prozeß (The Great Renaming) wurden im Sommer 1986 zunächst die unmoderierten und anschließend im Frühjahr 1987 die moderierten Gruppen auf das heute vertraute Schema der Mainstream-Hierarchien umgestellt (Bumgarner 1995). Das Design des hierarchisch strukturierten Namensraums war das erfolgreiche Produkt von Gestaltungspraktiken, die John Law (1987) "heterogeneous engineering" genannt hat. Der Entwurf enthielt gleichermaßen technische und nicht-technische Inhalte, er war Teil einer damit verbundenen Aktor-Welt. Zu dieser Welt gehörte eine neue Version der Netnews Software (B News 2.11), die das Namensschema unterstützte[23]; "ökonomisch" denkende News Administratoren, die Rücksicht auf die Telefonkosten ihrer Arbeitgeber zu nehmen hatten; Nutzer, die die taxonomische Struktur des Namensraums als "natürliche" Hilfe beim Suchen von Themengruppen betrachteten; "kontroverse" Newsgruppen, die besser in einer Hierarchie ("talk") aufgehoben waren, weil die Administratorinnen sie so leichter identifizieren und bequemer aus ihrer Subskriptionsliste entfernen konnten; sowie eine Instanz - die "Backbone Cabal" - die über den "politischen" Willen und die Macht verfügte, das neue Namensschema auch durchzusetzen.

Als "Backbone Cabal" wurde eine Gruppe von Administratoren größerer Usenet Sites bezeichnet, sich in der Topologie des Usenet als obligatorische Verbindungsglieder etabliert hatten.[24] Einerseits alimentierten die Backbone-Administratoren andere Sites, in dem sie ihre Organisationen die Kosten für Langstreckenübertragungen tragen ließen und einen verläßlichen Newsfeed anboten. Andererseits konnten sie dadurch eine wirksame Kontrolle des Kommunikationsflusses ausüben, bzw. erfolgreich mit einer solchen Kontrolle drohen. Beschlossen die Backbone-Administratoren, eine Gruppe nicht zu transportieren, war die Verbreitung dieser Gruppe ernsthaft eingeschränkt. Aufgrund ihrer Schlüsselfunktionen im Transport der News waren die Administratoren der Backbone Sites in die Position gelangt, für das Usenet eine Grenze zwischen "Innen" und "Außen" setzen zu können. Einem kooperativen System, das auf der Gleichheit aller beruhte, war eine hierarchische Struktur aufgepfropft worden.

Als Komponenten eines Aktor-Netzwerks waren die Backbone-Administratoren in ihrer Postion allerdings nur so lange gesichert, wie das Netzwerk, das sie stützte, als ganzes hielt. Zwei Entwicklungen haben unabhängig voneinander dieses Netz aufgelöst. Einer kleinen Gruppe von Nutzern/Administratoren gelang es, Namens-Entscheidungen der Backbone Cabal während des Great Renaming dadurch zu unterlaufen, daß sie für die von ihnen kreierten Gruppen einen Vertriebsweg organisierten, der die Backbone Sites umging. Dieser alternate backbone bildete den Kern der alt-Hierarchie, in der bis heute jede Nutzerin eine Gruppe ohne formaliertes (Wahl-)Verfahren einrichten kann. Die Entstehung der alt-Hierarchie korrespondierte zeitlich mit dem Aufkommen eines neuen Transportmechanismus. Das Internet als Transportmedium beschleunigte nicht nur den Austauch erheblich, sondern reduzierte die Bedeutung der Backbone Sites darüber hinaus weiter dadurch, daß die einzelnen Usenet Sites die News nunmehr über multiple Feeds von überallher beziehen konnten. So erhielt das Usenet zwar einen hierarchischen Namensraum. Dieser Namensraum, der das organisierte Werk der "Backbone Cabal" war und gleichzeitig deren Einflußsphäre bildete, definierte am Ende aber nicht mehr die Grenze des Usenet. Die Backbone-Administratoren waren aufgrund von Umständen, die sich ihrem Einfluß entzogen, entmachtet. Der "Vater" des Backbone erinnert sich:[25]

>From Gene Spafford Thu Oct 11 20:05 PDT 1990

gs> I found a note to myself, June 15 1988, where I said that I

gs> considered the backbone to be dead and I would no longer post
gs> a "backbone" map. I removed the word "backbone" from all my
gs> regular postings starting that month.

