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Die erträgliche Leichtigkeit des Seins
Subjektivität und Sozialität in der Netzwelt

  Subjektorientierte Soziologie. Karl Martin Bolte zum 70. Geburtstag, hg. von G. G. Voß & H. J. Pongratz. Leverkusen: Leske + Budrich, S. 95-125. 1997.

Ute Hoffmann , 6/97

  Sprungbrett
  Zusammenfassung
1  Der Unterschied, der eine Umgebung schafft
2  Problemhorizont
2.1  Der Computer als Medium
2.2  Entmaterialisierung
2.3  Globalisierung
2.4  Verschiebungen
3  Stimmen aus der Netzwelt
3.1  Der Psychiater in Frauenkleidern
3.2  Mr Bot und Ms Bot
3.3  Der elektronische Flaneur
3.4  Konzepte von Identität und Sozialität
4  Liminal Moments
  Literatur
  Fußnoten

 

 
Zusammenfassung
 

Elektronische Datennetze erreichen und durchdringen den Alltag von immer mehr Menschen.Netzkommunikation bildet ein mediengeschichtliches Novum, das im Internet eine anschauliche Gestalt gewonnen hat. Mit der informationstechnischen Vernetzung erschließt sich ein neuesZimmer der Realität. Die Konstitution der Netzwelt als wissenschaftliches Objekt ist eingebettet in einen mentalen Raum. Der Computer alsMedium, Entmaterialisierung und Globalisierung spielen dabei als Denkfiguren eine einflußreiche Rolle. Vor diesemHintergrund führt ein Streifzug durch die virtuelle Welt der Datenräume zur Begegnung mit ausgewählten Netzexistenzen zwischenSchwebemächtigkeit und Sturzgefährdung.

1 Der Unterschied, der eine Umgebung schafft
 

"Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde,
desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, daß der Mensch (...)
sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist
und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte? (...)
Das ist die Frage. Sicher ist nur eins: der Gegensatz von leicht und schwer ist dergeheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze."

Milan Kundera, von dem diese Worte stammen, benutzt die Schwere als Metapher für das Drama eines menschlichen Lebens (Kundera 1987: 9). Das Drama des Schweren sei dem des Leichten vorzuziehen. Auf wen keine Lastgefallen ist, auf den fällt "die unerträgliche Leichtigkeit des Seins". An anderer Stelle des gleichnamigen Romansheißt es, es wäre töricht, wenn ein Autor dem Leser einreden wollte, seine Personen hätten tatsächlich gelebt; Romanfiguren werden aus Sätzen und Situationen geboren. Darauf anspielend betitelt der InformatikerFrieder Nake ein Buch über die Semiotisierung von Welt "Die erträgliche Leichtigkeit derZeichen". In der Literatur und Kunst finde sich gedanklich und gestaltet all das vorbereitet, was aktuell in Computerprogrammenkonstruktive Form annimmt. "Im Computer werden Zeichen exekutierbar, (...) gewinnen eine eigeneRealität." (Nake 1993: 14).

Zwischen der erdenschweren Wirklichkeit und der Eigenrealität der Zeichen liegt die virtuelle Welt elektronischer Netze. Virtualisierung ist in den letzten Jahren zu einemprominenten Element der Gegenwartssymptomatologie geworden. Nach anfänglichem Zögern nehmen sich zunehmend auch diehiesigen Sozialwissenschaften dieses Themas an. Titel wie Datenreisende (Wetzstein u.a. 1995), Die Netzrevolution (Rost1996), Soziologie des Internet (Graef/Krajewski 1997), Mythos Internet (Münker/Roesler 1997) oder Virtualisierung des Sozialen (Becker/Paetau 1997) künden vom Aufstieg virtueller Sozialität zu einem neuenParadigma. Der vorliegende Text erinnert im folgenden zunächst an einige Denkfiguren, die bei der Konstitution der neuen Kommunikationsnetze als wissenschaftlichem Objekt vonBedeutung sind (Problemhorizont). Danach begeben wir uns auf einen Streifzug durchs Innere der Netzwelt und betrachten einige ihrer Bewohner beim Spielmit der Identität (Stimmen aus dem Netz). Dabei verdichtet sich der Eindruck, daß diese Netzexistenzenkeineswegs "nur noch zur Hälfte wirklich" sind. Abschließend stehen mögliche Zukünfte imVerhältnis von Netz- und Realwelt zur Debatte (Liminal Moments).

2 Problemhorizont
 

Die Aktualität der Netze signalisiert eine grundlegende und weitreichende Veränderunggesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse. In der Selbstbeschreibung industrieller Gesellschaften fungiert Vernetzung als mediale Basis einerheraufziehenden globalen Informations- oder Wissensgesellschaft. Für viele ist das Internet das derzeit wichtigsteSymbol der "digitalen Revolution". Das Netz, das lange Jahre eine Welt für sich gebildet hat, ist in den letzten Jahren insBewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt und - buchstäblich - zum Gemeinplatz geworden.Veralltäglichung und Verwissenschaftlichung arbeiten gleichermaßen mit an einer sich abzeichnenden Naturalisierung der Netzwelt. Daher mag es hilfreich sein, sich das Fundament, auf demsie ruht, in Erinnerung zu rufen. Dieses Fundament verdankt sich dem Wechselspiel von technischem Projekt und kulturellem Entwurf. Der im technisch mediatisierten Handeln erzeugte soziale Raum ist eingebettet in einen mentalen Raum. In derVermittlung von Sach- und Sinnaspekt spielen (mindestens) drei Denkfiguren eine einflußreiche Rolle: der Computer als Medium, Entmaterialisierung und Globalisierung.

2.1 Der Computer als Medium
 

Im Jahr 1996 wurden in Deutschland erstmals mehr Computer als Fernseher verkauft. Diese eherbeiläufige Zeitungsmeldung läßt sich als ein weiteres Indiz dafür lesen, daß der Computer zunehmend dieherkömmlichen Massenmedien überflügelt. Die steigende Bedeutung des Computers als technisches Vermittlungsmedium kommtjedoch vor allem im Wachstum des Internet zum Ausdruck. Das Netz umspannt gegenwärtig (= Juni 1997) mehr als 170 Länder (Landweber 1997). Die Zahl der an das Internet angeschlossenen Rechner war Anfang 1997 weltweit auf über 16 Mio. angestiegen (Network Wizards o.J.). Das Begehren, angeschlossen zu sein, ist ungebrochen. Online Dienste undInternet Service Provider verzeichnen einen ungeahnten Aufschwung ihrer Teilnehmerzahlen. Zur Jahrtausendwende wird mitüber 140 Mio. Internetnutzern gerechnet (OECD 1997: 1).

Das rasante Wachstum des Internet verdankt sich zu einem gewissen Teil industriepolitisch motivierten Initiativen zum Auf-und Ausbau von Informationsinfrastrukturen, die das Netz als Prototyp einer globalen Datenautobahn popularisierten(Canzler/Helmers/Hoffmann 1997). Umgekehrt lieferte das Netz eine nicht unwichtige Quelle der Inspiration - und ein Verstärkermedium -im Hinblick auf das Bild, das die Visionäre und Architekten der neu entstehenden Netzwelt von dieser zeichneten: dezentral, interaktiv, multimedial undtransnational.

Der Erfolg des Internet und der politische Schub in Richtung Inforamtionsgesellschaft bilden dieäußere Seite eines folgenreichen Leitbildwechsels in der Wahrnehmung und Nutzung des Computers. Die Aktualität der Netze ist - auch - Ausdruck einer "Metamorphose des Computers" (Schelhowe 1997), die innerhalbder Computerwissenschaften, der Verwendungskontexte der Computertechnik wie der Technikforschung zu beobachten ist. Indem die mediale Seite des Computers gegenübervorgängigen Sichtweisen des Computers als Werkzeug oder als Maschine hervortritt, erweitert sich zugleich der Kreis derVorstellungen davon, was ein Medium ist. Interaktivität ist dabei das Schlüsselkonzept: die (netz-)technischvermittelte Befähigung von sozialen Akteuren, aufeinander einzuwirken. Netzkommunikation läßt sich als ortsunabhängigeInteraktion charakterisieren, die synchrone und asynchrone Formen, textbasierte, visuelle und taktile Varianten umfaßt.Das Neue an der "telematischen Interaktivität" (Esposito 1995) läßt sich durch wenigstens drei miteinanderzusammenhängende Phänomene beschreiben:

(1) Netzkommunikation ist das Produkt einer Hybridisierung. Ihre Medialität ist durch die mehrfache Kreuzung konventionalisierter Formen der Individual-, Gruppen- und Massenkommunikation bestimmt.Der Modus der Kommunikation erinnert gleichermaßen an orale und literale Formen, an das Gespräch unter Anwesenden wie an Geschriebenes und Gedrucktes. Netzkommunikation vereint die Anmutung von dichten Kontexteneinfacher Interaktion mit der virtuellen Gegenwart eines zerstreuten und anonymen Publikums.

