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Von "emily postnews" zu "help manners"
Netiquette im Internet
  WZB Discussion Paper FS II 98-105, Wissenschaftszentrum Berlin 1996

Valentina Djordjevic

  Sprungbrett
  Zusammenfassung
  Abstract
1  Die Bedeutung der Netiquette als Mittel der Regulierung
1.1  Community-Bildung
1.2  Organisationsformen im Internet
2  Sprache im Internet
2.1  *Schriftlich sprechen*
2.2  Eigenschaften von CMC
2.3  Sprachstile
3  Netiquette-Tradition und Entwicklungsgeschichte
3.1  Geschichtlichkeit
3.2  Geschichte der Netiquette
3.3  Ereignisbezogene Regelformulierung per Request for Comments 1087: Ethics and the Internet
4  Netiquetten
4.1  Grundregeln der Netiquette: RFC 1855 (1995)
4.1.1  Grundregeln - Kommunikatives Verhalten
4.1.2  Dienstspezifische kommunikative Regelungen
4.1.3  Schonung der Netzressourcen
4.1.4  Copyright und Datenschutzfragen
4.2  Netiquetterichtlinien für Administratoren
4.3  Community Guidelines - The WELL
4.4  Netiquette für einzelne Dienste
4.4.1  Kommunikationsdienste und Informationsdienste
4.4.2  Synchrone und asynchrone Kommunikation
4.5  Dienstspezifische Netiquetterichtlinien und Formen der Regelübertretung
4.5.1  Usenet
4.5.1.1  Übertretungsformen
4.5.2  IRC: /help etiquette
4.5.3  MOO: help manners
5  Schlußfolgerungen
6  Netiquette Quellenverzeichnis
   Bibliographie
  Fußnoten

 

 
Zusammenfassung
  Eine der grundlegenden Netiquetteregeln - manche sagen die wichtigste - sagt: "Vergiß nie, daß auf der anderen Seite ein Mensch sitzt."

Das Internet ist in dieser Sichtweise eine Gemeinschaft, die vermittels Technik über alle Grenzen hinweg miteinander kommuniziert. Doch wo viele Menschen zusammenkommen, kann es leichter Schwierigkeiten geben. In einem Medium, das nur über schriftliche Sprache funktioniert und wenig Anhaltspunkte für soziale Einordnungen und Verhaltensrichtlinien gibt, sind Regeln für den Umgang miteinander unerläßlich. Im Laufe der Jahre hat sich im Netz eine Übereinkunft entwickelt, die den gesellschaftlichen Verkehr regelt. Netiquette (Net-etiquette) faßt zusammen, was sich in den 20 Jahren computervermittelter Kommunikation für den Umgang als nützlich, praktikabel und notwendig herauskristallisiert hat. Es geht dabei sowohl um die Interaktion der Menschen untereinander als auch um das ungehinderte Weiterfließen des "freien Flusses der Informationen" im Netz. Die Besonderheiten der technologisch vermittelten Kommunikation prägen das Verhalten der Wetware online. Im Netz kursierende Netiquetterichtlinien vermitteln dem 'unwissenden Neuling' auch die Ursprünge der Netzkultur und erzeugen so die Geschichtlichkeit und Tradition dieser jungen Gemeinschaft.

Abstract
  One of the basic rules of Netiquette - some say it is the most important - states: "Never forget that the person on the other side is human."

Seen from this point of view, the Internet is a community of people using technology as their means of communication regardless of borders and social inhibitions. But in places where a lot of different people meet, there are bound to be clashes. A medium which uses only written language for communication is prone to misunderstandings and fights. Rules for social interaction are essential. Over the years an agreement developed that regulates social behaviour. Netiquette - net etiquette - summarises 20 years of experience in computer mediated communication. It deals with human interaction between people from socially diverse backgrounds who only have their use of the Internet in common as well as the dependency upon technology, e.g. the influence of the programme design of communication software on its human users. It explains the characteristics of the Internet to the "clueless newbie", thereby providing a feeling of history and tradition to this young community.

1 Die Bedeutung der Netiquette als Mittel der Regulierung
  Das medial Neuartige des Internet besteht weniger aus der Vielzahl von Informationsangeboten und Werbeseiten, die wie in den herkömmlichen Massenmedien von großen Verlagen und Organisationen dem Publikum zum Verbrauch zur Verfügung gestellt werden, sondern aus dem Netzwerk unzähliger Menschen, die in diesen Drähten und Siliconchips Gemeinschaften haben entstehen lassen. Der Boom des Internet in den letzten Jahren und die verstärkte, manchmal sensationalistische Berichterstattung haben ein Bild geschaffen, das den tatsächlichen Gegebenheiten nicht immer Rechnung trägt. Auch das wachsende Interesse der Industrie, die im Internet einen neuen Absatzmarkt sieht, den sie kommerziell ausnutzen kann, zeigt oft ein mangelndes Verständnis der Struktur des Mediums[1]. Neue Benutzergruppen kommen zum großen Teil mit falschen Vorstellungen ins Netz, was oft zu Spannungen mit den alteingesessenen Usern führen kann. Es scheint jedoch, daß sich die Situation zur Zeit wieder normalisiert hat. Der Boom ist vorbei, viele überzogene Erwartungen wurden durch die Realität ernüchtert, die neuen Einwohner des Cyberspace hatten Zeit, sich einzugewöhnen oder woanders ihr Glück zu suchen. Es ist wieder Ruhe eingekehrt. Zeit darüber nachzudenken, was Netzkultur ausmacht und was es bedeutet ein Netizen[2] zu sein.

In dieser Untersuchung werden schriftlich fixierte Netiquetteregeln und Benutzungsrichtlinien im Internet einer näheren Betrachtung unterzogen. Netiquette und Benutzungsregeln gibt es für das Internet als ganzes, aber auch speziell für die verschiedenen Dienste. Diese Schriftfassungen von Verhaltensregeln sind von keiner Autorität des Internet herausgegeben, sondern Verschriftlichungen einer gewachsenen Tradition, die sich aus den Erfahrungen mit dem Medium und den Bedürfnissen der Benutzer gebildet haben. Dabei sind diese Regeln auch von den Einschränkungen der technischen Gegebenheiten geprägt.

Verhaltensregelungen setzen dort an, wo Technik nicht mehr ausreicht, um von der Gemeinschaft akzeptiertes Verhalten von nicht akzeptiertem zu trennen. Durch die Information über die Hintergründe der Verhaltenserwartungen in den Gemeinschaften wird an die Eigenverantwortlichkeit der Nutzer appelliert. Die Interaktionsregeln sind von den Nutzern selbst entwickelt und wurden in der Regel erst im nachhinein in schriftliche Form gefaßt. Bei der Entwicklung von vernetzten Computersystemen ging es in erster Linie um die Realisierung der technischen Interaktion, nicht um soziale Nutzung. Erst die Übernahme der Technik zu Zwecken, für die sie eigentlich nicht ausgelegt war, machte Regelungen zum zwischenmenschlichen Umgang notwendig. In den verschiedenen Diensten (Usenet, IRC usw.) wurde dies zu unterschiedlichen Zeitpunkten notwendig.

Netiquette ist nicht der einzige Versuch der Strukturierung und Steuerung im Internet. Es gibt andere Mechanismen, die Verhalten durch Software zu kontrollieren suchen, um dem Einzelnen erst gar nicht die Möglichkeit zu geben, sich falsch zu verhalten. Auch Möglichkeiten zur direkten Beteiligung an Entscheidungen, z.B. über öffentliche Foren zu technischen Standards oder Mechanismen zur Einrichtung neuer Gruppen im Usenet, sind im Netz entstanden. Diese Entscheidungsstrukturen sind sehr viel formaler und beziehen sich nicht explizit auf die Etikette, sondern auf administrative Entscheidungen. Letztendlich beruhen aber auch sie auf den selben Prinzipien von Selbstorganisation und Eigenverantwortlichkeit, die in allen Bereichen der Strukturbildung des Netzes zu finden sind, so auch in der Netiquette. Da es im folgenden speziell um die bewußten und expliziten sozialen Regelungen der Netzkommunikation geht, werden die Strukturen solcher Enscheidungsmechanismen sowie die immannenten, durch die Rechnerkommunikation selbst vorgegebenen Festschreibungen nur am Rande behandelt.

1.1 Community-Bildung
  Nur in schon bestehenden Gruppen ist es nötig, Regeln für das Verhalten untereinander aufzustellen oder implizite Regeln in Worte zu fassen. Andererseits könnte man auch behaupten, daß erst Verhaltensregeln, seien sie implizit oder explizit formuliert, eine Gruppe konstituieren. Übereinstimmend wird in der Forschung zum Thema Internet davon ausgegangen, daß Internetuser eine kulturelle Gemeinschaft bilden können[3]. Elizabeth Reid schreibt in "Electropolis" (1992) zur Gemeinschaft im IRC: "... internet users constitute a social network 'who share a common language, a shared web of virtual and textual significances that are substitutes for, and yet distinct from, the shared networks of meaning in the wider community'."[4] So gesehen bilden die User des Internet eine Gemeinschaft, die eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Wertesystem herausgebildet haben. Es handelt sich dabei nicht um eine große homogene Gemeinschaft, sondern um viele kleine Gruppen, die bestimmte Dienste des Internet nutzen und sich dort zu Interessengemeinschaften zusammenfinden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bezieht sich nicht auf das Internet als ganzes, sondern auf die unmittelbaren virtuellen Gemeinschaften im einzelnen, seien es asynchrone Newsgruppen oder Echtzeit-Chatsysteme. Die Eigenheiten des Mediums schaffen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Diensten, die sich auch auf die Art des Umgangs miteinander auswirken, so daß viele Verhaltensnormen im IRC mit denen im Usenet übereinstimmen. Welche Art von Gemeinschaften besonders zu einer Identifizierung einladen und welche Besonderheiten die einzelnen Dienste auszeichnen, wird später gezeigt werden.

Ein Ansatz, die Bildung von Gemeinschaften zu erklären, besteht darin, diese zu einem Nebenprodukt der technologischen Vernetzung von Computern, die von den Entwicklern nicht intendiert war, zu erklären. David beschreibt in seinem Text "PLATO: The Emergence of On-Line Community" (1994) die Entstehung einer elektronischen Gemeinschaft, die weit vor der Verbreitung des Internet stattgefunden hat. Die PLATO Gemeinschaft hat sich als Seiteneffekt der Rechnervernetzung und der daraus entstehenden Softwareentwicklung herausgebildet. Die Kommunikationsanwendungen waren zu Anfang nur als nebensächliche Werkzeuge angelegt, die eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Die Nutzer des Systems haben jedoch durch die praktische Verwendung anders entschieden. Ende der 80er Jahre, als das Rechnersystem aufgelöst wurde, bzw. im Internet aufging, wurde die Hälfte der Rechenzeit für Kommunikationsanwendungen benutzt. In diesem Einzelbeispiel, das auf eine kleine Zahl von Nutzern beschränkt blieb, läßt sich eine typische Entwicklung von vernetzten Rechnersystemen beobachten. Auch im Internet spielte die soziale Komponente zu Beginn eine untergeordnete Rolle, die erst im Laufe der Weiterentwicklung in den Vordergrund rückte. Ursprünglich Anfang der 70er Jahre war das Internet zum effizienteren Zugriff auf weitentfernte Systeme und Datenbestände konzipiert. Die Entwicklung zum Kommunikationmedium ist erst durch die tatsächliche Nutzung der User und ihren Bedürfnissen nach einem schnellen und billigen Kommunikationsmittel eingeläutet worden. Erst die virtuellen Gemeinschaften der zweiten Generation stellten schon bei der Konzeptionierung der Systeme das Soziale in den Vordergrund (z.B. The Well, die verschiedenen Modelle von Digitalen Städten u.a.).

1.2 Organisationsformen im Internet
  Die komplexe Organisationsstruktur des Internet ist für Außenstehende relativ undurchsichtig. Das läßt manchmal den Eindruck entstehen, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, in dem sich Kinderschänder, Neonazis und Selbstmordsekten die Hand reichen. Dieser Eindruck von Gesetz- und Regellosigkeit täuscht jedoch. Innerhalb dieser Gemeinschaft von miteinander verbundenen Rechnern besteht ein ausgeprägtes und komplexes System von Verhaltensregeln und Anweisungen. Das Internet stellt zwar eine informelle Gemeinschaft dar, in der Regelbildung spontan und selbstorganisierend stattfindet, ist aber auch gleichzeitig durch vielfältige Verknüpfungen mit den politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft verbunden.

Der Auslöser für die 'Geburt' des Internet ist in der Atmosphäre des kalten Krieges zu suchen, als die amerikanische Regierung ein stabiles Rechnernetz aufbauen wollte, das auch einen Atomschlag verkraften konnte. Um nicht durch Ausfälle einzelner Rechner das ganze Netz zu unterbrechen, wurde das Internet dezentral aufgebaut, so daß bei einem Ausfall eines Teils die übrigen Rechner unabhängig weiter arbeiten können. Deshalb gibt es außer den Vergabestellen für Domainnamen und IPnummern immer noch keine zentralen Regelungsstellen für das Netzgeschehen.

Dieses primäre Entwicklungsziel ist jedoch schnell in den Hintergrund getreten, als sich das Verteidigungsministerium zurückzog und Universitäten und Forschungseinrichtungen immer mehr die Entwicklung des Internet übernahmen. In den 70er Jahren waren es maßgeblich diese universitären Kulturen, die für die technische Weiterentwicklung verantwortlich zeichneten, und so hinterließen freiheitliche Ideologien wie die amerikanische Friedens- und Hippiebewegung sichtbare Zeichen, die nicht nur die soziale Atmosphäre[5] beeinflußten, sondern auch zu den technischen Spezifikationen beitrugen. Die Besitzstruktur der Internetknotenpunkte und Leitungen hat sich zwar längst von den Universitäten und Forschungseinrichtungen zu Telekommunikations- und Medienkonzernen verlagert. Die amerikanischen Universitäten und Forschungseinrichtungen haben immer jedoch noch einen starken Einfluß auf die Formulierung der Verhaltensregeln im Internet.