5.2 Wandel durch Integration: "Tale"
  In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abdanken der "Backbone Cabal" kommt es zu einer Formalisierung des Verfahrens, nach dem in den "Big 8"-Hierarchien neue Gruppen eingerichtet werden können. Das Management des Namensraums der "Big 8" ist ein Beispiel dafür, wie in diesem Teil des Usenet Wandel durch Integration erfolgt. Über die Jahre bildete sich ein Set von Praktiken heraus, die sukzessive zu einer integrierten Handlungskette verschmolzen wurden. In der Anfangszeit des Usenet konnten neue Gruppen von allen Nutzern einfach dadurch eingerichtet werden, daß sie eine entsprechende Steuernachricht absendeten. Eine regelmäßig gepostete Aufstellung aller existierenden Gruppen sollte dazu beitragen, den Namensraum konsistent zu halten. Diese libertäre Praxis wurde unter maßgeblicher Einwirkung der Backbone-Administratoren durch ein Verfahren abgelöst, bei dem die Einrichtung neuer Gruppen von einer öffentlichen Debatte und einer anschließenden Meinungsbildung abhängig gemacht wird.

Eine erste Verflechtung von Praktiken erfolgte, als nur noch solche Gruppen, die dieses Verfahren erfolgreich absolviert hatten, Eingang in die "Liste" der Newsgruppen fanden. Damit war eine zusätzliche Dimension der Unterscheidung und der Kontrolle in die Welt des Usenet eingeführt: die Differenz von echten/unechten ("official/bogus") Newsgruppen, markiert durch die "Liste" als Grenzobjekt. Ein während des Great Renaming in die News Software eingefügtes Programm (checkgroups) ermöglichte es den News Administratoren, ihr lokales Subskriptionsverzeichnis durch einen automatisch durchgeführten Abgleich mit der "Liste" aktualisieren zu lassen. Mit diesem softwarekontrollierten Abgleich war ein weiteres Element in den Prozeß integriert. Nachdem die ungeschriebenen Regeln des Verfahrens und ihre Interpretation durch die Backbone-Administratoren immer wieder für Konflikstoff gesorgt hatten und schließlich in Richtlinien niedergelegt worden waren, war auch dieser Text ("the Guidelines") zu einem Glied in der Kette geworden.

Seit Ende der 80er Jahre administriert der Moderator der Gruppe news.announce. newgroups die Eintritts- und Ausgangspunkte des Verfahrens. Der "tale" genannte Moderator fungiert als Filter, den Vorschläge für neue Grupen passieren müssen, damit die obligatorische Diskussion über sie als eröffnet gilt. Tale ist es auch, der bei einem positiven Wahlausgang das Verfahren mit einer newgroup-Kontrollmitteilung gewissermaßen besiegelt. Seit 1993 ist mit den Usenet Volunteer Votetakers (UVV) eine intermediäre Gruppe einbezogen, die den Wahlvorgang technisch abwickelt (davor hatten die Proponenten einer Gruppe oft selbst die Wahl durchgeführt) und deren Mitteilungen über den Wahlausgang die Grundlage für die Steuernachrichten Tales bilden. Seit 1996 authentifiziert Tale seine Kontrollmitteilungen mit dem Verschlüsselungsprogramm Pretty Good Privacy (PGP). In neuere Versionen der weitverbreiteten InterNetNews-Software ist - als vorläufig letztes Glied der Handlungskette - eine darauf bezogene Vertrauensbestätigung bereits eingebaut: die News Software "weiß" dadurch, daß sie Steuernachrichten, die den Schlüssel Tales tragen, vertrauen kann und agiert entsprechend.