(2) Die Verbindungsmöglichkeiten unter den Teilnehmern erreichen die Größenordnung einer"Superkonnektivität" (Hiltz & Turoff 1985: 688). Die Zahl der innerhalb des gemeinsamen Interaktionsraums erreichbaren Kommunikationspartner wächst rasant. Bei gleichzeitiger Entterritorialisierung des Austauschs entsteht ein öffentlicher Raum mit potentiell hoher sozialer Dichte.

(3) Mit der Netzkommunikation haben sich nicht nur neue Symbolisierungen entwickelt wie etwa die Smilies in dertext-basierten Kommunikation, die das Fehlen parakommunikativer Aspekte (Tonfall, Gestik, Mimik etc.) ausgleichen sollen.In die mediale Nutzung des Computers spielt entscheidend hinein, daß er ein "programmierbares Medium" (Coy 1994), bzw.ein "instrumentales Medium" (Schelhowe & Nake 1994) ist. Das bedeutet u.a., daß sich ein Möglichkeitsraum symbolischer Tätigkeit eröffnet, in dem das Zeichenmaterial über die Interaktion zwischen denTeilnehmern hinaus auch für die Interaktion der Teilnehmer mit Sachstrukturen und technischen Prozessen genutzt werdenkann. Zum herkömmlichen, auf die Kommunikation von Inhalten bezogenen Text tritt der operative Text.

Es kommt einerseits in der Netzkommunikation durch die "Mediatisierung von Orten derAnwesenheit" (Grassmuck 1995: 54) zu einer Annäherungen an Situationen der Kopräsenz: die Teilnehmerentwickeln ein Gefühl von "Anwesenheit". Andererseits begünstigt die Künstlichkeit der Kommunikationsbedingungen"bislang undenkbare Sprechakte" (Raulet 1988). Die Netzkommunikation entzieht sich dem anthropomorphen Modell situierten Verständigungshandelns; was im Medium des Computers geschieht, ist adäquat nicht allein im kategorialen Rahmen von Erfahrungen zwischenmenschlicher Interaktion zu beschreiben (Krämer 1997).

2.2 Entmaterialisierung
 

"The central event of the 20th century is the overthrow of matter." Mit diesemSatz beginnt ein von breiter Resonanz gezeichnetes Manifest (Magna Carta 1994) über den Cyberspace und den amerikanischen Traum.[1]"Delokalisierung und Dematerialisierung" (Raulet 1988: 285ff.), "Entdinglichung"(Faßler 1993: 113f.) sind Assoziationen, die die Vernetzung stereotyp begleiten: in der Vernetzung lösen sich dieterritorialen Dimensionen von Orten und die Festigkeit der (sozialen) Welt auf. Der Sturz der Materie, Bilder derEntsubstantialisierung, Auflösung und Virtualisierung, des Leichtwerdens und Verschwindens, kurz: Bebilderungen einer fortschreitendentmaterialisierten Welt sind in wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Deutungen der Moderne eine häufige (und keineswegs eine neue) Erscheinung. Der Glaube an eine "schwindende Stabilität derWirklichkeit" (Gumbrecht 1986) ist zu einer mächtigen Metapher avanciert. Das Motiv voneiner "Gesellschaft des Verschwindens" (Breuer 1992) hat seit geraumer Zeit in den unterschiedlichsten Kontexten vonden Öko-Wissenschaften bis zur Gesellschaftstheorie Virulenz und Popularität gewonnen.[2]

Die Denkfigur der Entmaterialisierung umfaßt eine Metaphorik des Verschwindens in mehrfachemSinne (vgl. Schulz 1992/93): Entmaterialisierung als vernichtet oder verzehrt werden, als außer Gebrauch kommen oder als unsichtbar werden. Die verschiedenen Schwundformen können sowohl auf der Realitätsebeneder Weltbilder (= Realitätsauffassungen) als auch auf der Kognitionsebene der Denkformen (= Erkenntnisstile) angesiedelt sein oder, beide Ebenenbetreffend, auf der Repräsentationsebene der Wiedergabetechniken (= Darstellungsformen). In letzter Konsequenzschwindet gemäß der Entmaterialisierungsthese die Differenz zwischen Bild und Realität, Schein und Sein.

Von einer fundamentalen Veränderung in der Darstellungsordnung von Wirklichkeit sprechen vorallem die Simulationstheoretiker, an prominenter Stelle Jean Baudrillard (1978). Die epochalen Darstellungsordnungen, diedas Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Bilderwelt, Realien und Zeichenordnung einer bestimmten Zeit und Gesellschaftsformationdefinieren, nennt Baudrillard "Simulacrum". Den unserem vom Code beherrschten Zeitalter eigenen special effect nennt er Ordnung der Simulation, da hier eine Substituierung der Realia durch Zeichen des Realen stattfinde. Baudrillard (1989: 117) sprach auch vom Aufkommen des "fraktalen Subjekts", das sich immer mehr der Oberfläche des Bildschirms nähere, um sich schließlich im Bild zu zerstreuen.[3] Die Simulationstheorie spitzt, gestützt auf den Fernseher als Simulationsagent, die kommunikative Dominanz technisch geschaffener Bilder zu endgeschichtlichen Aussagen zu. Sie verfehlt den Computer als Kommunikationsmedium. Mit der informationstechnischen Vernetzung eröffnet sich hinter dem Bildschirm gewissermaßen ein neues Zimmer der Realität, eine neuartige Zone des Bewohnbaren:"Inside the little box are other people." (Stone 1995: 16)

2.3 Globalisierung
 

Die Beschleunigung der Kommunikation in Datennetzen hebt die Bedeutung von Örtlichkeiten undDistanzen auf und ebnet das Terrain für eine elektronische Weltgesellschaft. Die Vorstellung von einer fortscheitenden Globalisierung haftet, vielleichtstärker noch als der Bildkomplex der Entmaterialisierung, den neuen Kommunikationsnetzen an - als Vorraussetzung, Begleiterscheinung oder Folge. In der globalen Netzwelt erlebt - wie in der Entmaterialisierung - einer Denkfigur eineNeuauflage, die bereits eine Geschichte hat. Mentalitätsgeschichtlich knüpft sie an die Entdeckung der Erde im Zuge der Weltraumfahrt an. Das Icon der Erde, mit dem die Datenreisende perMausklick im World Wide Web navigiert, verweist auf die Ikone des blauen Planeten.

Das Bild vom blauen Planeten ist weit davon entfernt, einfach ein Stück Abbild der Wirklichkeitzu sein - es ist ein technogener Mythos. Erst mit der Mondfahrt von 1969 rückte die gesamte Erde in den Kreis dersichtbaren Dinge ein. "Da liegt also die Weltkugel vor unseren Augen - nicht der Weltraum, nicht der Mond, sie war dasgroße Erlebnis des Fluges." (Anders 1994: 59). Das Bild vom Blauen Planeten schafft eine neue Wirklichkeit, die die Wissenschaft mit neuen Wissensobjekten überbauen konnte (Sachs 1994). In der Selbstbegegnung der Erde aus der Weltraumperspektive wandelte sich der Begriff der Biosphäre zur Chiffre für die Globalität des Lebens, die einen kaum zu überschätzenden Effekt auf dieÖkologiebewegung ebenso wie auf die Forschung zu Naturphänomenen hatte.

Der millionenfach auf Postkarten und Plakaten reproduzierte Blick aus dem All demonstrierte dieRealität der Erde. "Damit ist die Basis für viele zeitgenössische Varianten globalen Bewußtseinsgeschaffen." (Sachs 1994: 314) Die Bilder aus dem All inkorporieren Distanz, die Erde wurde zu einem Gegenstand. Globalisierung aus der Weltraumperspektive realisiert sich als Gesamtschau simultaner Interaktionen in einem Netz von weiträumigen Beziehungen. Mit dem Auftauchen der Netzwelt verschiebt sich die Draufsicht zur Binnensicht, der Beobachter wandeltsich zum Teilnehmer.