Was sind nun die Eigenheiten der Regelbildung im Cyberspace? Joel Reidenberg untersucht in seinem Aufsatz "Governing Networks and Rule-Making in Cyberspace" (1997) die Anwendbarkeit konventioneller, realweltlicher Regelungsmechanismen auf das Netz. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Regelbildung im Internet grundsätzlich anders funktioniert als in Analogie mit den Organisationsformen der "realen Welt" anzunehmen wäre. "Most attempts to define new rules for the development of the GII [Global Information Infrastructure, d.A.] rely on disintegrating concepts of territory and sector while ignoring the new network and technological borders that transcend national boundaries. The GII creates new models and sources for rules."[6] Die einfache Übernahme realweltlicher Gesetzgebungen schlägt in jedem Fall fehl, da sie die nationale Souveränität auf ein Medium auszudehnen sucht, das diese gerade dekonstruiert.

Im Internet gibt es keine zentrale Instanz, die eine "offizielle" Gesetzgebung durchsetzen würde. Die jeweiligen nationalen Gesetzgebungen sind zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber aufgrund der heterogenen internationalen Strukturen nicht ohne weiteres übertragbar. Die existierenden Kontrollmechanismen im Netz lassen sich nicht leicht festmachen, da eine offizielle Kodierung nicht existiert. Diese Aufgabe übernehmen informelle Organisationsformen, die einerseits von den Universitäten und Forschungseinrichtungen getragen werden, andererseits, wie schon erwähnt, vermehrt durch die Interessen der multinationalen Telekommunikationskonzerne gesteuert werden. Beim Zusammentreffen nationaler Gesetzgebungen und der Regeln der "Global Information Infrastructure" können Konflikte entstehen. Zu entwickelnde Steuerungsmechanismen können nur funktionieren, wenn diese spezifischen Eigenschaften des transnationalen Informationsnetzwerks Berücksichtigung finden.

Grenzen im Internet werden nicht national definiert, sondern durch Technologie und das Wissen, diese zu benutzen. Das Internet ist in erster Linie ein amerikanisch/westeuropäisches Netz. Afrika und Südamerika sind weiße Flecken auf der Internetlandkarte, Asien und die ehemaligen Ostblockstaaten, aber auch Südeuropa fangen erst an sich in die Strukturen des Netzes einzuschreiben. Der Besitz von Personalcomputern bei der normalen Bevölkerung ist dort sehr gering und auch das Fachwissen, um diese technischen Mittel zu benutzen, nicht sehr verbreitet. Aber auch in den technologiereichen Ländern, die das Internet zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufrechterhalten, sind bestimmte Bevölkerungsgruppen zu großen Teilen ausgeschlossen. Demokratisierung und Öffnung findet im Netz nur bis zu gewissen Grenzen statt, die dann zum Teil an anderen Demarkationslinien wieder aufgebaut werden.

In den USA und West-Europa wirken sich die Besitzverhältnisse der Onlinedienste und der Netztopologie auf die Möglichkeiten der Kommunikation aus. Zum Beispiel sind in den kommerziellen Onlinediensten, wie AOL oder CompuServe, die Diskussionen der User untereinander sehr stark von den vorgegebenen Strukturen und Foren geprägt. Oft sind die Internet-Newsgruppen nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich[7]. Bei CompuServe ist der Emailbezug begrenzt auf 100 Emails. Wenn ein aktiver Internetbenutzer eine Woche seine Mail nicht abholen kann, kommen leicht mehr als 100 zusammen. Onlinedienste können mit ihren Usern eigene Verträge abschließen, in denen der Bezug von Informationen, der Schutz der Privatsphäre und des geistigen Eigentums anders geregelt wird als im Rahmen der jeweiligen nationalen Gesetzgebung oder im Internet.

Da keine zentrale Autorität existiert, spricht im Netz jeder für sich selbst. Es hat sich im Laufe der Jahre ein Modell der Organisation herausgebildet, das auf Selbstorganisation beruht, nicht auf einem Repräsentationsmodell. Personen, die sich durch Interesse, Wissen und/oder technische Ausrüstung in einer Gemeinschaft hervortun, bestimmen gemeinsam die weitere Entwicklung. Im Usenet ist diese Organisationsform am weitesten formalisiert und verschriftlicht und bietet daher einen dankbaren Untersuchungsgegenstand[8].

Im Gegensatz zu den mehr formalen Organisationsformen ist die Rolle der Netiquette die der Regelung der individuellen Umgangsformen in virtuellen Gemeinschaften. Sie ist aus den Erfahrungen mit der computervermittelten Kommunikation entwickelt worden und von den verschiedenen Gruppen des Internet (auch anderer Computernetzwerke) übernommen und modifiziert worden. Sie tritt in den Fällen ein, in denen technische Einschränkungen nicht greifen und die über Regelungen von Organisationsfragen hinausgehen. Genauso wie im realen Leben sind akzeptierte und nicht-akzeptierte Verhaltensweisen nicht genau festzulegen und unterliegen einem ständigen Wandel. Während jedoch in den westlichen säkularisierten Gesellschaften die Bedeutung von Verhaltensregeln abnimmt und niemand mehr ernsthaft an einem allgemeingültigen Verhaltenskanon festhalten möchte, erzeugt die Neuartigkeit der Kommunikationsformen im Internet einen Bedarf nach verbindlichen Hinweisen zum richtigen Verhalten.

2 Sprache im Internet
  Die Gemeinschaften, die im Internet entstehen, beruhen auf Sprache, genauer schriftlicher Sprache, sei es asynchrone (ungleichzeitige) Kommunikation wie bei Email oder Netnews oder synchrone (gleichzeitige) wie beim IRC, Talk oder MUDs/MOOs. Sowohl bei synchronen als auch bei asynchronen Diensten entsteht das Bild des Anderen aufgrund seiner schriftlichen Äußerungen. Nur durch den Akt des Schreibens/Sprechens existiert der Einzelne, und nur durch den Akt des Sprechens entsteht die Gemeinschaft, indem sich die Einzelnen der gemeinsamen Anschauung auf die Welt und die Dinge versichern.

"[...] community is contingent on communication whereby 'the process of communication is in fact the process of community: the sharing of common meanings, and thence common activities and purposes; the offering, reception and comparison of new meaning, leading to the tensions and achievements of growth and change'."[9]

Daraus entstehen akzeptierte Verhaltensweisen, welche die Grenze zwischen innen und außen konstituieren.

Sprache dient nicht nur dazu, die Welt zu beschreiben, sondern auch dazu, Handlungen zu vollziehen. Mit der Aussage "Ich werde kommen" sagen wir nicht die Zukunft voraus, sondern machen unter bestimmten Umständen ein Versprechen, das den Empfänger dazu bringt, darauf zu reagieren. In der Linguistik wird diese pragmatische Eigenschaft von Sprache meist auf gesprochenene Sprache bezogen. Im Internet findet jedoch die gesamte Kommunikation über Schriftsprache statt. Es gibt zwar einige Programme, die auch Bilder und Töne übertragen (CU-SeeMe), diese verlangen jedoch einen relativ hohen technischen Aufwand. Damit kommt in einer Zeit, in der allenthalben durch die Medialisierung der Gesellschaft der Tod der Schriftkultur herbeigeredet wird, gerade aus einem dieser "neuen Medien" die Rettung dieser traditionellen abendländischen Kulturtechnik. Im Augenblick scheint es, daß die alte westliche Schriftkultur eine Auffrischung durch die elektronische Kommunikation erhalten hat, die in vielem an die Briefkultur des 17./18. Jahrhunderts erinnert.

Die Eigenheiten computervermittelter Kommunikation, abgekürzt CMC[10], werden oft als selbstverständlich vorausgesetzt, ohne die Konsequenzen, die daraus erwachsen, zu bedenken. Im folgenden sollen einige dieser Eigenschaften näher beleuchtet werden. Die Spezifika der Technik, wie die Übertragungsmethode und die Verbreitungsgeschwindigkeit, die Aufschreibetechnik des Tippens im Gegensatz zu dem einmaligen Schriftbild der individuellen Handschrift, erzeugen einige Unterschiede, ohne deren Kenntnis viele der Netiquetterichtlinien unverständlich erscheinen mögen.

2.1 *Schriftlich sprechen*
  Sprachgebrauch im Netz verbindet die Eigenschaften von geschriebener und gesprochener Sprache. In der folgenden Tabelle wurden Begriffe, die geschriebener und gesprochener Sprache zugeordnet werden, auf ihre Anwendbarkeit auf den Sprachgebrauch im Netz geprüft. Die Sprache im Netz ist zwar geschriebene Sprache, viele ihrer Charakteristika entsprechen jedoch denen von gesprochener Sprache. Die Eigenschaften der Schriftsprache werden im Netzgebrauch gemeinhin als Behinderungen wahrgenommen, denn Schreiben ist langsamer und informationsärmer als Reden inklusive aller parallelen non-verbalen Informationen. Trotzdem kann man nicht sagen, daß es sich deshalb im Netz einfach um "speech written down"[11] handelt. Dazu sind die Veränderungen durch den Schriftcharakter zu gravierend. Diese Verbindung kann auch zu einer neuen Form der Sprachverwendung führen, die im besten Falle die Vorteile beider Kommunikationsformen verbindet.

Einige Dichotomien zwischen geschriebener und gesprochener Sprache im Verhältnis zum Sprachgebrauch im Netz:

gesprochene         geschriebene        Sprachgebrauch im Netz    
Sprache             Sprache                                       
akustisch           visuell             visuell                   
flüchtig            dauerhaft           flüchtig                  
beweglich           starr               beweglich                 
rhythmisch          geordnet            geordnet                  
subjektiv           objektiv            subjektiv                 
ungenau             quantifizierend     ungenau                   
voll/resonant       abstrakt            abstrakt                  
zeitlich            räumlich            zeitlich und räumlich     
gegenwärtig         zeitlos             gegenwärtig               
teilnehmend         entfremdend         teilnehmend               
gemeinschaftlich    individuell         gemeinschaftlich und      
                                        individuell               

nach D. Chandler: Biases of the Ear and of the Eye.[12]

2.2 Eigenschaften von CMC
  Kommunikation im Netz unterscheidet sich in erster Linie durch das Fehlen einiger Merkmale von face-to-face Kommunikation. Elizabeth Reid stellt mit Kiesler, Siegel und McGuire vier Eigenschaften fest, die computervermittelte Kommunikation von konventionellen Formen der Interaktion unterscheidet: das Fehlen von regulierendem Feedback, dramaturgische Schwäche, wenige Anhaltspunkte für sozialen Status und soziale Anonymität[13]. Auf einige möchte ich im folgenden eingehen.

· Fehlen von regulierendem Feedback

Kommunikation im Internet ist nur auf Worte beschränkt. Jede Art von Metakommunikation wie Tonfall und Gesichtsausdruck, aber oft auch situationsbezogener Kontext ist nicht vorhanden. Das bedeutet, daß man nicht erkennen kann, wie jemand auf eine Bemerkung reagiert. Man weiß es erst, wenn der Gegenüber seine Gefühle in Worte faßt, und dann kann es schon zu spät sein. Die Person auf der anderen Seite wird nicht unbedingt als Mensch wahrgenommen, so daß Höflichkeitsmechanismen gar nicht erst eingesetzen. Das kann bei manchen Menschen zu Verhaltensweisen führen, die sie im realen Leben nie in Betracht geziehen würden, die jedoch im Netz zu ihrem selbstverständlichen Verhaltensrepertoire gehören.

· Fehlen von sozialem Status

Diskussionsforen wie Usenet oder IRC werden von Menschen mit verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen besucht. Die meisten Teilnehmer kennen sich nicht persönlich und können auch ihre tatsächliche Identität verbergen, so daß eine Einordnung in eine soziale Schicht nicht möglich ist. Hierarchien aufgrund von Alter, Klasse, Rasse oder Geschlecht können nicht ohne weiteres vom Real Life übertragen werden. In akademischen Newsgroups sprechen Studenten, Dozenten, Professoren und auch interessierte Laien über Themen, die ansonsten nicht aus dem akademischen Umfeld herauskommen.

· Soziale Anonymität

Der Einzelne ist im Netz trotz gewisser Spuren, die er hinterlassen muß, wie die Adresse des Rechners, über den er eingeloggt ist, zum größten Teil anonym. Er kann sich in MOOs oder im IRC eine vollkommen neue Identität zulegen, sein Äußeres phantasievoll verbessern, sein Geschlecht ändern oder sich als nicht-menschliches Wesen neu erfinden. Dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Diese Anonymität kann zusammen mit den anderen obengenannten Eigenschaften zu einem Verlust von sozialen Rücksichtnahmen führen.

2.3 Sprachstile
  Um Einschränkungen bezüglich der fehlenden Metakommunikation abzumildern, haben sich im Laufe der Zeit einige Besonderheiten im Sprachstil bei CMC entwickelt. Diese speziellen Codes haben sich über die Jahre hinweg aus den seit den 70er Jahren bestehenden Hackerkulturen[14] herauskristalisiert und wurden von den Teilnehmern der verschiedenen Dienste des Internet übernommen und ausgebaut. Vor allem in den Gemeinschaften des Usenet, des IRC und der MOOs entstanden Slangs, die auch auf die Alltagskultur abgefärbt haben. Dabei werden manche Sprachformen hauptsächlich in bestimmten Diensten benutzt: Smileys z.B. sind eher in synchronen Interaktionsformen wie dem IRC oder MOOs im Gebrauch, während Akronyme eher der Usenetgemeinde oder anderen asynchronen elektronischen Diskussionsforen zugehören. Die Grenzen werden jedoch nicht streng eingehalten, da Netzuser nicht nur einen Service benutzen.