Angesichts seiner Schlüsselstellung im gesamten Prozeß wird Tale gelegentlich auch "newsgroup tzar" genannt. Seine Position läßt sich jedoch kaum als obligatorisches Verbindungsglied bezeichnen. Generell basieren Anschlußhandlungen innerhalb der Kette nicht auf Hierarchie-, sondern auf Vertrauensbeziehungen. Tale ist nicht mehr als eine Vertrauensperson, ein Individuum, das in seine Funktion weder gewählt noch eingesetzt wurde, allerdings auch nicht abgewählt oder abberufen werden kann. Seine Position hängt davon ab, daß die anderen Komponenten des Netzwerks, von dem er gestützt wird, "bei der Stange bleiben". Tale ist ein Produkt dieses Netzwerks, zu dem die "Guidelines" ebenso gehören wie die "Liste" oder die Votetakers, und gleichzeitig sein Mittelpunkt oder - im Jargon der Aktor-Netzwerk-Theorie - sein Übersetzungszentrum.[26]

5.3 Wandel als Auflösung: "Net-abuse"
  Das Aktor-Netzwerk, das den Namensraum der "Big 8"-Hierarchien reguliert, verfügt über eine Einflußsphäre, die weit weniger als die Hälfte des Usenet ausmacht. Diese Sphäre schrumpft zudem, da die Regularien eine Verlangsamung bei der Einrichtung neuer Gruppen bewirken, während unregulierte Hierarchien demgegenüber schneller wachsen. Andererseits bilden Tale und der assoziierte Prozeß das Modell, an das sich andere Hierarchien mehr oder weniger originaltreu anlehnen.[27] Handelte die vorige Episode davon, wie die Grenzen von Einflußsphären abgesteckt und erweitert werden, geht es nun um die Grenze zwischen Gebrauch und Mißbrauch. "Net-abuse" bildet ein neues umkämpftes Grenzobjekt im Usenet, das mehr konzeptioneller Natur ist und doch ganz handfeste Folgen hat.

Wäre das Usenet eine ideale Welt, würden alle Nutzer sich aktiv und konstruktiv an den Diskussionen in den Newsgruppen beteiligen und die gruppenspezifischen und netzweiten Normen und Konventionen einhalten. Ihre Artikel gelangten nur an relevante Gruppen, begrenzte Ressourcen würden effizient und kooperativ genutzt. Die Wirklichkeit war schon immer anders. Flaming und die Verschwendung von Bandbreite zählten schon immer zu den Verhaltensweisen, die im Usenet als tadelnswert galten (vgl. McLaughlin u.a. 1995, Smith 1995). Kann solchem (Fehl-)Verhalten einzelner Teilnehmer mit Mißachtung oder korrektiven, an das Gemeinschaftsgefühl aller appellierenden Ausgleichshandlungen innerhalb des kommunikativen Geschehens begegnet werden, gilt dies nicht mehr für Akte, die als "net-abuse" bezeichnet werden. Die Einschätzungen darüber, welche Handlungen unter die Kategorie "Netzmißbrauch" fallen und wie angemessene Gegenmaßnahmen aussehen könnten, gehen allerdings im Usenet weit auseinander. Netzmißbrauch bildet ein semantisches und technisches Feld, in dem Handlungsprogramme aufeinandertreffen, die aufgehört haben, in ein gemeinsames Unternehmen der Erhaltung und Rekonstituierung des Kommunikationsraums Usenet verwickelt zu sein.