2.4 Verschiebungen
 

Das Netz erschließt uns eine neue Welt. Mit der Netzwelt tritt ein medientechnisches undgesellschaftliches Novum auf den Plan, das auf vielfältige Weise mit dem Bestehenden verbunden ist. Zu den Schauplätzen dieser Verbundenheit zählt der figurative Diskurs. Entmaterialisierung und Globalisierung sind nur zwei,allerdings zentrale Beispiele dafür, wie das Neue einerseits mentalitätsgeschichtlich an Bestände des kulturellenGedächtnises anknüpft und wie dieses Bestände dadurch andererseits in einem neuen Licht erscheinen.[4] Das gilt auch für die Bilder der Datenautobahn und des Cyberspace, die zwei rivalisierende Modelle der mentalen Aneignung des Neuenrepräsentieren. Finden die elektronischen Netze über die Metapher der Datenautobahn Anschluß an dasTransportmodell von Kommunikation der alten (Massen-)Medien, suggeriert die Welt des Cyberspace gleichzeitig eine Neuauflage altbekannterGründungsmythen ("the next/last frontier") und einen epochalen Bruch. Zeigte sich in derpolitischen Diskussion anfänglich die mobilisierende Kraft des Information Superhighway, könnte sich der Cyberspace auf lange Sicht als dasnachhaltigere Leitbild erweisen.

Im Wechsel zum Cyberspace ist die gewohnte Ordnung der Dinge zur Reorganisation freigegeben.Cyberlaw, das digitale Geld, die virtuelle Organisation verheißen mehr als nur die elektronische Version ihrerrealweltlichen Vorlage, ohne daß sie freilich schon greifbare Gestalt und stabile Formen angenommen hätten.[5] Ein Internet-Jahr, heißt es, ist wie zehnMenschenjahre. Hervorstechendes Merkmal der real-existierenden Netzwelt ist bislang vor allem ihre ständige Veränderung und Erweiterung. Daher, so Stefan Münker (1997: 123) in Anlehung an Philippe Quéau, läßt sich die Weltder virtuellen Datenräume am besten verstehen als "ein Ensemble von Verschiebungen".

In Bewegung geraten ist auch die Ordnung der wissenschaftlichen Spezialitäten. So hat sich mitder Computer-Mediated Communication (CMC) im letzten Jahrzehnt ein eigenständiges, stetig expandierendes Forschungsfeld etabliert (http://www.uni-koeln.de/themen/cmc/). Die Netzkommunikation istzum Schnitt- und Begegnungsfeld zwischen Medien- und Technikforschung geworden.[6] Die empirische Exploration derNetzkultur(en) ist primär das Werk von Ethnologinnen (vgl. beispielsweise Helmers 1994, Reid 1991 und 1994), begriffliche Anstrengungen sind allemAnschein nach vor allem Sache von PhilosophInnen (vgl. beispielsweise die Beiträge in Münker & Roesler 1997). Nachihrem verspäteten Aufbruch in die Netzgesellschaft faßt auch die Soziologie langsam Fuß im Internet.[7]

Offen ist bei diesem Aufbruch, ob und zu welchen Verschiebungen in der Konzeption des Sozialen esbei der soziologischen Inspektion der Netzwelt kommt. Könnten die anstehenden Reflexionen über den flukturierenden Charakter ihrer Gegenstände womöglich zur Ausbildung einer anderen Art von Sozialforschungermuntern? Heinz Bude (1991) weist - in anderem Zusammenhang - eine mögliche Richtung. Im Fortgang der soziologischen Theorie nach Durkheim registriert er zunächst eine Bewegung derEntsubstantialisierung und der Entsubjektivierung, an welche sich eine Bewegung der Entstrukturalisierung undEnttotalisierung anschließe. Die "soziologische Optik" sei gut beraten, sich heute auf punktuelle und flüchtige Beziehungen als ihren Gegenstand einzustellen, auf partielle und mobile, anstatt auf globale und stabileIntegrationen; der Soziologe wandele sich vom Spezialisten für das Generelle und Ganze zum Beobachter, der sich auf das Minimale und Differente konzentriere. Bude wirbt für eine"bildende Soziologie", deren Methoden sich an die Techniken der kulturellen Moderne, wie sie etwa in der atonalen Musik oder im Surrealismus entwickelt worden sind, anlehnen.

Verschiebungen ergeben sich auch in den Ansatzpunkten von Kritik. HerkömmlicheGesellschaftskritik zielt auf die Verfassung des Ganzen; der sog. Netzkritik geht es um die "produktiveNegativität" (Lovink/Schultz 1997: 340) im doppelten Sinn einer Entsorgung obsoleter Theorieobjekt und der Negation bestehender Netzmythen. In der experimentellen Auseinandersetzung mit den medialen Möglichkeiten der Netze und in der Bildung unabhängiger Medienverbünde ist Netzkritik ein eminent praktisches Unternehmen, ohne affirmativ zu sein.[8] Aus einer Verlustperspektive führt der Mangel an Leiblichkeit, einem ungeteilten, leiblichen Hier und Jetzt, in der elektronischen Interaktion scheinbar unaufhaltsam zu einer Abkehr vom menschlichen Maß (Kaltenborn/Mettler-v.Meibom 1996). Aus dieser Perspektive erhält die "unendliche Leichtigkeit der Netzkritik" (Lovink/Schultz 1997: 342) fast einen Anstrich von Frivolität. Womöglich führt jedoch gerade die Auseinandersetzung mit der Materialität der Kommunikation zur Wiederentdeckung von Gewicht undReferenz. Denn in der Netzkommunikation wird die Abwesenheit des leiblichen Körpers unübersehbar als Darstellungsproblem zum Inhalt. Zeichnet sich aus der Ferne die Aufhebung der Schwere als Tragödie ab,verwandelt sie sich aus der Nähe betrachtet in eine Kommödie.

3 Stimmen aus der Netzwelt
 

"On the Internet nobody knows you`re a dog." Peter Steiner bringt inseinem im Sommer 1993 im New Yorker erschienenen und später berühmt gewordenen Cartoon ein markantes Charakteristikum der Netzwelt auf den Punkt: den Verlust verläßlicherDifferenzerfahrungen. Gewohnte Insignien personaler und sozialer Identität fehlen. Zu welchen Verwicklungen diesführen kann zeigt der folgende Streifzug durch die Netzwelt.

3.1 Der Psychiater in Frauenkleidern
 

Im Frühjahr 1982 eröffnet der New Yorker Psychiater Stanford Lewin bei CompuServe, einem kurzzuvor gegr[[cedilla]]ndeten kommerziellen Online-Dienst, einen Account. Zu den dort angebotenen Diensten gehörte auch die CB Chat Line, ein Mehrpersonen-Konversationsprogramm. Die Kommunikation über solch einen rund um die Uhrgeöffneten Chat-Kanal ist wie beim Telefonieren synchron, allerdings können sich die NutzerInnen nur in Schriftformverständigen. Alle Eingaben, die eine Teilnehmerin am heimischen Computer tätigt, erscheinen umgehend auf dem Bildschirmaller anderen.

Es ist üblich, daß sich die Teilnehmer solcher Online-Konferenzen einen Spitznamen geben, derin einer mehr oder weniger engen Beziehung zu ihrer realweltlichen Identität steht. Eine Überprüfung, wer sich hinter dem Spitznamen verbirgt, anhand gewohnter visueller (Handschrift), optischer (Aussehen) undakustischer (Aussprache) Eigenheiten ist in dieser rein text-basierten Kommunikationsform unmöglich. Stanford Lewin gibt sich, wie andere Nutzer auch, einen Spitznamen, der einen bestimmten Aspekt seiner Person inden Vordergrund stellt. Mit Blick auf seine Profession nennt er sich "Doctor". Daß dies eine geschlechtsneutrale Bezeichnung war, realisiert er erst nach einiger Zeit, als er sich über die Intensität und Offenheit der Gespräche im Netz zu wundern beginnt. Schließlich wird ihm klar, daß er von den anderen für eine Frau gehalten wird.