Einige Sprachformen, wie sie für die Internetnutzer gebräuchlich sind, beinhalten:

· Smileys

In einem Gespräch spielt sich sehr viel über nichtsprachliche Zeichen wie Lächeln, Stirnrunzeln oder andere Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung, die nicht sprachlicher Natur sind, ab. So ist die Bedeutung eines Satzes auch abhängig vom Tonfall und Kontext, in dem er gebraucht wird. Um diesem Manko einer textbasierten Konversation abzuhelfen, wurden Smileys erfunden. Das sind Zeichen, die seitlich gelesen, Auskunft geben über die Intention des Senders. Das Zeichen :-) bedeutet z.B., daß die Bemerkung, auf die es folgt, scherzhaft gemeint ist. Es gibt Hunderte dieser Smileys, von denen die wenigsten jedoch regelmäßig gebraucht werden[15].

· Beschreibungen von Gefühlslagen

Für nonverbale Kommunikation, die nicht mit Smileys abgedeckt wird, oder körperliche Aktionen gibt es die Übereinkunft, sie in Sternchen '*' zu setzen, wie zum Beispiel *kicher*. Das können auch längere Ausdrücke sein, die eine Reaktion auf die Aussage eines der Teilnehmer sind. Dies ist ebenfalls eine Ausdrucksform, die hauptsächlich bei synchroner Kommunikation wie IRC verwendet wird.

· Betonung durch unterschiedliche Schreibungen

Im Internet wird der ASCII-Zeichensatz verwendet, was bedeutet, daß Formatierungen, die bestimmte Emphase oder Betonung darstellen könnten, nicht existieren. Das heißt übrigens auch, daß nationale Sonderzeichen nicht dargestellt werden können. Es haben sich daher einige Möglichkeiten entwickelt, um dies nachzubilden. Durch Groß- und Kleinschreibung können bestimmte Satzteile betont werden. Wenn ein Satz in Großbuchstaben geschrieben wird, bedeutet das, daß der Sprecher schreit. Eine andere Möglichkeit der Betonung, die dezenter ist, besteht darin, vor und nach dem Wort, das herausgestellt werden soll, Unterstriche zu verwenden[16].

· Akronyme

Akronyme (Abkürzungen oft benutzter Floskeln) werden im Internet sehr oft verwendet. Ein Grund dafür ist, daß es bei Echtzeitkommunikation wie IRC oder MOOs auf die Tippgeschwindigkeit ankommt, um mit dem Gespräch mitzukommen. Mit den Abkürzungen spart man einfach Zeit. Aber auch in Emails und im Usenet werden diese Abkürzungen sehr oft benutzt. Das Wissen um ihre Bedeutung zeigt ein gewisses Insiderwissen und gehört zum Netzjargon.

Einige Beispiele:
FAQ = Frequently Asked Questions
IMHO = In My Humble Opinion
BTW = By The Way
IRL = In Real Life (auch nur RL = Real Life)
RTFM = Read The Fucking Manual
ROTFL = Rolling On The Floor Laughing[17]

Eine weitere Eigenheit, die auf der elektronischen Verbreitung beruht, sich aber auch auf die Art und Weise der Kommunikation auswirkt, ist die schnelle Verbreitungsgeschwindigkeit auch bei asynchroner Kommunikation. Eine Email ist innerhalb weniger Minuten bei ihrem Empfänger, eine Nachricht an eine Usenetgruppe ebenfalls. Diese Schnelligkeit der Auslieferung führt dazu, daß bei der Benutzung von Email ein informeller Schreibsstil vorherrscht. Die Gefahr dabei ist, daß dem Sender eine Formulierung entschlüpft, die er oder sie nicht so gemeint hat, die jedoch nachdem sie losgeschickt wurde, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

In MOOs oder im IRC sind die Teilnehmer, die sich auf verschiedenen Kontinenten befinden können, gleichzeitig eingeloggt und können die Zeilen der anderen in dem Augenblick lesen, wenn der Sender auf seine Returntaste gedrückt hat, lesen. Dabei entstehen unvermeidlich mehr Tippfehler, da man, um mit seiner Anmerkung nicht zu spät zu kommen, eine gewisse Geschwindigkeit einhalten muß.

Wie bereits deutlich wurde, stammen viele der Ausdrücke aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. In der muttersprachlichen elektronischen Kommunikation werden englischsprachige Akronyme verwendet, Fachtermini aus dem Englischen übernommen und auch gewöhnliche Worte für Tätigkeiten, die mit Computern zu tun haben, werden in die eigene Muttersprache überführt. Die amerikanische Sprache hat in der internationalen Internetgemeinschaft, noch weitergehender als in der übrigen Kultur, die Funktion der Lingua Franca übernommen, da sie im Regelfall die gemeinsame Fremdsprache der meisten User ist. Das hat Auswirkungen auf den alltäglichen Sprachgebrauch und wird sicherlich in Zukunft, wenn die Nutzung des Internet sich ausweitet, noch wichtiger werden.

Hier kann natürlich keine linguistische Analyse des Sprachgebrauchs im Netz im Unterschied zum konventionellen Sprachgebrauch geleistet werden. Es sollen nur einige Besonderheiten angerissen werden, die für die späteren Einzeluntersuchung verschiedener Netiquetterichtlinien bedeutsam sind.

3 Netiquette-Tradition und Entwicklungsgeschichte
 
3.1 Geschichtlichkeit
  Eine Geschichte des Netzes zu schreiben ist schwierig. Es scheint dem Außenstehenden zwar, daß, da die Anfänge des Netzes noch nicht weit in der Vergangenheit liegen, es einfach sein müßte, Dokumente aus dieser Zeit zu beschaffen, die ja digital gespeichert werden können. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es wird oft gesagt, daß ein Jahr im Netz wie 10 Jahre in der Wirklichkeit wären. Netzpioniere, die die Anfangsjahre des Netzes mitgestaltet haben, sind mit 30 Jahren so etwas wie Veteranen. Eine Zeit, die nur zehn Jahre zurückliegt, kommt denen, die daran teilgenommen haben, wie graue Vorzeit vor, aus der seltsam anmutende Geschichten und Mythen erzählt werden.

Ein Grund dafür ist die ungeheure Geschwindigkeit der technischen Entwicklung. Aber auch bestimmte Eigenschaften digital gespeicherter Daten führen dazu, daß der Wissenschaftlerin einige Steine in den Weg gelegt werden. Das größte Problem, auf das man trifft, ist die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, alte Texte im Internet zu finden. Zum Beispiel werden alte Versionen von Netiquetterichtlinien nicht aufbewahrt, sondern verändert bzw. durch Updates ersetzt. Digital gespeicherte Texte können wie alles digitale Material "benutzt" werden, umgeschrieben, verändert, gesamplet und kollagiert[18]. Eine Archivierung von alten Versionen findet nur ausnahmsweise statt.

Es kann nicht nur der Verfasser Daten verändern. Der weltweite Zugang läßt jeden Interessierten auf Daten zugreifen, die er dann in seiner eigenen Version für andere anbieten kann. Der Begriff des Originals verschwimmt auf diese Weise, da der ursprüngliche Text (Bild/Sound) nicht mehr auszumachen ist. Schrift verliert auch in ihrer Form als Publikationsmedium ihre bewahrende Eigenschaft und entwickelt sich von einem Speichermedium zu einem Kommunikationsmedium.

Dies bedeutet, daß die Entwicklung der Netiquetterichtlinien nicht am Material selbst dargestellt werden kann, sondern aus den heutigen Aussagen rekonstruiert werden muß. Es gibt nur sehr wenige Dokumente, die älter als 4 bis 5 Jahre sind. Bei einer plötzlichen Veränderung der Zusammensetzung der Internetnutzer kann es jedoch nötig sein, auf die Schnelle neue Nutzungsregeln herauszugeben, während sie davor und danach lange Zeit bestehen bleiben können. Daher lassen sich ohne genaue Kenntnis des Kontextes und ohne 'historisches' Material nur eingeschränkt Entwicklungslinien ablesen.

3.2 Geschichte der Netiquette
  1969 begann eine Forschungsgruppe des amerikanischen Verteidigungsministeriums, die Advanced Research Project Agency (ARPA), mit verschiedenen anderen universitären Forschungseinrichtungen ein dezentrales Rechnernetz aufzubauen. Verschiedene Hostcomputer und Netzwerke unterschiedlicher universitärer und industrieller Forschungsgruppen wurden daran angeschlossen. Mit der Zeit rückte das militärische Interesse in den Hintergrund und das System wurde hauptsächlich für Forschung und nichtgeheime Verteidigungsanwendungen benutzt. 1983 schließlich spaltete sich der militärische Teil des ARPANET ab zum MILNET. Durch die Anbindung des NSFNET (das Netz der National Science Foundation) an das ARPANET Mitte der 80er Jahre verstärkt sich der universitäre Forschungscharakter. Kommerzielle Nutzung wurde durch die "Acceptable Use Policy" ausgeschlossen, was bedeutete, daß jede Art von Werbung und Anzeigen nicht erlaubt war. Trotzdem durften sich immer mehr regionale und private Internetprovider an das Netz anschließen, über die dann auch Unternehmen einen Zugang bekamen. Der Charakter des Forschungsnetzes blieb zwar noch eine Zeitlang erhalten, aber spätestens mit der Einführung des World Wide Web 1993 wurde die Transformation zu einem allgemein zugänglichen weltweiten Informations- und Kommunikationsnetz eingeleitet.

Die Veränderung des Charakters des Internet von einem akademischen zu einem gemischten Publikum hatte Konsequenzen, die sich in der Störung der sich über die Jahre entwickelten Umgangsformen in der Netzcommunity äußerten. Neue Benutzerschichten strömten ins Netz, die von den Regeln, die sich mit der Zeit entwickelt hatten, nichts wußten und die sich mit den Spezifika des Mediums, das bestimmte Arten des sprachlichen Verhaltens nahelegte, nicht auskannten.

Die Schwerpunkte der verschiedenen Regelungen, seien es Netiquetteregelungen oder Ethic Guidelines, lagen in den 80er Jahren hauptsächlich auf der verantwortungsvollen Nutzung der Ressourcen des Internet und weniger auf Erklärungen sozialer Umgangsformen im Netz. Auch entstanden viele Schriftstücke zu "Responsibilities of Host and Network Managers" (RFC 1173, August 1990) oder es wurden die "Ethics and the Internet" (RFC 1087, Januar 1989) erläutert. Die Trennung zwischen Nutzern und Administratoren, Computer-Laien und Fachkundigen war noch nicht sehr ausgeprägt. Anscheinend gab es innerhalb dieser Subkultur von (vorwiegend amerikanischen) Studenten und Wissenschaftlern weniger Spannungen, die aufgrund von Mißverständnissen sprachlicher oder kultureller Art entstanden, aber mehr Mißbrauch der technischen Ressourcen.

Trotzdem wurden auch in den 80er Jahren, als das Internet noch aus relativ einheitlichen Nutzergruppen bestand, schriftliche Regelwerke, die den Umgang miteinander beschrieben, für nötig erachtet. Sie entwickelten sich zuerst im Usenet, das bis Mitte der 80er Jahre kein Teil des Internet war sondern ein separates Netzwerk. Dort bildeten sich als erstes Gemeinschaften von Menschen heraus, die nicht nur an technischen Themen interessiert waren. Die Regelungen des Usenet wurden dann später von anderen Diensten, in denen Bedarf dafür entstand, übernommen und modifiziert. Diese Regeln wurden Netiquette genannt, eine Zusammensetzung aus den Worten "Net" und "Etiquette". Der genaue historische Ursprung des Wortes kann nicht ausgemacht werden. Es scheint schon zu Beginn der 80er Jahre benützt worden zu sein. Brad Templeton, der Autor einer der frühen, immer noch kursierenden Regeln "Emily Postnews answers your Questions on Netiquette" berichtet, 1986 oder 1987, als er den "Emily Postnews"-Artikel schrieb, wurde der Begriff schon einige Jahre im Netz[19] benutzt.

Die schriftliche Fixierung mündlicher Traditionen entstand als Versuch der Weitergabe eines historisch gewachsenen Wissens an neue Benutzerschichten. Dadurch wurde versucht, die Lebensweise der virtuellen Gemeinschaften trotz eines Zustroms neuer Mitglieder zu erhalten und zu propagieren. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in einem Medium, das auf schriftlicher Sprache als Kommunikationsmittel basiert, ab einem gewissen Punkt der Wiederholung von Kommunikationsleistungen (individueller und punktueller Formulierung von Verhaltenswünschen der Gemeinschaft) ein allgemeiner und für ein breiteres Publikum formulierter Kodex entsteht (man möchte sich ja nicht immer wiederholen). Die meisten der heute noch verbreiteten Netiquetten stammen aus den Jahren 1993-95, was mit dem Zeitraum des Internethype und des großen Zustroms neuer Nutzer übereinstimmt.