Ein unerhörtes Ereignis machte "Net-abuse" im April 1994 schlagartig zum netzweiten Thema. Die Rechtsanwälte Canter & Siegel hatten ein und denselben Artikel, in dem sie für die Dienste ihrer Kanzlei warben, an über 6000 Newsgruppen gepostet. Die massiven Reaktionen im Usenet auf diesen eklatanten Verstoß gegen die Netiquette weckte die Aufmerksamkeit der "alten" Medien und verschaffte der Bezeichnung "Spam" für massenhaft unerwünschte Mitteilungen schlagartig eine anhaltende (netz-) öffentliche Prominenz. Innerhalb des Usenet kam ein Prozeß in Gang, der weitreichende Folge nach sich zog. Als eine der Antworten auf den "Green Card"-Spam von Canter & Siegel bildete sich die Newsgruppe alt.current-events.net-abuse. Wurde in dieser Gruppe Netzmißbrauch nur thematisiert, entstand mit den Newsgruppen news.admin.net-abuse.misc und news.admin.net-abuse.announce bald ein Forum, das der Koordination von "spam cancel"-Aktionen diente. Ein Schwellenwert wurde festgesetzt, der einen Artikel unter Absehung seines Inhalts oder Absenders ab einer gewissen Erscheinungshäufigkeit als "Spam" klassifizierte. Wurde der Schwellenwert überschritten, kamen Löschprogramme (Cancelbots) zum Einsatz, die den inkriminierten Artikel durch entsprechende Kontrollmitteilungen an der Weiterverbreitung hindern sollten.

Inzwischen haben sich die news.admin.net-abuse-Gruppen entlang verschiedener Formen des Netzmißbrauchs weiter aufgespalten und die Gegenmaßnahmen vervielfältigt, zum einen in Richtung erweiterter Filtermöglichkeiten, zum anderen in Richtung kollektiver Sanktionen. So kann etwa gegen bestimmte Usenet Sites, die wiederholt als Quelle mißbräuchlichen Verhaltens aufgefallen sind, die "Usenet Death Penalty" verhängt werden. Dabei stellt eine News Administratorin ihren Newsservers so ein, daß sämtliche Mitteilungen dieser Usenet Sites künftig nicht mehr empfangen werden. Die in den news.admin.net-abuse-Gruppen entwickelten Konventionen und Praktiken beruhen auf einem bestimmten Verständnis dessen, was Netzmißbrauch ist, nämlich eine Handlung, die eine große Zahl von Nutzern in ihrem Gebrauch des Usenet beeinträchtigt: "To qualify as true panic-inspiring net-abuse, an act must interfere with the net-use of a large number of people." (Southwick & Falk 1996). Neben der Überflutung von Newsgruppen durch Spam und andere repetitiv auftretende Artikelformationen werden dazu Fälschungen und Zensurversuche gezählt, soweit sie weiträumig oder organisiert auftreten.[28]

Dieser Regulierungsansatz ist nicht unumstritten geblieben. Eine Gegenbewegung focussiert auf die Realisierung "absoluter Redefreiheit" (Hayes 1996a und 1996b). So zielt beispielsweise eine einschlägige Initiative darauf, möglichst viele News Administratoren als "Freedom Knights" zu gewinnen, deren Ehrenkodex u.a. vorschreibt, Löschmitteilungen prinzipiell zu ignorieren und innerhalb jeder Hierarchie auch solche Newsgruppen zu transportieren, die kein Wahlverfahren absolviert haben. Dieses Programm gebietet es, alle newgroup-Kontrollmitteilungen unbesehen ihrer Herkunft auszuführen, und verbietet es, rmgroup-Mitteilungen nachzukommen, die der Streichung von Gruppen dienen. Nach diesem Verständnis sind auch die Steuernachrichten, über die innerhalb der "Big 8"-Hierarchie das Management des Namensraums erfolgt, als "Zensur" zu qualifizieren. Der Maßgabe absoluter Redefreiheit zufolge gibt es keine legitimen Gründe, in den Kommunikationsfluß einzugreifen. Netzmißbrauch betreibt unter dieser Perspektive, wer das Transportsystem des Usenet an seinem "normalen" Funktionieren hindert: "What is net abuse? Any action that stops a properly configured transport system from performing its normal store and forward services." (Hayes 1996a) Unmoderierte Gruppen sind moderierten vorzuziehen und jede Form der Retromoderation, bei der ein Artikel nach seinem Erscheinen von jemand anderen als dem ursprünglichen Absender gelöscht wird, ist grundsätzlich abzulehnen.