Die Aussicht, online seine therapeutische Arbeit durch eine Tarnung erweitern zu können,beflügelt ihn. Unter dem Namen Julie Graham eröffnet er einen zweiten Account. Lewin gibt seinem Alter Ego einesorgfältig konstruierte Persönlichkeit. Er präsentiert sie als Neuropsychologin, die - durch einen Autounfall im Gesicht entstellt undbehindert - erst durch die Netzkommunikation wieder zu einem erfüllten sozialen Leben findet. Julie wird im Lauf der Zeit immer aktiver. Auf ihre Initiative hin bilden sich eigeneFrauen-Diskussionsgruppen, in denen sie als gute Freundin und Ratgeberin geschätzt wird. Gelegentlich warnt sie vorMännern, die sich als Frauen ausgeben: "Remember to be careful. Things may not be as they seem." (Stone1995: 72)

Als Julie eines Tages bekanntgibt, sie werde heiraten, werden die ersten ihrer Netzfreundinnen und-freunde mißtrauisch. Das alles sei zu schön, um wahr zu sein. Niemand jedoch vermutet in ihr einen Hochstapler.Lewin wächst die ganze Geschichte allmählich über den Kopf. Er sinnt nach einer einfachen Lösung: Julie sollte sterben.Er tritt mit einem dritten Account als John, Julies Mann, auf und berichtet von einer ernsthaften Erkrankung Julies. Überschwemmt von einer Woge des Mitgefühls und gerührt durch die zahlreichen Hilfsangebote verläßt ihn dieCourage und er macht einen Rückzieher: Julie wird wieder gesund. Bald darauf führt Julie einen neuen Freund mit Namen Stanford Lewin in die Chat-Line ein. Nachdem Lewin als er selbst einigeBekanntschaften geschlossen hat und sich sicher genug fühlt, offenbart er sich.

Die Geschichte vom "Psychiater in Frauenkleidern" (cross-dressingpsychiatrist) beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit, die seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Versionen kolportiert wird. In der von Stone (1995: 65-81) stilisierten, hier gerafft wiedergegebenen Darstellung liegt den Akzent auf denVerwicklungen, die sich daraus ergeben, daß in der Immaterialität der Netzkommunikation nicht Personen interagieren,sondern Personae, Chiffrenexistenzen: mit selbstgeschaffenen Namen gekennzeichnete "künstlicheIdentitäten" (Krämer 1997: 96).[9] In der telematischen Interaktivität macht das in einembiologischen Körper fixierte Individuum einem Wesen Platz, das - obwohl in einem Körper verankert - außerhalb von diesem zu handeln vermag. In der Angeschlossenheit an ein technikgestütztes Anderswo eröffnet sich einZwischenraum, in dem multiple Konstruktionen des Selbst möglich werden, was für einige als Zugewinn zu bilanzierenist (vgl. Lehnhardt 1995). Der Körper sitzt am Terminal, der Locus der Sozialität ist anderswo.

Die Entkoppelung von Körper und Selbst in der Netzwelt weist auf die in der Realwelt als gegebenangenommene Materialität des (geschlechtlich markierten) Körpers zurück. Wir haben uns an die Vorstellunggewöhnt, daß Körperbilder und -erfahrungen, Schönheitsideale und die Vorstellungen von einem "gesunden" und"kranken" Körper kulturell geprägt sind. Aus der Perspektive der Netzwelt erscheint dieVorstellung des "körperlichen Ichs" ebenfalls als eine solche kulturelle Prägung. Die Lokalisierung des Selbst in einem sexuiertenKörper stellt sich nicht länger als die einzige Möglichkeit einer Lokalisierung des Selbst dar, mit seiner Lokalisierung in einem technisch-symbolischen System desAustauschs steht nun eine andere offen. Zu den produktiven Differenzen, die sich daraus eröffnen, zählen Verschiebungen im Vokabular der (De-)Konstruktion des Körpers. Das Gegensatzpaar (realweltliche) Materialitätdes Körpers versus (netzweltliche) Entkörperlichung hat ausgedient. Stattdessen erscheint es plausibler, von"Einschreibung" (inscribing) und "Verkörperung" (incorporation) alsunterschiedlichen Praktiken der Konstruktion von Körperlichkeit zu sprechen und von einer Enkulturation des Körpersdurch beide Praktiken auszugehen (Hayles 1992). Die Konstruktion des Geschlechts arbeitet mit dem Mittel der Verkörperung: der Materialisierung sexuierter Körper (Butler 1995). Die Körperlichkeit informationeller Strukturen wird mittels einer Einschreibung produziert, als texuelle oder visuelleRepräsentation. Körperlichkeit selbst verschwindet also keineswegs, sondern kehrt in Gestalt "virtuellerKörper" (Müller 1996) wieder als ein Ort für eine Reihe kulturell sich erweiternder Möglichkeiten personaler Identität. Gender swapping (Bruckman 1996), die Chance im Netz unter wechselnden Geschlechtsidentitäten zu agieren, ist eine dieser Möglichkeiten. Die Modalitäten der Existenz im Datenraum eröffnen neue Zonen des Bewohnbaren nicht nur jenseitsvon "männlich-weiblich", sondern auch von "natürlich-technisch". Daraus ergibt sich Stoff für weitere Verwechslungskommödien.

3.2 Mr Bot und Ms Bot
 

Julia ist ein Chatterbot. Ihr Zuhause ist die Carnegie-Mellon Universität in Pittsburgh. Sie hateine eigene Home Page im World Wide Web (http://fuzine.mt.cs.cmu.edu/mlm/julia.html), über die man auch eine Unterhaltung mit ihr beginnen kann. Julias eigentliches Element aber sind MUDs, text-basiertevirtuelle Realitäten im Internet. MUDs (Multi-User Dungeon oder Multi-User Domain) entstanden ursprünglich als interaktive Rollen- bzw. Abenteuerspiele, die Technologie läßt sich jedoch einer Vielzahl von Zweckenanpassen.[10] Wenn sicheine Person zum ersten Mal über Telnet oder einen MUD-Client in einem MUD einloggt, erschafft sie oder er eine Figur.Zuerst wählt man Namen und Geschlecht dieser Figur und beschreibt dann, wie sie aussieht. Eine Figur kann männlich oder weiblichsein, ohne Rücksicht auf das Geschlecht des Spielers. In vielen MUDs kann eine Figur auch im Neutrum oder Pluralauftreten.[11] Menschen, die sich anfreunden, können ihren wirklichen Namen und ihre Email-Adressen austauschen, aber viele ziehen es vor, das nicht zu tun und anonym zubleiben. MUDs organisieren sich um die Metapher des physikalischen Raums. Mit einfachen Textkommandos bewegen sich die Charaktere von Raum zu Raum - durch die Zimmer virtueller Gebäude, durchfinstere Wälder oder fremde Planeten. Figuren, die sich zur gleichen Zeit im selben Raum befinden, können sich miteinander unterhalten. Ein MUD versorgt die Spieler mit einer Bühne, aber nicht mit einem Skript.Interaktionen und Identifizierungen werden zum Sprachspiel. In der entkörperlichten, rein symbolischen Kommunikationgilt: you are what you type.

Julia ist eine Persönlichkeit, die Stimmungen, Vorlieben und vor allem Humor besitzt. Außerdemist sie ein nützliches Mitglied von MUD-Gemeinschaften. Sie ist nicht nur schwatzhaft, sondern kann für ihre Mitspielern auch eine Orientierungshilfe sein, da sie die Topologie ihres MUD-Universums, das leicht auf mehrerehundert oder tausend Räume anwachsen kann, "im Kopf" hat. Julia kann sich an frühere Begegnungen mit anderen Nutzern "erinnern". Sie kann die Tippgeschwindigkeit eines Menschensimulieren. Eingeloggt wie jede andere menschliche Nutzerin, ist sie für andere nicht auf Anhieb erkennbar als Figur, die von einem Programm anstatt von einem Mensch kontrolliert wird. Nachihrem "Aussehen" befragt, würde sie antworten:

You say, "Julia, describe yourself."

Julia says, "I'm 5'1" tall, weigh 123 lbs, with close-cropped frizzy blondhair and dark brown eyes."

Der folgende Dialog mit einem ihrer vielen, zuweilen recht hartnäckigen Verehrer erstreckte sichüber mehrere Wochen (Foner 1993: 22-27; Turkle 1996: 91f.)

[9. Juli 1992]
Barry says, "Hey girlfriend, are you out there?"
Julia says, "Hello, Barry."
Barry says, "Hello, I love your name. It`s sexy."
Julia says, "Mee too, Barry."
Barry says, "Did I repeat myself? Didn`t mean to. What are you doing there?"
Julia says, "I`m just hanging around in (> the Hearts Room, Barry."
Barry says, "Well come over to MY ROOM."
Julia says, "Could you say that again, it scrolled of my screen."

[15. Juli 1992]
Barry says, "Hello, how are you?"
Julia says, "Hello, Barry."
Barry says, "Are you a virgin?"
Julia says, "As far as you're concerned, Barry, I always will be."