3.3 Ereignisbezogene Regelformulierung per Request for Comments 1087: Ethics and the Internet
  RFCs (Request for Comments) gehören zu den 'offiziellsten' Dokumenten, die es im an offiziellen Organen armen Internet gibt. Sie dokumentieren den Stand sowohl der technischen Spezifikationen als auch der sozialen Übereinkünfte. Von den gegenwärtig etwa 2200 RFCs liegt der Anteil der organisatorischen und sozialen Erörterungen, wozu auch Netiquetterichtlinien zählen, allerdings im Promillebereich. RFCs begleiteten die Entwicklung des Internet von Beginn an. Sie sind "Internet offiziell", tragen jedoch keinen Gesetzescharakter, was ihre Durchsetzbarkeit anbetrifft. RFCs fassen bestimmte Übereinkünfte zusammen. Ihre Umsetzung geschieht auf freiwilliger Basis.

Entscheidungen zu Verhaltensweisen im Netz sind immer im Anschluß an konkrete Ereignisse gefallen, nicht vorher. Diese Pragmatik ist ein wesentlicher Teil der Internetideologie. Besonders deutlich wird das an einem historischen Ereignis, das als ein Wendepunkt in der Netzgeschichte gelten kann, da es zum ersten Mal die Verwundbarkeit des Netzes deutlich machte und die Abhängigkeit vieler Menschen vom Netz erhellte. Im November 1988 wurden die meisten der Unix-Hostcomputer von einem sich selbst replizierenden Programm befallen, das in die Systeme eindrang und sie zum Absturz brachte. Der "Internet Worm" wurde in einer gemeinsamen Anstrengung der Computerwissenschaftler der amerikanischen Universitäten MIT, Berkeley und vieler anderer innerhalb von drei Tagen unwirksam gemacht[20].

Im Januar 1989, zwei Monate später, erscheint das RFC 1087: "Ethics and the Internet" als Stellungnahme des Internet Activities Board (IAB) zum verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen des Internet. Darin werden die Nutzer des Netzes als "an increasingly widespread, multi-disciplinary community of researchers, ranging, inter alia, from computer scientists and electrical engineers to mathemathicians, physicists, medical researchers, chemists, astronomers and space scientists" beschrieben. Das Netz ist zu diesem Zeitpunkt in erster Linie ein akademisches Netzwerk, das nur marginal von anderen Gruppen benutzt wird. Die Argumentationslinie des IAB geht davon aus, daß das Internet Allgemeingut einer Community ist, wie das Straßennetz, die Wasser- und die Energieversorgungssysteme. Das verläßliche Funktionieren dieser gemeinsamen Struktur liegt im Interesse aller Nutzer, Administratoren und Sponsoren. Ihr Nutzen beruht auf der Verbreitung und Zuverlässigkeit des Zugangs. Wenn dies bedroht ist, wird die ganze Infrastruktur in Gefahr gebracht. Jede Art von Mißbrauch gefährdet die Finanzierung des Netzes, da es die Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur erschwert. Der Zugang zum Internet ist ein Privileg und sollte als solches von all seinen Usern wahrgenommen werden. Konkret werden folgende Aktivitäten als unethisch und nicht akzeptabel gekennzeichnet:

(a) seeks to gain unauthorized access to the resources of the Internet,

(b) disrupts the intended use of the Internet,

(c) wastes resources (people, capacity, computer) through such actions,

(d) destroys the integrity of computer-based information,

and/or

(e) compromises the privacy of users.

Forscher, die das Internet als Versuchsfeld benutzten wollen, müssen sich über die Folgen ihrer Experimente im klaren sein und mögliche Fehlerquellen, die das ganze Netz negativ betreffen könnten, ausschalten. Zwar werden auch vom IAB und anderen wichtigen Betreibern, technische und administrative Maßnahmen ergriffen, die das Internet gegen Eindringlinge und Störungen sicherer machen. Dabei sind jedoch die Kosten für solche Mechanismen gegen den Nutzen abzuwägen. Insbesondere gibt das RFC zu beachten, daß Sicherungsmechanismen nicht den eigentlichen Zweck des Internet, nämlich den freien Fluß der Informationen zu ermöglichen, einschränken sollen. Daher liegt das Wohlergehen des Internet letztendlich in der Hand seiner User, deren Eigenverantwortung den Mißbrauch der Ressourcen und Störungen der Infrastruktur nicht zulassen soll.

4 Netiquetten
  Netiquetteregelungen sind aus dem konkreten Bedürfnis entstanden, auf wiederholte Fragen oder wiederholtes Fehlverhalten anderer Nutzer zu reagieren. Sie machen konkrete Vorschläge, was angemessenes Verhalten ist und was nicht.

Es gibt Netiquetten für einzelne Dienste, wie Netnews, IRC oder MOOs/MUDs, aber auch allgemeine Einführungen für das Internet als ganzes. Die Internet Engineering Task Force (IETF) hat "Netiquette Guidelines" herausgegeben. Unzählige New Users Guides erklären den Umgang mit den verschiedenen Diensten und behandeln dabei auch die Netiquette[21]. Im Hilfemenü des WWW-Browser Netscape befindet sich sogar ein Unterpunkt dieses Namens, hinter dem sich allerdings eher spärliche Richtlinien zu Netnews[22] verbergen. Nichtsdestotrotz scheint das Thema den Entwicklern von Netscape wichtig genug gewesen zu sein, um es in die Menüleiste mitaufzunehmen.

Mit der Einführung des WWW stiegen die Nutzerzahlen exponentiell und es wurde wichtig, den Neuankömmlingen die gewachsene Kultur des Internet zu vermitteln. Die meisten der hier genannten Netiquetten erschienen um 1995. Sie werden, wenn es um das richtige Verhalten im Netz geht, immer noch als Referenzen benutzt und bei Bedarf von verschiedenen Gemeinschaften übernommen und an die Gegebenheiten angepaßt. Es gibt wenig neue Netiquetten. Das läßt schließen, daß sich einerseits die Situation wieder beruhigt hat und sich das Netz auf einen ständigen Zustrom neuer Nutzer eingestellt hat.

Die einzelnen Regeln lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: 1. Richtlinien für Verhalten gegenüber dem Netz und seinen Ressourcen und 2. Richtlinien für kommunikatives Verhalten gegenüber anderen Menschen. Auch Gesetze wie Datenschutz und Copyright können in Netiquetten behandelt werden. Regelungen, die in erster Linie Netzressourcen schützen wollen, können gleichzeitig als kommunikative Regeln wahrgenommen werden: Spam - unerwünschte elektronische Werbung - ist auch eine Belästigung des einzelnen Nutzers und nicht nur Verschwendung von Ressourcen. Umgekehrt haben Kommunikationsregeln auch unter dem Gesichtspunkt der Netznutzung einen Sinn, wie z.B. die Konventionen zum Zitieren fremder Mails oder dem Anhängen von Signatures (einer Art elektronischer Briefkopf, nur daß er an eine Mail angehängt wird). Je länger man sich im Netz aufhält, desto mehr werden auch netzwerkorientierte Regeln als persönliche "Beleidigung" und Verletzung der eigenen Grenzen verstanden, vor allem wenn der Nutzer gleichzeitig ein eigenes Informations- oder Kommunikationssystem betreibt.

4.1 Grundregeln der Netiquette: RFC 1855 (1995)
  Das RFC 1855 behandelt "minimale Richtlinien zur Netzwerk Etikette". Schon im ersten Absatz wird der unverbindliche Charakter des Schriftstückes betont und ausdrücklich festgestellt, daß es keinen Internetstandard darstellt. Das Dokument soll eine Richtlinie für Organisationen bieten, die diese nach ihren eigenen Bedürfnissen umschreiben und anpassen können. Es kann auch dem einzelnen User oder Systemadministrator eine Grundlage dafür geben, welches Verhalten im Netz angemessen ist.

Die "Netiquette Guidelines" beschäftigen sich mit allen wesentlichen Aspekten der Kommunikation im Internet. Netzdienste werden in die drei Kategorien "One-to-One Communication", zu der Email und Talk zählen, "One-to-Many Communication", wie Netnews und Mailinglisten und "Information Services", z.B. FTP, WWW und Telnet, gegliedert. Es werden sowohl Richtlinien für Systemadministratoren als auch für Endnutzer berücksichtigt. Der Schwerpunkt liegt aber auf userseitiger Netiquette. Internet Relay Chat kommt als eigener Dienst im RFC nicht vor, vermutlich weil dieser Dienst erst 1989 in Finnland entwickelt wurde und von der US-amerikanisch geprägten IETF seinerzeit noch nicht als einer der großen Dienste wahrgenommen wurde.

Im folgenden werden die wichtigsten Regelungen dargestellt. Sie finden sich in den verschiedensten Diensten mehr oder weniger ähnlich und mit unterschiedlichen Schwerpunkten wieder. Bei Punkten, die vor allem auf einen bestimmten Dienst zutreffen wurde dies gekennzeichnet.

4.1.1 Grundregeln - Kommunikatives Verhalten
  · Auf der anderen Seite sitzt ein Mensch, der seine Vorlieben und Abneigungen hat. Man sollte immer daran denken, daß das Gegenüber andere Moralvorstellungen haben kann. Genauso sollte man, wenn man durch eine Aussage beleidigt wird, diese ignorieren und keinen Kreuzzug zur Verteidigung seiner Ansichten starten. Bei Mailinglisten und News ist es wichtig, das Publikum zu beachten, für das man schreibt.

· Man sollte die Einschränkungen einer Kommunikationsform, die nur über Schriftsprache als Ausdrucksmittel verfügt, immer im Gedächtnis behalten. Schreibweisen, um Gefühle oder Tonfall wie Betonung oder Ironie auszudrücken, z.B. Unterstriche oder Sternchen zu Betonung und Smileys zur Indikation von Sarkasmus oder Ironie, sind wenigstens ein kleiner Hinweis, wie mehrdeutige Ausdrücke gemeint sein sollen.

· Flaming - persönliche Angriffe in einer Auseinandersetzung über ein kontroverses Thema - werden nicht gerne gesehen, obwohl sie manchmal nicht zu vermeiden sind. Postings sollten kurz und thematisch passend sein und nicht andere auf unwesentliche Dinge wie Rechtschreibfehler aufmerksam machen. (NEWS)

· Es gibt bestimmte Konventionen wie man im Internet zitiert. Gerade bei Diskussionsgruppen gibt es oft ein beträchtliches Artikelaufkommen, so daß das Anführen des Bezugsartikels notwendig wird. Die Bezüge des vorherigen Artikels sollen zusammengefaßt, jedoch nicht der ganze Artikel zitiert werden. Man sollte ebenfalls überlegen, ob zu bestimmten Artikeln eine persönliche Antwort nicht sinnvoller ist, als in die Gruppe oder die Liste zu posten. (NEWS)

· Im IRC und in MUDs bestehen Regeln zum Verhalten im Channel bzw. im Raum:

- Man sollte beim Betreten und Verlassen eines Raumes bzw. eines Channels grüßen und sich verabschieden. Dies sollte jedoch nicht durch ein Programm sondern persönlich geschehen.

- Man sollte akzeptieren, daß fremde Leute im IRC oder MUD nicht antworten, wenn man sie anspricht.

- In vielen virtuellen Gemeinschaften erschaffen die Nutzer eine neue Persönlichkeit. Daran sollte man sich halten und die Nicks oder Pseudonyme in Online-Konversation benutzen, auch wenn man den echten Namen kennt.

- Man sollte Leute im IRC oder MUD nicht sofort nach persönlichen Sachen fragen.

4.1.2 Dienstspezifische kommunikative Regelungen
  · Man sollte sich die Zeit nehmen, die Grundlagen des Clientprogramms und der Funktion des Netzwerks zu lernen, z.B. wie ein Mailprogramm benutzt wird, was die verschiedenen Headerzeilen bedeuten, wie der Text formatiert wird usw. Bevor man in einer Newsgruppe Fragen stellt, sollte man die Manuals und FAQs (Frequently Asked Questions) lesen. User, die schon länger im Netz sind, haben dafür schon ein Akronym: RTFM = Read The Fucking Manual (in amerikanischen offiziellen Quellen wird F als fine übersetzt). Es ist äußerst störend, immer wieder die gleichen Fragen der Neuzugänge beantworten zu müssen. Die Fragen sollten an die entsprechende Gruppe gesendet werden. Bevor man in eine Diskussion in einer Gruppe einsteigt, sollte man sie erst ein bis zwei Monate lesen, um die Kultur und die Umgangsformen kennenzulernen.

· Die Systemadministratoren sollten nicht für alle Probleme verantwortlich gemacht werden, vor allem nicht, wenn man ein persönliches Problem mit einem anderen User hat.

· Das Internet ist ein globaler Dienst, deshalb muß man die Zeitunterschiede beachten und sich zum Beispiel nicht wundern, wenn man auf eine E-Mail nicht sofort eine Antwort kommt - es könnte bei dem Absender gerade Nacht sein.

· Persönliche Mails sollten nicht an eine Liste oder Gruppe geschickt werden. Manche Mail- oder News Programme sind so konfiguriert, daß eine Antwort mit dem "Re:"-Button auf eine Mail automatisch an die Liste oder Gruppe geht.
Administrative Mail, wie Anmeldung oder Abmeldung gehören nicht in die Mailingliste, sondern an das Verwaltungsprogramm, das eine eigene Mailadresse hat.

· Fälschen von Postings (d.h. Artikel unter der Identität eines anderen schicken) ist nicht erlaubt, aber nur schwer zu verhindern. Wenn man nur wenig weitergehende Kenntnisse der Netzprotokolle hat, ist es sehr leicht unter falschem Namen elektronische Post zu verschicken. Die Benutzung von anonymen Remailern, die elektronische Mail anonymisieren, wird in manchen Gruppen toleriert, meist aber nicht.

4.1.3 Schonung der Netzressourcen
  · In der Regel sollte man keine Mail größer als 50 k verschicken. Manche Leute zahlen für ihre Verbindung zum Internet per Minute oder per Kilobyte. Bei großen Dateien sollte man auf eine URL verweisen oder die Datei auf einem FTP-Server ablegen.