Wir haben es hier mit unterschiedlichen, miteinander unvereinbaren Kontrollregimes zu tun, um die nicht nur öffentliche Kontroversen ausgefochten werden. Im Netzgeschehen treffen sie als Programm und Antiprogramm aufeinander.[29] So geht etwa die im letzten Jahr eingeführte Verschlüsselung von newgroup- und rmgroup-Mitteilungen innerhalb der "Big 8"-Hierarchie auf sich häufende Fälle von Fälschungen zurück. Mit ähnlichen und schlimmeren Problemen sah sich allerdings bereits der Vorgänger des heutigen Tale konfrontiert. Das folgende Krisenszenario liest sich aktuell und entwirft doch eine vergangene Zukunft:[30]

There is strife and hostility over when and how to create and delete groups, and the sheer volume of postings is drowning sites. (...) Posters are becoming ruder, maliciousness abounds (...). Cancellation messages are being forged, "rmgroup" messages have been forged, and articles and replies have been directed to the wrong places on purpose. (...) Basically, Usenet is dying.

Im Usenet von heute ist eine vergleichbar fortschreitende Auflösung von Gebrauchsstandards im Konflikt rivalisierender Ordnungsprogramme nicht zu erkennen. Das besagt allerdings für die Zukunft nicht viel, denn: "Network ordering is an uncertain process, not something achieved once and for all." (Law 1994:101)

6 Kommunikationsüberfluß
  "What was surprising was how the success of the net
became indistinguishable from its failure."
Vielmetti 1997

Auf Paul Virilio (1991) geht der Gedanke zurück, daß jede Technik ein spezifisches Akzidens - einen charakteristischen Unfall - produziert, provoziert und programmiert. Mit dem Schiff hat man den Schiffbruch erfunden, mit der Dampfmaschine und mit der Lokomotive die Entgleisung, mit der Autobahn die Massenkarambolage und mit dem Fliegen den Absturz. Das spezifische Akzidienz der Netzkommunikation ist der Kommunikationsüberfluß. Informationsüberflutung im herkömmlichen Verständnis meint eine Situation, in der ein Individuum mehr Reizen ausgesetzt ist, als es verarbeiten kann. Hiltz & Turoff (1985:682) haben vorgeschlagen, im Kontext der Netzkommunikation besser von "informationeller Entropie" (information entropy) zu sprechen. Im Usenet hat sich die Metapher vom zunehmenden Rauschen ("signal-to-noise ratio", Jargon File 1996) eingebürgert, wenn keine sinnvolle Kommunikation mehr möglich scheint, wie etwa bei "Flame Wars", bei denen es nur noch um gegenseitige Aggressionen geht.