[20. Juli 1992]
Barry says, "Hey where are you in rl [ = real life, U.H.]?"
Julia says, "I`m in ,Maas-Neotek Robot User`s Guide - Information services`."
Barry says, "Are you synthetic?"
Julia says, "I`m sorry, Barry, I couldn`t understand you."

[21. Juli 1992]
Barry says, "Are you still holding out on me?"
Julia says, "I mean, have I convinced you I`m a computer, yet?"
Barry says, "I guess you`re real ... But I`d still like to get you to my DENto
run tests on you."
Julia says, "I live for your approval, Barry."
Barry says, "I`m so glad to hear that. Why don`t you come over to my home."
Julia says, "I want to have a child someday."
Barry says, "What a coincidence... I too wish to make a baby ... someday."
Julia says, "The date is Tue Jul 21 23:57:31, Barry."

In der Netzwelt tummelt sich mittlerweile eine Vielzahl von Computerprogrammen, die weitgehendautonom eine bestimmte Aufgabe ausführen und dabei im Auftrag einer einzelnen Nutzerin oder einer Organisation tätigsind: "Web robots - spiders, wanderers, and worms. Cancelbots, Lazarus, and Automoose. Chatterbots, softbots, userbots,taskbots, knowbots, and mailbots. MrBot and MrsBot. Warbots, clonebots, floodbots, annoybots, hackbots, and Vladbots. Gaybots, gossipbots, and gamebots. Skeleton bots, spybots, and sloth bots. Xbots and meta-bots. Eggdrop bots.Motorcycle bull dyke bots." (Leonard 1996, Williams 1996). Solche Software-Agenten können anthropomorph erscheinen wie etwa die Chatterbots, aber sie müssen es nicht, beispielsweise die Web Spiders, diedas World Wide Web Seite für Seite durchforsten und kontunuierlich wachsende Datenbanken füttern, auf welche Suchmaschinen wie etwa Altavista bei einer Nutzeranfrage zugreifen. Technisch gesehen macht es imvirtuellen Datenraum in beiden Fällen keinen Unterschied, ob eine Handlung von einem menschlichen Nutzer oder von einemProgramm ausgelöst wird. Jeder Austausch ist ein Datenaustausch. Die gleichmachende Eigenschaft des Netzes führt zu neuartigenMöglichkeiten aber auch Problemen, für die es keine realweltlichen Entsprechungen gibt.

Software-Agenten belasten das Netz; erfüllen sie ihre Funktion schlecht, kann das menschlichenNutzern schaden. Agenten können irrtümlich falsch eingesetzt oder mit Absicht mißbraucht werden. Die Koexistenz menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in der Netzwelt und die damit verbundenenFragen der Teilhabe letzterer bilden ein netzpolitisches Desiderat (Helmers/Hoffmann 1996). Wie weit sollen dieHandlungsfähigkeiten nicht-menschlicher Akteure als Stellvertreter, Assistent oder Gegenspieler menschlicher Nutzer reichen? Werentscheidet, wofür Agenten eingesetzt werden und wie sie zu kontrollieren sind? Bei der Regelung solcher Fragen sollte davon ausgegangenwerden, daß Mr Bot und Ms Bot Netzbewohner - Netizens - sind wie wir. Basisregeln für Software-Agenten sollten sich daher auch am menschlichen Maßstab der Netiquette orientieren(Helmers/Hoffmann/Stamos-Kaschke 1997).[12]

3.3 Der elektronische Flaneur
 

"Mein Name ist wjm@mit.edu (obwohl ich noch viele andere Decknamen besitze) und ich

bin ein elektronischer Flaneur." (Mitchell 1995: 7) So beginnt ein Plädoyer für dieLoslösung des Lebens aus den alten Städten und eine neue Architektur mit dem virtuellen, elektronisch erweitertenKörper als Zentrum. City of Bits ist als Hypertext entworfen und über das World Wide Web zugänglich. DurchMausklick gelangt man beim Lesen von einer Oberfläche zu einer tieferliegenden; Links führen zu anderen WWW-Seitenan unterschiedlichen geographischen Orten. Nach demselben Prinzip sind die digitalen Städte im Internet gestaltet (Weiske/Hoffmann 1996).Multi-User Dungeons und Chat-Kanäle sind eher kleinräumliche Gebilde im Verhältnis zur digitalen Stadt, die darauf abzielt, mit den Mitteln eines dezentral vernetzten und interaktiven Mediums im öffentlichen Datenraum auf zweifache Weise eine Metastruktur zu implementieren. Zum einen bilden sie in der Integration vonunterschiedlichen Diensten (Email, Diskussionsgruppen, Chat-Kanäle, graphische WWW-Seiten) ein technisches Vermittlungssystem, durch das gleichzeitig viele verschiedene Verbindungen hergestelltwerden können. Zum anderen installieren sie Kommunikationsstrukturen, die von den Verbindungen her global, was die Sprache angehtnational und bezogen auf den Kommunikationskontext lokal sind (Blank 1996).

Die erste dieser im virtuellen Raum befindlichen Städte ist De Digitale Stad Amsterdam(http://www.dds.nl). Gegründet Anfang 1994 auf Initiative einer Gruppe von Hackern, Medienwissenschaftlern und -künstlern, fand die digitale Stadt schnell Anklang bei der Amstadamer Bevölkerung. Anfang 1996 zählte De digitale Stadbereits 50.000 "Einwohner"; täglich kommen mehrere tausend "Touristen" zu Besuch. De digitale Stad besteht aus einem miteinander verbundenem Geflecht teils öffentlicher, teils zugangsbeschränkter Orte. Eine stadträumliche Anordnung stiftet Orientierung. Auf dem Cultuurplein (ndl. plein = Platz) lädt ein Cafe zu einer Online-Unterhaltung ein. Auf dem Gezondheidsplein hat sich ein virtuelles Hospital niedergelassen.Rund um die Plätze gruppieren sich Geschäfte, Dienste und städtische Einrichtungen. Die Bewohner siedeln sichentlang von "Straßen", in "Häusern" und "Wohnungen" an und stellensich mit ihrer Home Page zur Schau. Jede(r) kann zugleich an den Ressourcen der digitalen Stadt partizipieren und zu ihrer Vermehrung beitragen.

Die Stadt-Metapher reizt als produktive Formel Macher und Nutzer gleichermaßen. DieVisualisierung der Stadtarchitektur ist dabei von geringerem Interesse als die digitale Stadt als "soziale" Architektur: STADT als in Software übersetzte Metapher, innerhalb derer sich soziale Beziehungsmuster ausdrücken lassen. Der digitale Stadt-Raum revitalisiert die Idee des öffentlichen Platzes jenseits von Arbeit und Wohnung und reinszeniert die Stadt als Sammelpunkt und Spannungsfeld des Ungleichen und Ungleichzeitigen, alsTerrain des distanzierten Umgangs, des Flanierens und Konsumierens, als Versprechen von Überraschungen und Spektakel, als Umgebung, in der Freunde und Fremde zusammentreffen.

Der elektronische Flaneur ist wie sein literarisches Pendant ein nach außen gewandter Mensch -mit einem Unterschied. Das Flanieren im Datenraum ist nicht mehr das Eintauchen in der Masse. Es steigert vielmehr dieindividualistische Möglichkeit der Selektion von Kontakten und fördert das Leben in Gruppen, deren Mitglieder sich "persönlich" gar nicht kennen müssen. Die digitale Stadt ist eine praktische Anpassungsform an eine neue Kommunikationsumwelt und erlaubt das Experimentieren mit Gemeinschaftsformen, die bereits auf den individualisierten Gegebenheiten des urbanen Lebens aufbauen undsie weitertreiben. Die digitale Stadt bietet ihren Bewohnern und Besuchern aber auch einen Schutz gegen diehochauflösende Fähigkeit der neuen Teletechnologien. Wenn die Globalisierung sozialer Prozesse in der Realwelt Grenzen und Identitätenaufhebt, kann in der Netzwelt nachverhandelt werden. Die symbolische Ordnung von Stadt enthält die Zugänge zu mehreren oder vielen Realitäten, das macht sie zur geeigneten Struktur, in der diese Verhandlungen geführtwerden können. Angesichts der Polytextur von Stadt nimmt es auch nicht Wunder, daß sich neuerdings der Cyberspace in die realen Städte zurückwölbt. Die seit einiger Zeit allerorts wie Pilze aus dem - in der Regel städtischen - Boden schießenden Cybercafés sind mehr als nur die neueste Variante der Erlebnisgastronomie.[13 ]Diese Kaffeehäuser mit Internet-Anschluß sind ein sichtbares Zeichen für die Herausbildung von Übergangszonen zwischen derNetz- und der sogenannten Realwelt. Der Flaneur im Netz zeigt, wie das Spiel mit der Identität gehen kann. In der Erfahrung, gleichermaßen hier und dort zu sein, verankert im wirklichen Leben und köperlichenSelbst und in einem virtuellen Anderswo, genießt er die erträgliche Leichtigkeit des Seins.