· Spam, Kettenbriefe und unerwünschte Werbung sind verpönt. Es kann Konsequenzen haben, wenn man sich darüber hinwegsetzt. Da Datentraffic vom Sender und Empfänger gleichermaßen bezahlt werden, summieren sich durch die weltweite Verteilung die Kosten. In den News heißt das auch, Postings an mehrere Gruppen zu vermeiden. Wenn eine Nachricht für mehrere Gruppen interessant ist, sollte man den Crossposting-Mechanismus benutzen, der mit Verweisen des Originalpostings arbeitet, und nicht die Nachricht an jede Gruppe einzeln schicken. Man sollte von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Verteilung eines Usenet-Postings auf das Land, eine Region oder eine Stadt zu beschränken.

· Wenn man in einem Usenet-Posting einen Fehler gemacht hat, sollte man das Posting canceln, d.h. zurückziehen.

· Bei FTP (File Transfer Protocol) sollte man den nächstgelegenen Mirrorserver benutzen und nicht den originalen weiterentfernten Server. "Rush hours" für beliebte Server sollten gemieden werden. Das spart Zeit und Nerven. Auch hier sind die Zeitunterschiede zu beachten. Das sogenannte "dumping" - Material zum Download auf fremden FTP Server ablegen - wird sehr ungern gesehen und kann sogar illegal sein.

4.1.4 Copyright und Datenschutzfragen
  Ein kleiner Teil der Netiquette beschäftigt sich mit Fragen des Copyright und Datenschutzes. Da die Rechtsprechung zu diesen Fragen von Land zu Land verschieden ist, wird in der Regel, so auch im RFC1855, nur auf die Problematik aufmerksam gemacht und der Nutzer aufgefordert, sich über die entsprechenden Gesetze in seinem Land zu informieren. Es gibt verschiedene Punkte, die davon betroffen sind. Beispielsweise:

- das Zitieren (quoting) und Weitersenden (forwarding) von elektronischer Post;

- das elektronische "Postgeheimnis", da Mail im Normalfall unverschlüsselt versendet wird und im Prinzip jeder mitlesen kann;

- die Frage nach dem Besitz von Userdaten, gehören diese dem Serviceanbieter, auf dessen Rechnern die Daten gelagert werden oder dem Erzeuger.

4.2 Netiquetterichtlinien für Administratoren
  Auch einige an Informationsanbieter und Systemadministratoren gerichtete Hinweise zu netzadäquaten Verhalten finden sich im Internet. Administratoren sollen das reibungslose Funktionieren ihrer Dienste gewährleisten, den Nutzern die dort für sie bereitgestellten Informationen optimal zugänglich machen, und damit bereits auf Systemebene den Nutzern die Möglichkeit geben, effektiv und verantwortungsvoll mit den Angeboten des Internet umgehen zu können. Dazu gehört u.a. die Bereitstellung von READMEs, FAQs, Einführungen und Netiquetten. Anfragen und Probleme von Usern sollten ernst genommen werden und innerhalb einer angemessenen Zeitspanne beantwortet werden. Die Anforderungen an Systemadministratoren sind bei den einzelnen Diensten natürlich unterschiedlich. Bei diesen Empfehlungen handelt es sich nicht im engen Sinne um Verhaltensrichtlinien. Es geht bei ihnen eher um die Aufrechterhaltung eines zufriedenstellenden Services für die potentiellen (oder tatsächlichen) Nutzer des Angebots.

Als Beispiel einer solchen Richtlinie kann uns das "RFC 1173: Responsibilities of Host and Network Managers" (August 1990) dienen. Das Internet wird darin als gemeinschaftliches Projekt beschrieben, in dem jede Person für die ihr übertragenen Aufgaben verantwortlich ist. Keine zentralisierte Organisation wäre nach Meinung des Autors des RFCs in der Lage ein ähnliches weltumspannendes Netzwerk zu bilden. Daher ist die Aufrechterhaltung und verantwortungsvolle Nutzung dieses von unten aufgebauten Rechnernetzes um so wichtiger[23].

Das RFC 1173 regelt verschiedene Verantwortlichkeiten von System- und Netzwerkmanagern, wie die Verpflichtung zur Bekanntgabe von Kontaktadressen an das Internic oder zur telefonischen Erreichbarkeit der Administratoren. Es macht Vorgaben für die Erhaltung des Mailsystems und den Umgang mit Usern und Userfragen. Ein eigener Abschnitt regelt das delikate Thema der Praktikabilität von Systemsicherheit.

Der Artikel schließt mit einem Appell an die Verantwortlichkeit der Internetgemeinde:

"The heart of the Internet is the unique community of interest encompassing its users, operators, maintainers and suppliers. Awareness and acceptance of the shared interest in a usable Internet is vital to its survival and growth. The simple conventions presented here should be supplemented by common sense as necessary to achieve that end."

Ob dieses "geteilte Interesse" immer noch, sieben Jahre nach Veröffentlichung dieses RFCs, vorhanden ist, oder ob mit dem rasanten Wachstum und der Veränderung der Zusammensetzung der Nutzer die Übereinkunft gekündigt werden muß, wird die weitere Zukunft zeigen.

4.3 Community Guidelines - The WELL
  Außer Newsgruppen und Mailinglisten gibt es im Internet auch andere virtuelle Gemeinschaften. Eine wichtige und bekannte virtuelle Gemeinschaft im Internet ist The WELL, das Mitte der 80er Jahre als Konferenzsystem gegründet wurde, in dem verschiedene Themen von Cyberkultur, Literatur und Politik bis zu Gartenarbeit und Kindererziehung diskutiert werden[24]. Die früheste Etiketteregelung von The Well bestand aus diesem kurzen Abschnitt:

A note about etiquette. Keep in mind when responding to a topic or entering a new one that the other users also have feelings. Please avoid trampling on them. Also, remember that comments entered in hasty reaction to someone else's posting will be available to be read long after you have entered them. So its wise to exercise some moderation and good judgement. [25]

Dies faßt immer noch die wichtigsten Grundsätze, wenn es um Onlinekommunikation geht, zusammen und kommt in ähnlicher Form in allen Netiquettesammlungen vor. In The WELL beinhaltet der Satz "You Own Your Own Words" das Konzentrat dieser Prinzipien. Damit wird einerseits die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Aussagen ausgedrückt, andererseits macht es auf die Tatsache aufmerksam, daß der Einzelne in Netzgemeinschaften nur durch die textuelle Präsentation existiert. Die "Community Guidelines" geben daher Ratschläge zum angemessenen sprachlichen Ausdruck. Das sind Tips, die bei der Verwendung von Sarkasmus und Ironie zur Vorsicht raten (oder zur Verwendung von Smileys ;-), Erklärungen der Organisationsweise der verschiedenen Konferenzen, der Verantwortlichkeiten der Conference Hosts (Moderatoren[26] der elektronischen Konferenzen) oder den möglichen Konsequenzen bei Übertretungen. Die Regelungen in The WELL haben sich aus den Erfahrungen mit Online-Kommunikation über die Jahre hinweg entwickelt und sich als "nützliche Ratschläge" herausgestellt. The WELL war auch unter anderem immer deswegen eine funktionierende elektronische Gemeinschaft, da hier kein plötzliches überdurchschnittliches Wachstum, wie im "großen" Internet auftrat.

4.4 Netiquette für einzelne Dienste
 
4.4.1 Kommunikationsdienste und Informationsdienste
  Man kann Dienste im Internet nach Kommunikationsdiensten und Informationsdiensten unterscheiden. Informationsdienste, wie WWW oder Telnet, bieten Informationen an, die sich der interessierte Nutzer abholen kann. Hier findet im Regelfall keine Kommunikation zwischen Menschen statt. Da keine Interaktion stattfindet, entsteht auch kein Bedarf für konkrete Verhaltensregeln. Die existierenden, manchmal zwar als Netiquette bezeichneten Regelungen für FTP, Telnet oder das World Wide Web bestehen hauptsächlich aus Styleguides für Webpages, Empfehlungen zur Benutzung des nächsten FTP-Servers oder anderen Angaben zum schonenden Umgang mit Netzressourcen.

Email ist neben dem World Wide Web der meistbenutzte Dienst im Internet. Aber auch Usenet und IRC werden täglich von Millionen von Menschen aus aller Welt benützt. In diesem spezifischen Medium haben sich viele Teilnehmer noch nie im "echten Leben" getroffen und werden es vielleicht auch nie tun. Ein großer Teil der Kommunikation im Internet ist privat, d.h. wird nicht kommerziell verwertet. Im Usenet gibt es Tausende von Diskussionsgruppen zu jedem erdenklichen Hobby und jedem vorstellbaren Interesse. Dementsprechend ist das Spektrum der Gruppen breit gefächert und reicht beispielsweise von alt.conspiracy, in der Verschwörungstheorien diskutiert werden über rec.music.artist.maria-carey, in der die Fans der amerikanischen Sängerin Neuigkeiten austauschen bis zu soc.motss[27], einer Gruppe, in der Schwule und Lesben über gesellschaftliche Diskriminierung sprechen.

Da Netiquette aus der praktischen Erfahrung der Online-Kommunikation erwachsen ist, gibt es sehr viele Netiquetterichtlinien für die einzelnen Dienste. In den Netnews werden in den entsprechenden Gruppen regelmäßig Netiquetterichtlinien gepostet (A Primer of How to Work with the Usenet Community, Emily Postnews Answers your Questions on Netiquette, Hints on Writing Style for Usenet, Rules for posting to Usenet usw.). Im Internet Relay Chat gibt es einen Befehl, der die Netiquetteregelungen anzeigt (/help etiquette), ebenso für MOOs und MUDs, die innerhalb ihrer textbasierten Spielumgebung ausführliche Dokumentationen zu Verhaltensregeln haben.

4.4.2 Synchrone und asynchrone Kommunikation
  Neben der Unterscheidung der Netzdienste nach Adressaten bzw. individueller Kommunikation und Gruppenkommunikation kann man Internetdienste auch danach aufteilen, ob sie synchrone oder asynchrone Kommunikation ermöglichen. Email und Netnews sind Beispiele für asynchrone Kommunikation, da die Sendung und der Empfang der Nachrichten nicht zeitgleich stattfinden (obwohl der Abstand zwischen beidem manchmal ziemlich klein sein kann). Talk und IRC sind synchrone Services - der Empfang und die Sendung geschehen zeitgleich, die Nutzer müssen gleichzeitig auf einem Internetrechner erreichbar sein. Wie schon zu sehen ist, überschneiden sich hier die Grenzen: Dienste für individuelle Kommunikation können synchron oder asynchron sein, ebenso können synchrone Kommunikationsformen für Gruppen- wie für individuelle Kommunikation verwendet werden. Für eine Untersuchung von Netiquette scheint die Unterscheidung zwischen individuellen Kommunikationsformen und Gruppenkommunikationsformen sinnvoll zu sein, da innerhalb von individuellen Kommunikationssituationen Verhalten durch den Kontext und das Verhältnis der beiden beteiligten Partner vordefiniert wird.

4.5 Dienstspezifische Netiquetterichtlinien und Formen der Regelübertretung
 
4.5.1 Usenet
  Das Usenet besteht aus Tausenden von themenorientierten Diskussionsgruppen[28], die weltweit über ein System von Newsservern verteilt werden. Seit den 80er Jahren haben sich im Usenet in vielen Gruppen lebhafte und in ihren Ausprägungen differenzierte virtuelle Gemeinschaften gebildet. Nutzer nehmen in verschiedener Weise daran teil: es gibt alteingesessene, regelmäßige Teilnehmer, die den Hauptteil der Postings ausmachen, sporadische Schreiber, Neueinsteiger und - der größte Teil - die Lurker. Dieser Begriff bezeichnet diejenigen Nutzer, die eine Newsgroup regelmäßig lesen, aber nicht oder nur selten in ihr schreiben. Dabei ist die Zusammensetzung solcher Gemeinschaften nicht genau erfaßbar, da es keine Möglichkeit gibt, die Kriterien zu bestimmen, die ein Mitglied ausmachen. In der Regel kann jedoch gesagt werden, daß jemand, der regelmäßig im Usenet postet (Diskussionsbeiträge schickt), nach einer gewissen Zeit als Mitglied der Gruppe angesehen wird[29].

Das Usenet ist, wie bereits erwähnt, einer der ersten Bereiche, in denen sich elektronische Kommunikationsformen durchgesetzt haben. Es wurden dabei im Laufe der Geschichte einige Krisensituationen, ausgelöst durch unverhältnismäßiges Wachstum, überwunden - "The Imminent Death of the Net Predicted" ist eine der immer wiederkehrenden Warnungen im Usenet - und es müssen immer noch ununterbrochen "Newbies" in die Gemeinschaft eingegliedert werden. Daher gibt es hier besonders viele verschiedene Netiquetten, die sich über die Jahre entwickelt haben. Da alte Versionen im Usenet nur selten aufbewahrt werden, ist eine Untersuchung der Entwicklung von schriftlichen Netiquetteregelungen nur schwer möglich. Netiquetteregeln werden als Gebrauchstexte wahrgenommen, aber auch das stetig wachsende Newsaufkommen - Anfang 1997 mehr als 200 000 Posting in 20.000 Newsgruppen - verhindert, diese Fülle von Artikeln zu archivieren[30].

Vier der "klassischen" Netiquetterichtlinien des Usenet sind "Rules for Posting to Usenet", "A Primer on How to Work With the Usenet Community", "Hints on writing style for Usenet" und nicht zuletzt "Emily Postnews Answers Your Questions on Netiquette". Die Entstehungszeit läßt sich nicht genau festlegen. Alle Leitfäden sind wahrscheinlich, soweit es sich recherchieren läßt, mindestens 10 Jahre alt. Sie wurden im Laufe der Jahre von verschiedenen Leuten aktualisiert und erweitert.