Im Lichte der hier vorgenommenen Betrachtungsweise läßt sich informationelle Entropie genauer bestimmen als ein Zustand, bei dem es an den Schnittstellen des Mediums zu einem Ordnungsversagen kommt. Ein Ordnungsversagen tritt dann ein, wenn die gegebenen Regularien der Konfliktlösung bzw. -vermeidung strukturell überfordert sind oder praktisch wirkungslos bleiben. Im Usenet können (mindestens) drei charakteristische Formen einer solchen informationellen Entropie auftreten. An der Schnittstelle zum Nutzer tritt ein Ordnungsversagen ein, wenn die durch den Namen einer Newsgruppe gesetzte, möglicherweise durch die Verwendung eines Filters personalisierte Grenze verletzt wird. An der Schnittstelle zum Administrator läßt sich von einem Ordnungsversagen sprechen, wenn beim Durchfluß der Kommunikationsströme Legitimitäts- und Steuerungsdefizite kumulieren. Ordnungsversagen beim Netz als Ganzem droht, wenn die Transportkapazitäten angesichts des zunehmenden Volumens der News überfordert sind. Dabei, und dies ist ein durchaus kurioses Faktum, stellt Wachstum keineswegs nur ein Problem dar, sondern wirkt vielmehr selbst als ein Modus des Ordnens. Das Netz operiert von Anfang an am Rande der verfügbaren Kapazitäten. Panik in der Welt des Usenet ist, so scheint es, eine ganz normale Begleiterscheinung informationeller Entropie:

Imminent Death of the Net Predicted! - Film at 11.

Literatur
  Akrich, Madeleine, 1992, "The De-scription of Technical Objects", in: Shaping Technology/Building Society. Studies in Sociotechnical Change, hg. von W. E. Bijker & J. Law. Cambridge, MA: MIT Press, 205-240.

Akrich, Madeleine & Latour, Bruno, 1992, "A Summary of a Convenient Vocabulary for the Semiotics of Human and Nonhuman Assemblies", in: Shaping Technology/Building Society. Studies in Sociotechnical Change, hg. von W. E. Bijker & J. Law. Cambridge, MA: MIT Press, 159-264.

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[Virilio] 1991, "Technik und Fragmentierung. Paul Virilio im Gespräch mit Sylvère Lotringer", in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von K. Bark u.a. Leipzig: Reclam, 72-82.

Fußnoten
  [1] Der vorliegende Text entstand im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projekts "Interaktionsraum Internet. Netzkultur und Netzwerkorganisation in offenen Datennetzen" (Helmers u.a. 1996). Es handelt sich um eine leicht überarbeitete Version von Hoffmann 1997.

[2] "Usenet is a network of systems that use the freely available Netnews software to exchange news." (O'Reilly & Todino 1994: 145)

[3] Eine Zusammenstellung von Literatur zum Usenet findet sich im Usenet Diner der Projektgruppe Kulturraum Internet (http://duplox.wzb.eu/diner/).

[4] Vgl. die konzeptionellen Überlegungen von Kubicek u.a. (1997) zur Spezifik medienkultureller Innovationen, die gleichermaßen auf Technikforschung, Kommunikationswissenschaft und Institutionentheorie rekurrieren.

[5] Zu den untersuchten Newsgruppen zählen alt.good.morning, alt.folklore.urban, rec.arts.tv-soaps, rec.games.chess sowie soc.motss (motss für "members of the same sex").

[6] Als Überblick über Konzepte und Entwicklung der aus der Wissenschafts- und Technikforschung stammenden, inzwischen in vielen Feldern eingesetzen "Aktor-Netzwerk-Theorie" (ANT) siehe Law 1992 und 1997. Eine gute Zusammenschau theoretischer und empirischer Arbeiten bietet die nur on-line verfügbare Actor Network Ressource (1997).

[7] Bisherigen Erkenntnissen zufolge steuert nur eine Minderheit der Teilnehmer eigene Beiträge bei. Die Mehrheit, im Usenet etwas abschätzig "Lurker" genannt, liest ausschließlich die Artikel anderer. Smith (1997) ermittelte bei einer Totalerhebung der an der University of California Los Angeles geführten über 12.000 Newsgruppen, daß innerhalb des zehnwöchigen Untersuchungszeitraums (November 1996 bis Januar 1997) 531.461 Teilnehmer (96%) bis zu 30 Mitteilungen, 235.578 Teilnehmer (42%) nur eine Mitteilung und 2500 Teilnehmer (0,04%) mehr als 200 Artikel posteten. MacKinnon (1995:117) zufolge posten "aktive" Nutzer bis zu 50 Artikel pro Woche. Eine Auswertung des Traffic von 232 Gruppen im Zeitraum von Ende Oktober 1984 bis Angang November 1985 ergab, daß der "durchschnittliche" Nutzer in zwei Wochen sechs Artikel gepostet hat (From: Herbert A. Chong, To: usenet-II@gatech.CSNET, Subject: here and there, this and that, Date: 21 Mar 1986 11:28:23-EST)