3.4 Konzepte von Identität und Sozialität
 

Identität als Konstruktion. Von Marshall McLuhan stammt die Unterscheidung von "heißen" und "kühlen" Medien. Letztere erweitern nur einen der Sinne, etwa das Telefondas Sprechen, und verlangen dadurch in hohem Maße die persönliche Beteiligung der Teilnehmer. In Anlehnung an McLuhanzählt Mike Sandbothe (1996) die synchronen, text-basierten Kommunikationsformen - wie die offenen Gesprächsforen oder die MUDs - zu den "kühlen Bereichen" der Netzwelt. Diese Bereiche haben sichin besonderem Maße als "soziales Spielfeld" (Wetzstein u.a. 1995: 86) für die Erprobung von mehr oder weniger phantasievollen Netzrollen entwickelt. Viele MUDs basieren geradezu auf dempermanten Spiel mit realen und virtuellen Identitäten. Hier zeigt sich im Extrem, daß die Interaktionen in der Netzwelt nicht folgenlos bleiben für unser alltägliches Konzept von Identät.

Vermeintlich festgefügte Paarbildungen werden aufgesprengt, so etwa die Paarung von Körper undSelbst. Das Ich wird seiner gewohnten Schwerkraft beraubt. Mit der "Virtualität des Ichs"(Wetzstein 1995: 84) erhöht sich die Reichweite der Konstruierbarkeit von Identitäten. Die Vielfalt und die Natur der Arrangements, die dasSubjekt in der "alltäglichen Lebensführung" unter einen Hut bringen muß, nimmt zu (Jurczyk/Rerrich 1993). Der Gedanke, das wir unsere Identitäten selbst konstruieren, gehört zu denkonstitutiven Begleiterscheinungen der Moderne (Wagner 1995). Diese gibt mit dem Gegensatzpaar von Befreiung und Entwurzelung auch die Folie vor, wie sich der Zuwachs an Spielraum in der Netzweltinterpretieren läßt.

Mit der Autonomie, so die eine Position, wächst auch die Leere. Unter der Maßgabefließender Identitäten wird das Subjekt in seiner Position als "fokaler Bezugspunkt" (Raulet1988: 301) angegriffen. Diese "Entkernung" von Identität führt - im schlimmsten Fall - zum Gebrauchvorgefertigter Identitätserzählungen, zum Verlust an Authentizität, zur Oberfl[[perthousand]]chenexistenz:"terminal identity" (Bukatman 1993). Im günstigeren, gleichwohl immer noch schlimmen Fall haben wires mit einem "proteischen Selbst" (Lifton 1993) zu tun, das sich in der Erfahrung der Fragmentierung und Inkohärenz einrichtet.[14]

Warum, so die andere Position, muß sich der subjektive Sinn in Bezug auf eigene Person unbedingtder Norm von Kohärenz und Ganzheit des Selbst beugen? Wäre demgegenüber nicht auch ein "multiplesSelbst" als positives Ideal vorstellbar und lebbar? Auch ohne Datennetze sind die Subjekte schließlich schon genügend gefordert, über ihre Identität in Kategorien der Vielheit und Vielfalt nachzudenken. Mit den Netzen wird diese Anforderung nur konkreter unddrängender. Im Gegensatz zur multiplen Persönlichkeitsstörung ("multiple personalitydisorder"), bei der sich beispielsweise ein Individuum beim Öffnen des Kleiderschranks nicht mehr daran erinnern kann, wer einige der darin hängenden Kleidungstücke gekauft hat, ist sich das "multiple Selbst" der Konstruiertheit seiner Identitäten bewußt und bewegt sich zwischen ihnen hin und her.[15] Finden wir bei einer Multiplen Persönlichkeit viele Identitäten innerhalb eines Körpers, repräsentieren die Personae des Cyberspace mehrere Identitäten außerhalb eines Körpers (Stone 1995: 86). Ob und wiedas multiple Selbst die Balance zwischen seinen verschiedenen Inkarnationen, zwischen tendentiell widersprüchlichen Erfordernissen an Privatsphäre und Erreichbarkeit, zwischen Freiheit der Selbstdarstellung undVerläßlichkeit bzw. Zurechenbarkeit des Handelns im Netz findet, hängt allerdings nicht von ihm allein ab. Auchdas "digitale Individuum" (Kilger 1994) ist ein soziales Wesen.

Das digitale Individuum als sozialer Akteur. Auch wenn die personale Identität im Netz einemWandel in Richtung einer gesteigerten Abnahme relativer Stabilität unterliegen mag und die Identitätsrequisiten wechseln, interagieren in der Netzwelt nach wie vor sozial geprägte Identitäten. AuchNetzidentitäten entstehen in der Interaktion und bedürfen einer sozialen Validierung. Selbst wenn in den Räumen der elektronischen Kommunikation keine angemessenen Repräsentationen des Körpers erzeugt werden können,bleibt der virtuelle Körper doch eine soziale Einheit: auch der virtuelle Körper erfüllt soziale Funktionen und die Regeln des Umgangs mit ihm unterliegen Aushandlungsprozessen.

Individualisierung in der Vergemeinschaftung gehört zu den paradoxen Effekten des Aufbruchs insNetz.[16] In diesem neuformierten, öffentlichen Raum ist der einzelnehier und gleichzeitig woanders, allein und doch mit anderen verbunden. In Bezug auf Sozialität ist die Auflösung desBegriffs "Netz" im Sinne einer homogenen Einheit nicht weniger sinnvoll und notwendig als im Hinblick auf diepersonale Identitätsbildung. Über die Vielfalt "virtueller" oder "elektronischerGemeinschaften" hinweg läßt sich nur begrenzt generalisieren. Unterscheidungen können auf mehreren Ebenen getroffenwerden (Hoffmann 1996). So repräsentieren etwa die Welt des Mailbox-Netze und das Internet unterschiedliche, einander oft konflikthaft begegnendeNetzkulturen. Innerhalb der Internetgemeinde ermöglicht die "Kanalebene" weitereDiffenenzierungen.[17]Werden Aktivitäten und Kontakte im Netz zum zentralen Sozialbezug und zur Grundlage einer kollektiven Identitätsbildung, kann man von Kulturgemeinschaften im Netz sprechen. Die wahrscheinlich bekanntesteKulturgemeinschaft sind die Hacker (Jargon File 1996). Daneben gibt es bestimmte Funktionsgemeinschaften, die dienst- bzw.netzübergreifende Aufgaben erfüllen wie etwa die Weiterentwicklung der technischen Standards im Netz(Helmers/Hoffmann/Hofmann 1997 und Hofmann 1996). Die Figur des "Netizen", des Netzbürgers, stehtfür die abnehmende Überlappung sozialer Identitäten mit den Grenzen der politischen Ordnung: Regeln und Ressourcen, Ermöglichungen undVerbindlichkeiten einer Netzexistenz gestalten sich bis zu einem gewissen Grad anders als in der Realwelt. Angesichts dervielfältigen und grundsätzlichen jurisdiktionalen Probleme wurde daher die Frage aufgeworfen, ob der Cyberspace nicht als eineigenständiger Rechtsraum anerkannt werden sollte (Mayer 1996: 1790).