"Emily Postnews Answers Your Questions on Netiquette" zum Beispiel wurde 1986 oder 1987 verfaßt[31]. Die letzte Version wird regelmäßig in den entsprechenden Newsgruppen wie news.answers oder news.announce.newusers gepostet. Emily Postnews[32] ist eine "Briefkastentante", die auf Fragen von Usern zur Netiquette antwortet. Es handelt sich dabei um eine humoristische Version dessen, was man im Netz NICHT tun soll, was aber nicht als Verbot, sondern als Empfehlung formuliert wird. Inhaltlich handelt es sich um dieselben Themen, die auch in ernsthafteren Netiquetten behandelt werden: die Länge der Signature, die Wahl der angemessenen Newsgruppen, Vermeiden von irrelevanten Mails, Anleitungen zum richtigen Zitieren usw. Im Gegensatz zu anderen Netiquetterichtlinien ist Emily Postnews jedoch die Arbeit eines einzelnen, namentlich überlieferten Autors - Brad Templeton - , der den Artikel über die Jahre hinweg aktualisiert hat (zuletzt am 13. Mai 1995).

Viele Artikel werden von anderen Autoren weitergeführt, weil der ursprüngliche Autor keine Zeit oder Lust mehr hat. Das wird in den Headern der Postings vermerkt:

Archive-name: usenet/primer/part1

Original-author: chuq@apple.COM (Chuq Von Rospach)

Comment: enhanced & edited until 5/93 by spaf@cs.purdue.edu (Gene Spafford)

Last-change: 23 Sep 1996 by netannounce@deshaw.com (Mark Moraes)

Changes-posted-to: news.misc,news.answers

(aus dem Header von "A Primer on How to Work With the Usenet Community")

Hier haben drei verschiedene Leute an dem Text gearbeitet, der ursprüngliche Autor Chuq Von Rospach, Gene Spafford (einer der maßgeblich an der Entwicklung des Usenet Beteiligten) und der jetzige Verantwortliche Mark Moraes. Diese Richtlinien werden nicht von einer Person, wieviel Autorität sie auch immer haben sollte, aufgestellt, sondern verschriftlichen den kollektiven Konsens als Gemeinschaftsarbeit aller am Aufbau und der Erhaltung dieser Infrastruktur Beteiligten.

4.5.1.1 Übertretungsformen
  Ich möchte zwei verschiedene typische Übertretungsformen im Usenet und deren Verhandlung in den Netiquetterichtlinien herausgreifen. Das ist einmal das sogenannte Flaming, welches eine kommunikative Übertretungsform darstellt, und die Praxis bezeichnet, bei einer Auseinandersetzung über ein bestimmtes Thema, persönliche Beleidigungen und Herabsetzungen des Gegners in eine eigentlich inhaltliche Debatte einzuführen. Die andere Form der Übertretung anerkannter Normen der Netzkommunikation ist das Versenden von Spam, unerwünschter elektronischer Werbung. Mit Spam werden Möglichkeiten des Netzes zu einem von einer - angenommenen - Mehrheit der Nutzer nicht willkommenen Zweck mißbraucht.

· Flaming

Jeder, der nur eine Weile an einer Newsgroup (oder einer Mailingliste) teilgenommen hat, dürfte erlebt haben, wie sich eigentlich recht harmlose Auseinandersetzungen in erbitterte Wortgefechte verwandelten, bei denen die verfeindeten Parteien vor stärksten (Wort-) Geschützen nicht zurückschreckten. Auch wenn in jeder Netiquette ausdrücklich vor Flaming gewarnt wird, sind Flamewars im Usenet nicht unüblich[33]. Hier verbinden sich die Beschränkungen der schriftlichen Kommunikation, die schnelle Verbreitungsgeschwindigkeit und die kulturelle Diversität der Teilnehmer zu einer Mischung von Mißverständnissen und Provokationen, die regelmäßig zu verletzender verbaler Gewalt führt.

In allen Netiquetteregelungen wird Flaming verurteilt. Viele Regeln beschäftigen sich damit, die Kommunikation in zivilisierten Bahnen zu halten, wie zum Beispiel die Empfehlung Smileys zu verwenden, um Ironie oder nicht ernstgemeinte Aussagen zu kennzeichnen oder Hinweise darauf, lieber noch mal einen Kaffee zu trinken, bevor man auf ein provozierendes Posting antwortet. Im Prinzip kann jede Äußerung Anlaß zu Flames geben, wie die regelmäßig im Usenet stattfindenden "Spelling Flames" beweisen. Dabei beginnt ein Teilnehmer, einen Artikel auf seine grammatischen und orthographischen Fehler hin zu untersuchen, worauf sofort andere anfangen, ihn auf seine eigenen Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Ebenfalls beliebt sind Flames, in denen es darum geht, daß ein Newbie eine Frage stellt, welche die anderen Teilnehmer, ob ihrer Ahnungslosigkeit und Dummheit so in Rage bringt, daß ein tagelanger Flamewar einsetzt[34]. Es scheint, daß Flaming nicht verhindert werden kann, da die Eigenheiten elektronisch vermittelter Kommunikation wie Anonymität, schnelle Verbreitung und eingeschränkte Ausdrucksmöglichkeiten solchem Verhalten Vorschub leisten. Aber Flames können auch unterhaltsam und erfrischend sein. William B. Millard beschreibt in "I Flamed Freud. A case study in teletextual incendiarism"[35] wie Flaming auf eine andere Art der Rhetorik und der Interaktionsregeln im Internet hinweist. Ein Flamewar kann durch die Intensität und den Willen der Teilnehmer, einander und die Zuschauer zu überzeugen, auch unterhaltsam sein und ästhetischen Genuß bereiten. Dabei besteht die Chance, Flames als ein produktives Werkzeug der Erkenntnis und Rhetorik zu nutzen.

· Spamming

Im Usenet werden unerwünschte, meist kommerzielle, Postings, meist an mehrere tausend Newsgruppen, in denen Dienste der Art "Werden Sie Millionär in 3 Wochen!" oder "Unsere Mädchen warten auf Sie!" angepriesen werden, als Spam[36] bezeichnet. Das Thema des Postings ist dabei unwesentlich, es kommt auf die massenhafte Verbreitung an. Der Begriff 'spam' bezeichnet ursprünglich ein Fleischprodukt, das aus zusammengepreßten und in Dosen abgefüllten Restfleisch besteht: 'Spiced Pork and Ham'. In einem Sketch der englischen Comedytruppe Monty Python's Flying Circus übernimmt 'Spam' im Laufe der Zeit die Speisekarte eines Restaurants. Übereinstimmend wird dieser Monty Python Sketch als Inspiration für den Begriff bezeichnet[37].

Spam richtet wirklichen Schaden an, was eng mit der Struktur des Usenet zusammenhängt. Newsserver tauschen untereinander ihre Postings aus, so daß nach einem bestimmten Zeitraum eine Nachricht auf allen Newsservern der Welt vorhanden ist. Eine Nachricht, die an 2000 Newsgruppen geschickt und an alle Newsserver verteilt wird (1995: ca. 330.000), stellt durch das durch sie ausgelöste Datenvolumen eine nicht unerhebliche Belastung des Netzes dar. Da im Internet nicht nach dem Verursacherprinzip bezahlt wird, sondern alle gemeinsam für den Datenverkehr aufkommen müssen, wird Spam als ein großes Problem angesehen, das die Übereinkunft, gemeinsam eine globale Infrastruktur zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, zu Gunsten persönlicher Gewinnsucht in Frage stellt. Der Kampf gegen Spam hat daher verschiedene Formen angenommen. Zusätzlich zur moralischen Verurteilung durch die Netiquette werden auch technische Lösungen implementiert, die Spammails ab einer bestimmten Verbreitungsdichte löschen. Da dies jedoch erst geschehen kann, wenn die Spammail bereits die Runde gemacht hat, ist diese Lösung nicht allzu befriedigend. Notorischen Spammern wird daher schon mal die Mailbox von empörten Usenet-Nutzern zugemüllt. Usenet-Sites, die als Ursprung von Spammail bekannt sind, werden ab einem gewissen Zeitpunkt gesperrt, so daß von keine dort aus keine Postings mehr weitergeleitet werden können und die betreffende Site ihre Verbindung zu den Netnews verliert. Zu diesem Zweck werden schwarze Listen geführt, in denen notorische Spamsites aufgelistet und an den Pranger gestellt werden. Dies geschieht jedoch nur extremen Fällen und nach einer Diskussion in den entsprechenden Newsgruppen (in der Hierarchie news.admin.net-abuse.*).

Netiquetterichtlinien können im Gegensatz zu solchen eher handfesten Maßnahmen nur das Bewußtsein dafür schärfen, worin der Nutzen des Usenet besteht, und eine angemessene Form der Nutzung darstellen. Der Artikel "Rules for posting to Usenet", der regelmäßig in den Gruppen news.answers und news.announce.newusers erscheint, beschreibt das angemessene Verhalten gegenüber der Infrastruktur des Netzes. Das beschränkt sich nicht nur auf das Verbot von Spam, sondern behandelt auch andere Arten des Fehlverhaltens hinsichtlich der Nutzung des Internet. Es wird dabei davon ausgegangen, daß die meisten Nutzer des Usenet aus Unkenntnis falsch handeln. Artikel wie "Rules for posting to Usenet" machen bewußt, daß die Ressourcen des Netzes, wie Bandbreite und Plattenplatz ein wertvolles gemeinsames Gut sind, welches durch den Mißbrauch von einzelnen nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte.

Flame und Spam bezeichnen zwei unterschiedliche Übertretungsformen, an denen die beiden wesentlichen Merkmale von computervermittelter Kommunikation deutlich werden. In der Netiquette werden unterschiedslos Regelungen zum Umgang der Menschen untereinander und zum Umgang mit der Technik, die diese Kommunikation ermöglicht, nebeneinander gesetzt. Netiquette sucht beide Bereiche abzudecken, ohne explizit einen Unterschied in der Wertigkeit zu machen. Verhalten im Netz bewegt sich zwischen diesen Polen, da es auch für den einzelnen User im Prinzip keinen Unterschied macht, ob er mit Menschen oder Computerprogrammen interagiert. Beide Male sieht er dieselben Zeichen und benutzt dieselbe Software. Deshalb muß in Verhaltensrichtlinien für das Netz auch immer wieder darauf hingewiesen werden, daß auf der anderen Seite ein Mensch sitzt.

4.5.2 IRC: /help etiquette
  Auch in den anderen Netzdiensten, wie IRC oder MUDs und MOOs, gibt es Flaming und Spamming. Durch den synchronen Übertragungsmodus, d.h. der Möglichkeit gleichzeitig mit mehreren Menschen zu kommunizieren, erhalten diese jedoch andere Ausprägungen. Im IRC können sich auf den weltweit vernetzten Servern Tausende von Menschen treffen und gleichzeitig miteinander kommunizieren. Da sich jedoch niemand mit so vielen Leuten gleichzeitig unterhalten kann, können IRC Channel für unterschiedliche Interessensgruppen gebildet werden. In vielen Channels sind stabile virtuelle Gemeinschaften entstanden, deren Teilnehmer sich täglich im IRC treffen und dort viele Stunden verbringen.

Die Teilnehmer erschaffen im IRC Identitäten, die sich in der Selbstdarstellung durch den Text formieren. Viele Channel haben WWW-Seiten, in denen Links zu den Homepages der regelmäßigen Mitglieder gesammelt werden. Auf den Homepages findet man gewöhnlicherweise Fotos und Selbstbeschreibungen (z.B. Hobbys und Familie) und meist Hinweise auf die Teilnahme an dem IRC-Channel. Diese wird zu einem Teil der Online-Persona dieses Menschen. Von Anonymisierung kann man somit in diesen Gemeinschaften nur eingeschränkt sprechen. Zwar stimmt das Bild, das sich jeder Teilnehmer im Netz schafft, nicht notwendig mit der lebensweltlichen Realität überein, jedoch wird eine in sich konsistente Online-Persönlichkeit geschaffen, die wiedererkennbar ist. Das Vortäuschen einer falschen Identität, sei es, daß man die Rechner und Emailaddresse von jemand anderem benutzt oder sich eine nichtexistierende ausdenkt, wird im IRC nicht gern gesehen. Wie auch in MOOs und MUDs ist es zwar legitim, sich eine Online-Persönlichkeit zu schaffen, die nicht der 'realen' entspricht, dieses kann jedoch bei engeren emotionalen Beziehungen zu Problemen führen und sollte deshalb innerhalb eines tolerierbaren Rahmens bleiben.

Netiquetteregelungen im IRC sind nicht so ausführlich und detailliert wie im Usenet. Der Hilfstext zur Etikette im IRC-Client[38] ircII für das Betriebssystem UNIX paßt auf eine DIN A 4-Seite. Das ist im Vergleich zum Usenet, in dem es unzählige Etiketten, die selten kürzer als drei bis vier Seiten sind, sehr wenig. Allein die drei oben genannten "Rules for Posting to Usenet", "A Primer on How to Work With the Usenet Community" und "Hints on Writing Style for Usenet" füllen ausgedruckt etwa 16 Seiten.

'/help etiquette' umfaßt fünf Punkte, die allgemeine Angaben zum Schreibstil, zum Verhalten, zur Sprachauswahl und zum Umgang mit nationalen Sonderzeichen enthalten. Der letzte Punkt, "ATTENTION!", ruft die Tatsache in Erinnerung, daß das Bild, was sich die anderen von einem bilden, nur durch Worte und das Verhalten im IRC gesteuert wird und schließt mit dem Aufruf: "So think before you type." Diesen Ratschlag kennen wir bereits aus den Usenetprimern "Rules for Posting to Usenet" oder "A Primer on How to Work with the Usenet Community".