[8] Posting an die usenet.history Mailing-Liste, zit. nach Pfaffenberger 1996: 369.

[9] Der verwendete Artikel wurde tatsächlich in der Gruppe rec.pets.cats gepostet. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden die Namen und Internetadressen geändert.

[10] Der Header verzeichnet, über welche Stationen der Artikel vom Sender zur Leserin gelangt ist (path); an erster Stelle steht dabei stets die letzte Station des Weges, der Ausgangs-Server steht am Zeilenende. Die Message-ID weist dem Artikel eine eindeutige Kennnummer zu. Die References-Zeile verweist auf diejenigen Artikel, auf die sich das aktuelle Posting bezieht. Unter NNTP-Posting-Host ist der Name des Rechners zu erfahren, von dem aus der Artikel verbreitet wurde. Die (fakultative) X-Newsreader-Zeile gibt an, mit welchem Newsreader-Programm der Artikel gepostet wurde.

[11] Voreinstellung ist dabei das gesamte Usenet (Distribution: world), möglich ist jedoch auch die Wahl eines geographisch oder organisational eingeschränkten Verteilungsgebiets. In der Praxis ignorieren viele Sites die Distribution-Angaben: "Distributions must be considered largely useless." (Spencer 1994, Kap. 6.7 Distribution). Das Distribution-Konzept gilt als "broken as designed" (BAD).

[12] Anders als die netzweit standardisierte Schreibweise von Newsgruppennamen folgt ihre Aussprache international unterschiedlichen Konventionen. Beipielsweise wird im Deutschen der Punkt nicht mitgesprochen, im Englischen dagegen wohl. Entsprechend wird unsere Beispiel-Newsgruppe in der mündlichen Kommunikation dort "rec(dot)pets(dot)cats" genannt.

[13] Das drückt sich in gelegentlichen Namenskonflikten bei der Einrichtung von Newsgruppen aus. Diese Konflikte gewinnen zusätzlich eine symbolische Dimension, wenn realweltliche Grenzlinien hineinspielen, was vor allem in der soc.culture.* Hierarchie häufig der Fall ist. So wurde beispielsweise in den Debatten um die vorgeschlagene Gruppe soc.culture.indian.jammu-kaschmir eine im Namen mittransportierte politische "Unterordnung" der in Teilen auch Pakistan zugehörigen Kaschmir-Region unter Indien kritisiert. Dem wurde entgegengehalten, daß sich die Gruppe mit der indischen Kultur in Kaschmir befassen solle.

[14] Die einander ablösenden Versionen der Übertragungs-Software sind A News, B News, C News und - als heutiger "Stand der Technik" - InterNet News (INN). Zur Entwicklung der Usenet Software vgl. Moraes 1997.

[15] Auf die Usenetökonomie kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur so viel: War das Usenet lange Zeit in den USA eine "Gesellschaft ohne Geld", insofern bei der Übertragung der News zwischen den Usenet Sites mit Ausnahme der Telefongebühren keine Kosten anfielen, gibt es dort heute eine Reihe kommerzieller Provider, die Newsfeeds anbieten. Der erste und heute einer der größten Provider ist die 1987 gegründete Firma UUNET, die gleichzeitig auch der erste kommerzielle Internet Service Provider ist. In Deutschland konnten Newsfeeds lange Zeit nur von einer kleinen Gruppe von Anbietern (DFN, EUNET, X-Link) und gegen Entgeld bezogen werden.