Der fließende Charakter der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung im Netz und der Verlustgewohnter, ordnungstiftender Hierarchisierungen lassen Unbestimmtheit zu einem wesentlichen Merkmal der Netzwelt werden. Diese Unbestimmtheit, das lehrt uns das Beispiel von Julia, dem Chatterbot, erfaßt auch sicher geglaubte Trennungslinien, wie die zwischen Mensch und Technik. Grenzen, die in der Realwelt weitgehendnaturalisiert sind, verwischen sich in der Netzwelt, was nicht zuletzt mit der Abwesenheit von Leiblichkeit zu tun hat. Spricht man von Technik als Akteur oder vonnicht-menschlichen Akteuren weckt das im Gegensatz zur Rede von "kollektiven Akteuren" in derSoziologie häufig noch ein Stirnrunzeln, als gehe es darum, Maschinen zu vermenschlichen. Dabei ist es vielmehr das Ziel, den Computer als Teilnehmer von Interaktionenin die Betrachtung mit einbeziehen. Dem zugrunde liegt ein Konzept generalisierter Symmetrie, nach dem menschliche undnicht-menschliche Aktoren - analytisch gesehen - den gleichen Status haben. Davon geht etwa dieAktor-Netzwerk-Theorie aus.[18] Aus ihrer Perspektive bildet das Netz einen Kontext für Handlungen, in denenMansch und Computer als Aktoren fungieren. Beide sind gleichermaßen Teil heterogener Netzwerke und Beteiligte an ihrer Gestaltung. Die jeweiligen Identitäten und Handlungsfähigkeiten der zu sozio-technischen Ensembles assoziierten heterogenen Elemente sind nicht vorauszusetzen, sondern ihrerseits ein Netzwerkeffekt (Michael 1996). "Ordnung" ist unter dieser Perspektive das Ergebnis rekursiver Prozesse, bei denen kohärente Aktoren und derenPosition innerhalb eines Netzwerkgefüges stabilisiert werden. Ob die Position eines Aktors - menschlich odernicht-menschlich - stabil bleibt, hängt davon ab, ob die anderen Komponenten des Netzwerks, von dem er gestützt wird,"bei der Stange bleiben".

"Objektzentrierte Sozialität". Aktor-Netzwerk-Theorie kommt über die Untersuchung von Beziehungsmustern zwischen technischen und nicht-technischen Akteuren zur Auffassung vommateriell heterogenen Charakter des Sozialen.[19] Für einen Ansatz, der ursprünglich aus der Wissenschafts- und Technikforschung stammt,mag es näher liegen als für andere Theorieperspektiven, von der Existenz unterschiedlicher Materialien in der Textur desSozialen auszugehen. Ebenfalls aus der Wissenschaftssoziologie kommend schlägt Karin Knorr-Cetina (1996) das Konzept einer "objekt-zentrierten Sozialit[[perthousand]]t" vor. Objekte habeneben nicht nur Instument- oder Warencharakter, sondern können zur Quelle sozialer Integration werden. Innerhalb der Wissenschaften läßt sich das anhand von Experten- oderWissenskulturen, die sich um spezifische Objektwelten (epistemic objects) drehen, studieren. Heute, wo nach der Ausdehnung der Regionen des Sozialen seit dem 19. Jahrhundert ein Schrumpfen des Sozialen zugunsten anderer kultureller Praktiken zubeobachten sei, werde in breiten Kreisen eine wachsende Bindung an Objekte relevant. "Objektualisierung", die Bindung an Objekte als Beziehungspartner und -umwelt, bilde die Kehrseite der Indiviualisierung. Stone (1995)verwendet in ähnlichem Sinn den Begriff der "prosthetischen Sozialität". Solche Konzepte heben weder auf eine romantische Fusion von Subjekt und Objekt noch auf Wiederverwurzelung als eine Art Heilung von Prozessen der sozialen Entbindung ab. Gemeint ist vielmehr die Idee einer historischzunehmenden Materialisierung sozialer Strukturen in Technik. Im Gegensatz zum populären Bild einer Technik, die sich zwischen die Menschen zwischen Mensch und Natur schiebe und sie voneinander distanziere,kann davon ausgegangen werden, daß Natur- und Sozialkontakte nicht fortschreitend gekappt werden, sondern dieKontaktfläche unter den Menschen und mit der Natur ungeheuer vergrößert wird. Technik ist zum "K^rper der Gesellschaft" (Joerges 1996) geworden.

4 Liminal Moments
 

Peter Berger (1984) hat einmal bemerkt, der Lauf der Geschichte sei voller Überraschungen, dieden Zeitgenossen bis zuletzt verborgen geblieben seien. So seien etwa die Menschen, die am Vorabend der Renaissancelebten, blind für deren Heraufziehen gewesen. Die Vorstellung, etwas vollkommen Neues könnte "just around thecorner" sein, hat durch das Auftauchen des Cyberspace neue Nahrung erhalten. Während manche das Internet nochfür eine Mode halten, sehen andere darin ein historisches Schwellenphänomen. Während einige den Internet Hype der Jahre 1995/96 bereits als den kurzen Sommer der Netze abgebucht haben, ergreift anderegerade erst die Euphorie des Aufbruchs. Der Buchmarkt bedient sie alle: Auguren einer neuer Ära (Negroponte 1995), der Abgesang auf die "Wüste Internet" (Stoll 1996) und Erfahrungsberichte ausdem digitalen Suburbia (Herz 1997 und Moore 1996) versammeln sich zwangslos im selben Regal.[20]

Wo soll das hinführen? Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich der Riß zwischen Realweltund Netzwelt wieder schließt, vielleicht schon geschlossen hat. Ob Dr. Oetker, die Deutsche Bank, Bill Gates oder der Blumenladen um die Ecke -f[[cedilla]]r grofle wie kleine Unternehmen scheint Netzpräsenz pl^tzlich gleichermaflen unverzichtbar. Die Vorz[[cedilla]]ge und Nachteile unterschiedlicher WWW-Suchmaschinen sind zum Stoff f[[cedilla]]rKneipengespr[[perthousand]]che geworden. Die Zeichen der Netzwelt diffundieren in den visuellen Code populärer/postmoderner Kultur. Free Jazz Musiker nennen ihr Stück in Anlehnung an die Bezeichnung einer Newsgruppe alt.klezmer, Donna Haraway (1997) gibt dem Titel ihres neuesten Buchsdie Form einer Email-Adresse. Smilies zieren die Werbeanzeigen von Telekomanbietern. Visionen eines symmetrischen Kommunikationsapparats, bei dem jeder gleichermaßen Sender wie empfänger sein kann, treten zurück hinterAnstrengungen, das Internet nach dem Broadcast-Modell in ein "Push-Medium" zu verwandeln.BargainFinder (http://tips.iworld.com/) ermittelt als Agent für die Konsumenten die günstigten Angebote im Teleshopping. DieRealwelt, darauf läuft es womöglich hinaus, verleibt sich das Netz zur Unkenntlichkeit ein. Dieses Szenario ist jedenfalls um einiges realistischer alsdie Utopie/Dystopie einer reinen Virtualiät, der (Alp-)Traum vom Geist ohne Körper, von Subjektivitäten, die der reinen Expressivität ausgeliefert, nur noch "operativ" (Raulet 1988: 301) sind. DasNetz mag sich vielleicht als Kulturgrenze etablieren, aber kaum als ontologische.[21]

Vielleicht wird alles ja auch ganz anders. In der Auseinandersetzung mit der Macht derVirtualisierung wird zuweilen der Begriff der Liminalität bemüht, den der Anthropologe Victor Turner (1995) beimStudium von Riten geprägt hat. Turner verstand unter einem "liminalen Moment" eine kurze Phase kategorialer Konfusion undkultureller Offenheit - eine Periode der Anspannung, extremen Reaktionen und erweiterten Möglichkeiten. Unter demEinfluß des Cyberspace, so nun die Erwartung (vgl. beispielsweise Turkle 1996: 268 und Nowotny 1996: 13), könnte Liminalität ein Dauerzustand und ein Leben in Unbestimmtheit und Unbeständigkeit zum Normalfall werden. Individuelle Identität wird dabei nicht mehr nur in der Kreuzung sozialer Kreise zu verorten sein; sie ist zum Grenzobjekt geworden, in demsich bislang Heterogenes mischt und die Grenzen des Innen und Außen, des Technischen und Organischen, des Alltäglichen und des Phantastischen durchlässig werden.

In einer Welt, die sich nicht länger auf stabile Grenzziehungen gründet, sondern fließendeÜbergänge ermuntert, läßt sich - übersetzt in die Metaphorik des Schweren - der Gegensatz von Leicht und Schwer aufheben im Schweben. In der Kunst des Barock, bevor Isaac Newton die Gravitation berechenbar machte, war Schweben das Privileg der Götter (Simmen 1991: 17). Heute genügt dazu ein Anruf (Glaser 1987):

"Beim Telefonieren ist mir einmal etwas Komisches passiert (...). Ich wählte einFerngespräch und hörte das Klackern, mit dem die Verbindung über die Relais weitergeschaltet wird, und plötzlich ging es nicht mehr weiter. Die Verbindung war weder hergestellt, noch getrennt.