Die Knappheit der Netiquette im IRC liegt in der Tatsache begründet, daß synchrone Kommunikation andere Konfliktlösungsstrategien ermöglicht, so daß sich kein ausführlicher, schriftlich gefaßter Regelkanon formen mußte. Im IRC Regelverletzungen können unmittelbar angesprochen und im Dialog bewußt gemacht werden. Es gibt verschiedene Grade des Ausschlusses, die als Befehle in die Server-Software eingebaut sind, vom Rausschmiß aus einem Channel (der Befehl '/kick') über Channelverbot ('/ban') bis zum Rausschmiß aus dem ganzen Server ('/kill'). In der Regel wird im IRC versucht, auf der Operatorebene[39] Lösungen zu finden.

Ein Beispiel, wie administrativ mit Problemen umgegangen wird, ist das Verhalten gegenüber Bots. Bots sind kleine Programme, die zum IRC-Server eine Verbindung aufbauen und dort Channel öffnen, bestimmten Leuten Privilegien zuteilen und so weiter. Während Bots in manchen Fällen sinnvoll sein könnnen, werden sie auch oft dazu benutzt, um Server, Channels oder einzelne Nutzer zu spammen, das heißt, ihnen mehr Daten zu schicken als sie verarbeiten können - unter Umständen so lange bis der gespammte Rechner zusammenbricht. Auch gutartige Bots und Skripte können beträchtlichen Datenverkehr verursachen, der von den anderen Nutzern des Netzes mitgetragen werden muß. Viele Server verbieten Bots ganz, einige andere versuchen Grundsätze aufzustellen, wie weit diese Nutzung gehen darf, und greifen bei Mißbrauch ein.

Flaming und Spamming als unangemessenes Verhalten gibt es auch im IRC. Flaming im IRC läuft normalerweise folgendermaßen ab: ein Einzelner oder mehrere Personen gemeinsam entschließen sich, einen Channel mit inadäquaten Äußerungen in exzessiver Form zu überschwemmen, wie z.B. sexistische und homophobe Sprüche in einem Schwulen- und Lesbenchannel. Der Channel wird mit Datenmüll "gefloodet" (überschwemmt). Die Channeloperatoren, die besondere Privilegien bezüglich der Administration des Channels besitzen, können nun den Störenfried "kicken", das heißt, aus dem Channel ausschließen. Das hilft zunächst nicht viel, da der Übeltäter den Channel sofort wieder betreten kann. Deshalb wird über ihn oder sie ein "ban" ausgesprochen, was bedeutet, daß er/sie mit dieser bestimmten Internetadresse den Channel nicht mehr betreten kann. In extremen Fällen kann der Channelop einen der Server Opers auf den Übertritt aufmerksam machen, so daß der Täter ge-"killed" wird, d.h. ganz vom IRC-Netz insgesamt verbannt.

Die möglichen Verhaltensformen und Übertretungen sind im IRC aufgrund des Umfangs der Befehle in Verbindung mit sozialer Interaktion sehr komplex. An dem oben beschriebenen, unvollständigen Beispiel eines Channelwars läßt sich sehen, wie versucht wird, technische bzw. Softwarelösungen für soziale Probleme zu finden. Es geht darum, unerwünschtes Verhalten schon im Design der Software zu verhindern. Die Übertretungen geschehen jedoch oft ebenfalls auf dieser Ebene, indem sie bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Programms ausnützen. Der "Kampf" um das angemessene Verhalten wird mit Mitteln der Grundlagen-Software ausgetragen und nicht auf dem sozialen Feld.

4.5.3 MOO: help manners
  MUDs, sogenannte Multi User Dungeons, und ihre Derivat MOOs (MUDs Object Orientated) sind Hypertextsysteme, in denen sich die Teilnehmer durch eine textbasierte virtuelle Welt bewegen und gleichzeitig mit anderen Spielern kommunizieren können. Es gibt außer den Großgruppen der MOOs und MUDs noch andere Systeme, die sich voneinander durch Komplexität und Stil der Programmierung unterscheiden, und unter verschiedenen Namen wie MUSHes, TinyMUDs, MUSES etc. bekannt sind[40].

MUDs entwickelten sich aus Fantasyrollenspielen, in denen Spieler mit- oder gegeneinander Abenteuer bestehen. Die Bandbreite des Verhaltens in diesen Spielen wird durch die Art des Spiels begrenzt. Bei den meisten MUDs geht es darum, möglichst viele Drachen zu besiegen und Schätze anzuhäufen, was die Interaktion und das Verhalten gegenüber anderen Spielern sehr eingeschränkt. Es zeigte sich mit der Zeit, daß sich viele Spieler in diesen virtuellen Welten aufhielten, nicht um Abenteuer bestehen, sondern um sich mit anderen Spielern auszutauschen und zu unterhalten. Einige Programmierer nahmen sich dieses Bedürfnisses an und entwickelten Umgebungen, in denen sich Gemeinschaften bilden konnten, deren Sinn nicht mehr darin bestand, einander - virtuell - niederzumetzeln. Eine Form dieser "sozialen" MUDs sind MOOs[41]. Es gibt MOOs mit den verschiedensten Schwerpunkten, wie zum Beispiel das MediaMOO, in dem sich Medienwissenschaftler über ihre Arbeiten austauschen. Eines der bekanntesten MOOs ist das LambdaMOO, das von Pavel Curtis im Xerox Palo Alto Research Center eingerichtet wurde. Es stellt ein virtuelles Haus mit vielen Räumen dar, die von seinen Bewohnern eingerichtet und ausgebaut werden können. Das LambdaMOO erfreut sich gerade bei Wissenschaftlern, Theoretikern und Journalisten, die über Gemeinschaftsbildung im Internet schreiben, großer Beliebtheit, so daß viele Artikel und Untersuchungen hier ihren Ursprung fanden.

MOOs sind hierarchisch organisiert. Auch wenn jeder registrierte Teilnehmer die virtuelle Welt erweitern und verändern kann, so haben dennoch die Administratoren eine größere Verfügungsgewalt. In der Bezeichnung 'wizards'[42], wie sie oft genannt werden, sind Reste der Herkunft aus den Dungeons und Dragon-Fantasyrollenspielen erhalten geblieben. Die Wizards sind in der Regel auch die Administratoren der Rechner, auf denen die MUD-Datenbank physikalisch läuft, und haben schon allein damit mehr Eingriffsmöglichkeiten über das System. Sie können Spieler, Räume oder Objekte aus dem System löschen. In manchen MOOs haben sich währenddessen auch Strategien zur Beteiligung der Spieler entwickelt. Im LambdaMOO wurden nach einem Zwischenfall, bei dem eine Gruppe von Spielern von einem anderen sexuell belästigt und virtuell mißbraucht wurde, Mechanismen zum Schutz und zur Bestrafung solchen Verhaltens eingeführt, die nicht vom Gutdünken der Administratoren abhängen, sondern auf einem demokratischen Prozeß beruhen[43].

Über die Jahre hat sich eine Konvention des angemessenen Verhaltens herausgebildet, die durch die Eingabe von 'help manners' auf dem Bildschirm des Spielers erscheint. Im 'help manners'-Text des LambdaMOO werden drei wichtige Bereiche des verbotenen Verhaltens unterschieden: 1. unbefugtes Eindringen in nichtöffentliche Bereiche durch hacking oder cracking, 2. Mißbrauch von Datenbankressourcen und 3. Belästigung der anderen Spieler. Das Verhalten gegenüber Computerressourcen wird wie im Usenet oder im IRC als Thema gleichberechtigt mit dem Verhalten gegenüber Menschen behandelt.

Der erste und dritte Punkt bedürfen keiner weiteren Erläuterung und finden sich in dieser Form auch in anderen Netiquetten. Der zweite Punkt bezieht sich auf ein spezifisches MOO-Problem: der Prozessor des Serverrechners muß alle Objekte, die in der MOO-Datenbank vorhanden sind, immer in seinem Hauptspeicher geladen haben. Je mehr Prozesse ablaufen, desto langsamer ist der Server, was sich für die Spieler in längeren Wartezeiten bei der Ausführung von Befehlen auswirkt.

In MOOs gibt es außer den schon aus anderen Internetdiensten bekannten Verhaltensauffälligkeiten, wie dem Flaming und Spamming auch noch spezifische Möglichkeiten des Fehlverhaltens, die dem MOO eigene Befehle ausnützen, wie Spying oder Spoofing. Spying bedeutet, daß sich ein Spieler durch das MOO bewegt, ohne daß die anderen es merken. Normalerweise hinterläßt jede Bewegung in einem MOO für die Spieler Spuren auf dem Bildschirm, wie: "Kalite enters the hall". Diese Botschaften können durch die Veränderung von Befehlen unterdrückt werden, so daß ein Spieler, ohne daß die anderen es merken, einen Raum betreten und z.B. privaten Unterhaltungen lauschen kann. Dieses ist natürlich aüßerst unhöflich und wird in jeder Form abgelehnt.

Beim Spoofing manipuliert ein Spieler ein bestimmtes Objekt oder einen Befehl so, daß es aussieht, als ob ein anderer Spieler bestimmte Aktionen ausführt, ohne daß dieser das jedoch auf seiner Seite in seine Tastatur getippt hat. Spoofing kann sehr ärgerlich, ja verletzend und beleidigend sein, aber sorgt auch geschickt angewendet für amüsante Effekte. Offiziell wird es nicht geduldet, aber manche Formen sind sogar in den Objekten der MOOs selbst eingebaut, z.B. bestimmte Gegenstände, die mit den Spielern interagieren können oder scherzhafte Kommandos, mit denen andere Spieler zu unfreiwilligen Handlungen gebracht werden. Es ist nicht immer genau zu beurteilen, wo Spoofing noch ein Ausdruck des spielerischen Umgangs mit dem Programm ist und wo es beginnt, andere Spieler zu belästigen. Stivale (1997) unterscheidet drei Ebenen von Spam in MOOs, wobei hier Spoof und Spam als Synonyme behandelt werden[44]. Dabei kann das beschriebene Verhalten eine humorvolle, spielerische Wirkung haben, gemischte Gefühle auslösen oder schlicht bösartig sein. Es kommt dabei auf den Kontext und die Ausführung an[45].

Virtuelle Gemeinschaften wie MOOs sind aufgrund ihrer Struktur und der virtuellen Parallalwelt, die in ihnen erschaffen wird, ein faszinierendes Forschungsobjekt, daß viele Forscher angeregt hat, sich mit ihnen zu beschäftigen. Wie bei Gemeinschaften in der realen Welt ist Verhalten in MOOs nicht über die schriftliche Festlegung in "Gesetzestexten" zu verstehen, sondern nur in der lebendigen Interaktion zwischen den Teilnehmern.

5 Schlußfolgerungen
  Netiquette ist aus der Erfahrung Tausender von Menschen entstanden, die ein neues Medium für ihre Zwecke übernommen haben. Dieser Prozeß zeigte, daß bestimmte Formen des Verhaltens entweder für andere Nutzer, die Server oder für das Netz unangenehm oder gar schädlich sein konnten. Solange die Netzgemeinde noch überschaubar blieb und sich der Nachwuchs aus einer homogenen sozialen Schicht rekrutierte, gab es kaum Bedarf nach einer Festlegung der "richtigen" Verhaltensweisen. Die neuen Nutzer konnten in das funktionierende Netzwerk von den Erfahreneren integriert werden, da sie weder zahlenmäßig noch von ihrem Wissensstand her eine große Belastung waren. Erst als eine neue Nutzergeneration, die wenig Erfahrung mit Computern und vernetzer Arbeit hatte, in großen Mengen in die bis dahin relativ überschaubare Netzkultur strömte, zeigte sich, daß es einen effizienteren Weg geben mußte, die in den Jahren gewachsene Communitykultur den Neuankömmlingen nahe zu bringen. Die Verschriftlichung der Netiquette ist also als Zeichen einer Umbruchsituation zu deuten.

Es fällt auf, daß in der Netiquette Appelle zur Aufrechterhaltung und Pflege von gemeinsam genutzten Netzressourcen gleichberechtigt neben Regelungen zum zwischenmenschlichen Umgang stehen. Die Netiquette beschreibt den Konflikt zwischen dem individuellen Interesse des Nutzers, der möglichst schnell seine Aufgabe erledigen möchte, und des Netzes als gemeinsame Ressource aller, das nicht zum Schaden anderer für die eigenen Zwecke mißbraucht werden soll. Die Regelungen sind daher von Anfang an technisch bedingt, da eine Verletzung der Verhaltensformen auch einen Mißbrauch der Netzressourcen darstellt. Das Netz wird somit zu einem selbständigen Raum, der außerhalb der tatsächlichen menschengeschaffenen Welt liegt. Es gilt die Maxime, daß die Informationsbahnen freigehalten werden müssen, damit das Netz seiner eigentlichen Bestimmung nachgehen kann, dem freien Fluß der Information.

Mit den Regelwerken der Netiquette wird versucht, technisch gar nicht oder nur unter großen Einschränkungen lösbare Probleme zu lösen. Netiquetteregeln sind im Verhältnis zu administrativen Eingriffen weniger wirksam, da sie nur auf sozialem Druck beruhen. Sie setzen funktionierende Gemeinschaften voraus, die so gefestigt sind, daß moralische Sanktionen einen Effekt haben. Nutzer, die kein Interesse an der Zugehörigkeit zu einer virtuellen Gruppe haben, können durch Netiquetten nicht erreicht werden, da diese keinen offiziellen Charakter haben und keinerlei wirklich nennenswerte Sanktionen nach sich ziehen.