[16] Vgl. die umfangreiche Liste regelmäßig geposteter Texte ("List of Periodic Postings") in der Newsgruppe news.answers. Zunehmend gewinnt auch das WWW Bedeutung als Repositorium "nützlichen" Wissens. Adressiert werden dabei keineswegs nur mehr Erstanwender, sondern auch Provider und Entwickler, wie etwa beim Usenet Rapid Knowledge Transfer (http://www.mibsoftware.com/userkt/userkt.html).

[17] http://www.uu.net/news.htm. Mit dem Usenet Storage Space Calculator (http://www.netpart.com/ free97/usenet.html) läßt sich der Speicherbedarf für unterschiedliche Kombinationen eines Newsfeeds (allerdings nicht mehr ganz aktuell) ermitteln. Einzelne Administratoren veröffentlichen tagesaktuelle Statistiken zu ihrem Newsfeed im WWW (siehe z.B. http://www.lf.net/stats/usenet/usenet.html).

[18] Master List of Usenet Hierarchies v4.16 (news.groups)

[19] Im Usenet wurden von Anfang an Instrumente der quantitativen Selbstbeobachtung verwendet. Der viele Jahre regelmäßig erscheinende Usenet Readership Summery Report, bei dem die Daten ausgewählter Usenet Sites kummuliert und hochgerechnet wurden, wurde 1995 eingestellt. Die in der Übersicht zusammengestellten Angaben entstammen folgenden Quellen: 1979-1988 (Hauben & Hauben 1997); 1992-1994 (Hobbes' Internet Timeline v2.5); 1995 (http://www.tlsoft.com/arbitron/ jul95/arbitron.summary.txt).

[20] Einer Analyse aus dem Jahr 1991 zufolge waren von den 1000 Top Usenet Sites 58% in den USA, 8% in der Bundesrepublik Deutschland, 6% in Kanada und je 2% in England, Japan und Australien beheimatet (Vielmetti 1997). 14% der Sites konzentrierten sich allein auf Kalifornien.

[21] Laut Rheingold (1993:121) hat diese Beschleunigung das Usenet vom Korrespondenz- in ein Konversationsmedium verwandelt.

[22] "Use of retroactive content based cancels without wide support can often lead to meta-discussions about cancels, which is worse for the signal/noise ratio than the cancelled posts." (McKeon 1997)

[23] "The results of a ,versions` control message (...) show that over 50% of the sites are running 2.11 (...). This should be enough to remove any technical problems. We need to either do it now or admit that we are never going to do it. People are getting confused over group names, etc." (From: rick@seismo.css.gov (Rick Adams); To: Backbone@cbosgd.uucp; Subject: newsgroup renaming; Date: Wed, 18 Feb 1987 19:18:01 EST)

[24] Zum Konzept des obligatorischen Verbindungsglieds ("obligatory point of passage") vgl. Law & Callon 1992.

[25] nethist.101090 (ftp://weber.ucsd.edu/pub/usenet.hist)

[26] Zum Konzept des Übersetzungszentrums ("center of translation") vgl. Latour 1990.

[27] Dem Modell der "Big 8" folgt beispielsweise auch das DE-Usenet (vgl. Donnerhacke 1996).

[28] Ein Beispiel wäre etwa eine "Haßattacke" von Cancelbots, bei der im September 1996 mehr als 27.000 Artikel bestimmter Newsgruppen gelöscht wurden (vgl. O'Connor 1996).

[29] Zum Konzept von Handlungsprogramm/Antiprogramm oder script/counterscript vgl. Akrich 1992 und Akrich & Latour 1992. Was Programm oder Antiprogramm ist, ist eine Frage der Beobachterperspektive.

[30] From: Gene Spafford; To: usenet-II; Subject: Administrivia; Date: Sun, 10 Nov 85 13:36:22 EST

 

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