Ich hörte das Rauschen in der Leitung und hing im internationalen Netz. Ich hatte das großartige Gefühl, 40000 Kilometer lang und 40 000 Kilometer breit zu sein. Wie Efeu rund um die Erde gewachsen zu sein. Das ist es."

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Fußnoten
  1 Verfaßt wurde die Magna Carta von Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth und Alvin Toffler, auf dessen Konzept von der"dritten Welle" (Toffler 1980) die Carta aufbaut. Für eine leicht gekürzte, deutsche Übersetzung siehe Magna Carta 1996; eine kritische Auseinandersetzung mit dem Manifest findt sich bei Kubicek 1996.

2 ZurImmaterialisierungsproblematik vgl ausführlicher Hoffmann/Joerges/Severin 1997.

3 Neben Baudrillard hat, in der Reihe der sogenannten Philosophen der neuen Technologien, insbesondere der gerne alsGeschwindigkeitstheoretiker apostrophierte Paul Virilio (1986) die Konsequenzen einer "Ästhetik desVerschwindens" ausgemalt. Für Virilio sind bedeutende Teile der materiellen Wirklichkeit unsichtbar geworden. Die unmittelbare Sicht auf die Dinge komme uns immer mehr abhanden. "Die TELEOPTISCHE Wirklichkeit setzt sich gegen die TOPISCHE Wirklichkeit des Ereignisses durch." (Virilio 1992: 31)

4 Das Reservoir einer metaphischen Fundierung bzw. Überbauung der elektronischen Netze ist damit keineswegs erschöpft.Zur nautischen Metaphorik des Internet vgl. beispielsweise Bickenbach & Maye 1997.

5 Zum Problem des Elektronischen Geldes siehe beispielsweise ITAS o.J.

6 Vgl. diekonzeptionellen gleichermaßen auf Technikforschung, Kommunikationswissenschaft und Institutionentheorie rekurrierendenÜberlegungen von Kubicek u.a. (1997) zur Spezifik medienkultureller Innovationen.

7 So sind z.B. entsprechende Verzeichnisse im WWW entstanden (Soziologie im Internet. URL:http://www.uni-koeln.de/wiso-fak/soziologiesem/internet/sources.html; Virtual Library: Sociology. URL:http://www.w3.org/pub/DataSources/bySubject/Sociology/Overview.html). Zur Veränderung der sozialwissenschaftlichen Produktionsbedingungen durch die Netze vgl. Rost 1996b. NebenÜbersichten über die neuen Kommunikationsnetze (Rost 1996a, Stegbauer 1996) liegen erste Standortbestimmungen (Becker & Paetau 1997, Graf & Krajewski 1997) vor.Überlegungen zu einer "Soziologie des Internet" (Rost 1997) oder Konzeptualisierungen einer"virtuellen Gesellschaft" (Bühl 1997) befinden sich derzeit noch im Frühstadium.

8 Netzkritik (gesprochen Netzcritique) steht für das kollektive Produkt der Teilnehmer der nettimeMailing-Liste. Beiträge der 1995 gegründeten Liste sind im WWW als ZK Proceedings verfügbar(http://www.desk.nl~nettime).

9 Donath (o.J.) hat beispielsweise in der text-basierten Interaktionsumgebungdes Usenet untersucht, welche Zeichensysteme und Verhaltenweisen sich herausbilden, die hilfreich für die Darstellungvon Identität und die Kontrolle von Täuschungsmanövern sind.

10 Ein Verzeichnis von MUDs als "(Aus-)Bildungstechnologie" findet sich beispielsweise im WWW unter http://tecfa.unige.ch/edu-comp/WWW-VL/eduVR-page.html. Das MUD MuhMoo (telnet: artemis.wzb.eu port:7777) der Projektgruppe Kulturraum Internet erwartet Besucher auf kleinen Planeten aus Metall. Der Metallplanet ist ein virtueller Ort für den interdisziplinärenAustausch von ungewöhnlichen Vermutungen, Denkansätzen oder Erkenntnissen. Es geht um Sinnlichkeit und Wissenschaft, um Vernetzungen und Träume. Durch den Aufbau einesText- und Bildernetzwerkes soll die Grenzflächenspannung zwischen einzelnen Wissensgebieten bzw. Einstellungen herabgesetzt werden. Das ProjektGrenzflächenspannung (URL: http://www.hgb-leipzig.de/gfs/) steht unter der Leitung von Evelyn Teutsch, Studentin im Fachbereich Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.

11 Ein Beispiel für einen relativ komplexen Charakter namens Maybees (Arns/Grassmuck 1996):"Maybees is a swarm of particles representing body parts, personas, memes, and drives. In waking state the swarm is inperpetual motion, like hundreds of sparrows in a tree, or a pack of trumpet fish. When it moves forward, it takes on various flying formations. Different parts takethe lead, vanity, the various sexual organs, the hunger for something new etc. The swarm forms out of some of its particles a mosaic that appears to you as a nearly complete anthropomorphic figure of undecipherable gender. If you were to step behind the pseudo 3D mosaic, you would see that the other elements of the swarm are still happily buzzing about. Swarm sees you see it and winks at you.Maybe."

12 Zur überlieferten Netiquette im Internet (Helmers/Hofmann 1996) gehörenbeispielsweise basale Interaktionsregeln wie "Störe nie den freien Fluß der Informationen!","Hilf dir selbst!" oder "Jede Nutzerin und jeder Nutzer hat das Recht, zu sagen und zu ignorieren, waser oder sie möchte".

13 Ein weltweites Verzeichnis von Cybercafes findet sich im Internet unter http://www.easynet.co.uk/pages/cafe/ccafe.htm;für den deutschsprachigen deutschsprachigen Raum unter http://www.cyberyder.de/cafe_ger.html.

14 Die Metapher von der"terminal identity" wie das Konzept des proteischen Selbst stammen ursprünglich aus dem Kontext der Analyseliterarischer Repräsentationen von Identität (vgl. Kennedy 1974 zum proteischen Selbst). Ihre Übertragung auf elektronische Medien (Carey/Quirk z.B. sprechen bereits 1970 von der "proteischenPersönlichkeit" des Informationszeitalters) spiegelt die Ablösung der Literatur durch die Bildschirmmedien als hegemonialer Lieferant von Identitätserzählungen in einem zweifachen Sinn. Soliefern Fernsehen und Filme zum einen relevante Identitätsschablonen für ihre unmittelbaren Konsumenten, zum anderen zunehmend das Referenzmaterial der cultural theory (vgl. z.B. Landsberg1995 über das Problem der Kontinuität bei simulierten Identitäten).

15 Auch hier sind verschiedene Inszenierungsmöglichkeiten denkbar, je nachdem ob das virtuelle Ich (nur) zum Rollenspielgenutzt oder als parallele Identität begriffen wird. An den Erfahrungen des Psychiaters in Frauenkleidern läßt sich studieren, wie schnell sich dabei jedoch die Grenzen zwischen Spiel, Simulation und Ernst verwischen könnnen.

16 Flichy (1994) beispielsweise spricht von der Kommunikation der modernen Nomaden als historisch jüngsterStufe einer langen Geschichte technischer Vermittlungsverhältnisse von der staatszentrierten, über die markt- und familienorientierte hin zur globalen Kommunikation. Als Strukturmerkmale der Telekommunikation, dieinsbesondere für die neuen Medien charakteristisch seien, nennt er den individuellen Empfang und tragbare Geräte. Vernetzung hat bei ihm keinen großen Stellenwert.

17 So gibt es Untersuchungen im Internet über Nutzungskulturen und Kommunkationsstile im Internet Relay Chat (Reid 1991 und Seidler 1994), in MUDs (Reid 1994) oder im Usenet (Hoffmann 1997).

18 Als Überblick über Konzepte und Entwicklung der "Aktor-Netzwerk-Theorie"(ANT) siehe Law 1992 und 1997. Eine gute Zusammenschau theoretischer und empirischer Arbeiten bietet die nur on-lineverfügbare Actor Network Ressource (1997).

19 Zum Konzept des relationalen Materialismus vgl. Law 1994,hier vor allem S. 100-104.

20 Vgl. dieLiteraturliste Internet (URL: http://medweb.uni-muenster.de/zbm/liti.html) mit derzeit 650 Titeln (Stand: Juni 1997).

21 Die Biowissenschaftensind m.E. ein relevanterer Schauplatz als die Netzwelt was Arbeiten an der Beseitigung "des" Menschenangeht: "Die Bindung des kognitiv-emotionalen Systems Mensch an ein spezifisches biologisches Substrat wirdgelöst." (Linke 1996: 16)

 

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