Grenzen dieser Form der Regulierung werden am Beispiel des immer größeren Aufkommens von kommerzieller elektronischer Post, die sowohl private Mailboxes als auch Usenetforen überschwemmt, sichtbar. Jeder Appell an die Versender von solchen Spamfluten geht ins Leere, da die kommerziellen Anbieter meist kein Interesse daran haben, Netzkultur zu verstehen - geschweige denn zu respektieren. Massenwerbeversender betrachten das Internet nicht als Kollektivgut, sondern nur als ein weiteres Vertriebsmedium. In solchen Fällen helfen nur administrative Maßnahmen, wie das Sperren von Sites, von denen Spammails geschickt werden, oder Softwarelösungen, wie die Implemetierung von bestimmten Programmen oder Skripten wie Cancelbots, die Postings rekursiv im Newssystem löschen.

Es bleibt die Frage, inwieweit Netiquetteregelungen befolgt werden. Gruppenverhältnisse sind immer im Fluß und können nicht auf einen bestimmten Punkt eingefroren werden. Dabei spielt die Interpretation des Einzelnen, was akzeptiertes Verhalten ist und was nicht, eine große Rolle. Verhaltensformen lassen sich auch nicht von ihrem Kontext und ihrer Funktion im sozialen Gefüge trennen. So können Übertretungsformen auch als Sprachformen wahrgenommen werden, in denen sich ein spielerischer rethorischer Umgang mit der Sprache manifestiert. Charles Stivale beschreibt in seinem Aufsatz "Heteroglossia and Harrasment in Cyberspace"[46] an den Beispielen Spam und Flame, welche anderen Funktionen solche Übertretungsformen haben können:

Contestatory and even polemical exchanges between the interested parties in any dispute are to be expected as the participants emply the 'living word' in ever more dynamic ways. However, this dynamic impulse often results in exchanges that conflict sharply with accepted standards of etiquette, standards that themselves are constantly shifting as new interpretations of the rules arise from the dynamic processes in which the participants are engaged.

Auch im Abschnitt über MOO-Interaktion wurde dargestellt, wie die Praxis des Spoofings, die in der Etikette dieser Spielformen ausdrücklich als unerwünscht bezeichnet wird, unter bestimmten Umständen von allen Beteiligten als Bereicherung angesehen wird. Netiquette muß als eine Praxis gesehen werden, die immer wieder kommuniziert und durchgesetzt werden muß, bewußt mißachtet werden kann und sich mit den Bedürfnissen und Veränderungen der Menschen und des von ihnen geschaffenen Kommunikationssystems wandelt.

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<http://oswald.pages.de/irc/einfuehrung.html>

Shields, Rob (Ed.): Cultures of Internet. Virtual Spaces, Real Histories, Living Bodies. London (SAGE Publications) 1996.

Stivale, Charles J.: Spam: Heteroglossia and Harrasment in Cyberspace,
in: Porter, David (Ed.): Internet Culture 1997, S. 133-144.

'help manners': Cyber-Democracy and its Vicissitudes,
originally presented in Society for Critical Exchange panel, "Law and Order on the Electronic Frontier," Modern Language Association convention, Chicago, 29 December 1995. Originally entitled "'help manners': Frontier Tales of Two MOOs". Further revision on 20-21 May 1996
<http://wwwpub.utdallas.edu/~cynthiah/lingua_archive/help_manners.htm>

Tepper, Michelle: Usenet Communities and the Cultural Politics of Information, in: Porter, David (Ed.): Internet Culture 1997, S. 39-54.

Turkle, Sherry: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1984.

Wilbur, Shawn P.: An Archaeology of Cyberspaces: Virtuality, Community, Identity, in: Porter, David (Ed.): Internet Culture 1997, S. 5-22.

Woolley, David R.: PLATO: The Emergence of Online Community, 1994
<http://www.eff.org/pub/Social_responsibility/Virtual_community_and_ntiquette/
plato_history.article>

Fußnoten
  1 Sehr schön wird die fehlende Kenntnis um die Möglichkeiten des Internet in einem IBM Werbespot für ebusiness karikiert: Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, sitzen am Tisch. Der Ältere liest Zeitung, während der Jüngere auf seinem Laptop tippt. Beim Durchblättern der Zeitung sagt der ältere Mann zum jüngeren: "Hier steht, das Internet ist die Zukunft im Business." Pause. "Wir müssen ins Internet." Der jüngere Mann schaut auf und fragt: "Wieso?". Darauf der andere: "Das steht nicht da."

2 gebildet aus net + citizen.

3 Vor allem in der Literatur zu Chats und MOOs, siehe E. Reid: Electropolis 1992, H. Bromberg: Are MUDs Communities 1996, S. Wilbur: An Archeology of Cyberspaces 1997 u.a.

4 E. Reid: The Electronic Chat: Social Issues on Internet Relay Chat (zit. nach L. Carolli, 1997).

5 Gut beschrieben im Jargon File (The New Hackers Dictionary).

6 Joel R. Reidenberg: "Governing Networks and Rule-Making in Cyberspace" (1997), p.84.

7 Bei CompuServe ist z.b. der Bezug von Newsgruppen der alt.sex Hierarchie nicht möglich.

8 Ute Hoffmann: Panic Usenet. Netzkommunikation in (Un-)ordnung, Discussion Paper FS II 97-106, Wissenschaftszentrum Berlin, Juli 1997. Woolley

9 Linda Carolli nach Raymond Williams in Carolli (1997).

10 Im Anglo-amerikanischen wird für die Art der Kommunikation, von der wir hier reden, der Ausdruck Computer Mediated Communication, abgekürzt CMC, verwendet. In Ermangelung eines entsprechenden Terminus in der deutschen Sprache werde ich diesen Begriff im weiteren benutzen. Da das Internet immer noch, trotz des Aufholens der anderen westeuropäischen, aber auch asiatischen Nationen, amerikanisch geprägt ist, sind solche Übernahmen aus dem Amerikanischen nicht immer zu vermeiden.

11 Chandler: Biases of the Ear and of the Eye. Paragraph 4.

12 Der Vergleich bei Chandler bezog sich auf gesprochene und geschriebene Sprache. Entsprechend habe ich der Schriftsprache im Internet die Begriffe zugeordnet.

13 "Kiesler, Siegel and McGuire have described computer-mediated communication as having four distinct features in comparison to conventional forms of interaction: an absence of regulation feedback, dramaturgical weakness, few social status cues and social anonymity. Conventional systems for regulation interaction fall apart." E.Reid: Electropolis, 1991.

14 Siehe The Jargon File v.4.0, auch New Hackers Dictionary (Druckausgabe), in dem die Geschichte des Sprachstil der Hackersubkulturen seit mehr als 15 Jahren in einer Gemeinschaftsarbeit aufgezeichnet wird. Die erste Version des Jargon File erschien 1982 und faßte Besonderheiten des Sprachstils der Programmierer des MIT zusammen.

15 Es gibt viele Webpages und Bücher zu dem Thema Smileys. Siehe z.B. David W. Sanderson: Smileys. (1993) oder http://home.earthlink.net/~gripweeds/emoticon.htm

16 Weiter Formen siehe The Jargon File v. 4.0.0, How Jargon Works, Hacker Writing Style.

17 Weitere siehe http://home.earthlink.net/~gripweeds/emoticon.htm#Acronyms.

18 Bei elektronischer Musik wie Techno und HipHop wird dieses Verfahren schon länger verwendet.

19 Auf die Frage, wann er Emily Postnews geschrieben hatte und ob der Begriff Netiquette dabei das erste Mal benutzt wurde, antwortete er: "I think it was around 86 or 87 that I wrote it, netiquette is much older."( E-Mail im Besitz der Autorin).

20 Siehe dazu ein weiteres RFC, RFC 1135: The Helminthiasis of the Internet, J. Reynolds, December 1989.

21 Eine zufällige Auswahl: Patrick Crispen's Internet Roadmap, EFF's (Extended) Guide to the Internet, Zen and the Art of the Internet usw.

22 Von Hubert Partl.

23 "The Internet is a co-operative endeavor, and its usefulness depends on reasonable behaviour from every user, host and router in the Internet. It follows, that people in charge of the components of the Internet MUST be aware of their responsibilities and attentive to local conditions. ... This communal approach to Internet management and maintenance is dictated by the present decentralized organizational structure. The structure, in turn, exists because it is inexpensive and responsive to diverse local needs. Furthermore, for the near term, it is our only choice; I don't see any prospect of either the government or private enterprise building a monolithic, centralized, ubiquitous "Ma Datagram" network provider in this century." RFC 1173.

24 Cliff Figallo: The WELL: A Reagionally Based On-Line Community on the Internet. (1995)

25 Community Guidelines <http://www.well.com/conf/guidelines.html>

26 Im Usenet und in Mailinglisten haben Moderatoren weitergehende Befugnisse, aber auch Pflichten. In einer moderierten Gruppe muß jedes Posting vom Moderator genehmigt werden.

27 motss: members of the same sex

28 Mailinglisten sind ebenfalls Diskussionsgruppen, die sich über ein bestimmtes Themengebiet austauschen. Im Gegensatz zum Usenet sind Mailinglisten nicht für jeden zugänglich. Man muß sich erst 'subscriben', die Mailingliste abonnieren. Dadurch sind die entstehenden Gemeinschaften meist homogener und ein größerer Teil der Mitglieder sind auch aktiv. Es handelt sich aber ebenfalls um eine asynchrone Kommunikationsform, die ähnliche Übertretungen produziert. Daher kann dieses Kapitel auch auf die Netiquetteregelungen von Mailinglisten übernommen werden. Als eine der Listenadministratorinnen einer Mailingliste mußte ich kürzlich ebenfalls - aus gegebenem Anlass - Netiquetterichtlinien herausgeben. Dabei zeigte sich, daß die Usenet-Netiquette inklusive der Ratschläge zum Schreibstil bei computervermittelter Kommunikation in vollem Umfang auf diese Mailingliste angewendet werden konnte.

29 Wenn ein Teil der Gruppe einen Teilnehmer ablehnt, kann die Gruppenzugehörigkeit auch zurückgezogen werden. Da sie aber auch nie offiziell erteilt wurde, ist dies immer ein offener Prozess der Akzeptanz oder Ablehnung. Laughlin u.a.:Standards of Conduct on Usenet (1995) S.102: "In some groups, participation alone does not grant community membership."

30 Zahlen aus Hoffmann (1997) Master List of Usenet Hierarchies v4.16, Posting in news.groups.

31 siehe Anm. 21.

32 Emily Post ist im anglo-amerikanischen Raum so etwas wie Knigge im deutschen - die Authorität in Fragen des Benehmens. Gleichzeitig ist der Verhaltenskanon, den sie vertritt, etwas veraltet. Der Name Emily Postnews spielt darauf an und verknüpft dies mit einem Kommando für das Versenden von Newsartikeln.

33 Im Englischen hat sich ein eigenes Wort für besonders kampflustige Laune entwickelt: 'flameboyant', aus dem Adjektiv flamboyant, was soviel wie extravagant bedeutet.

34 Regelmäßig in der Newsgroup de.org.ccc, der Newsgroup des Chaos Computer Club, zu beobachten. In der klassischen Form stellt ein neuer Teilnehmer in irgendeiner Form die Frage: "Wie kann ich hacken lernen?", worauf sich dann alle alten Hacker angesprochen fühlen auf einen vermutlich völlig eingeschüchterten 17jährigen Teenager herumzuhacken.

35 Millard (1997).

36 Spam in den verschiedenen Internetdienste bezeichnet unterschiedliche Handlungen: im IRC oder in MUDs/MOOs (textbasierten Spieleumgebungen) ist unerwünschte Datenübertragung, die mehrere Bildschirmseiten der Empfänger mit sinnlosen Zeichen oder aggressiven Mitteilungen füllen kann, damit gemeint. Bei privater Email sind Kettenbriefe oder unerwünschte kommerzielle Werbung mit eingeschlossen.

37 Siehe z.B. Stivale (1997), S. 133 und Korthof (1995).

38 Der Client ist das Programm, das ein User benutzt, um sich zum Server zu verbinden und an dem Konferenzsystem teilzunehmen.

39 So werden im IRC die Administratoren genannt.

40 Um sich eine genaue Vorstellung zu machen, ist es am besten, sich einmal selbst in einem MUD oder MOO umzuschauen. Das LambdaMOO ist durch telnet auf den Rechner lambda.moo.mud.org, Port 8888 zu erreichen. Danach einfach nur den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen. Ein deutschsprachiges MUD findet sich im WZB: telnet artemis.wzb.eu Port: 7777. Links zu anderen MUDs, MOOs, MUSHes, MUSEs und so weiter gibt es bei:

http://www.yahoo.com/Recreation/Games/Internet_Games/MUDs__MUSHes__MOOs__etc_/

41 Eine ausführliche Geschichte von MUDs und MOOs findet man bei Julian Dibbell: A Brief History of MUDs <http://www.levity.com/julian/history.html>. Viele Texte zu MUDs, MOOs, virtuellen Gemeinschaften findet sich auf dem FTP-Server des Lambda MOO: ftp://ftp.lambda.moo.mud.org/pub/MOO/papers/.

42 Es gibt auch andere Bezeichnungen. Im MediaMOO wurde die etwas neutralere Bezeichnung 'janitor', Pförtner, gewählt.

43 Dibbell (1993).

44 Spam ist hier "unnecessary data transmission that one participant deliberately produces often simply to fill lines on the recipients' screen, but sometimes to communicate aggressive messages as well" Stivale (1997) S.1933.

45 Stivale (1997).

46 Stivale (1997) S. 139.

 

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