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"Ye Olde Internet Inn"
Ein verlorenes Paradies? | |
SPIEGEL ONLINE, 51/1996 Sabine Helmers, Jeanette Hofmann , 12/96
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Es war einmal ein idyllisches Forschungsnetz. Ein gemütliches "globales Dorf". Es
war die "gute alte Zeit" des Internet.
Lauscht den sentimentalen Berichten der Netzpioniere, hört, was sie über die goldene Zeit erzählen. Geschichten über freundliche Tekkies und wie sie die Technik und die Dienste des Internet entwickelten. Ihnen verdanken wir heute die Mailing-Listen, die News, Internet Relay Chat und andere hübsche Kommunikationsmöglichkeiten des Netzes. Die Organisation und Regulierung des sich entwickelnden Netzes war konsensuell, unbürokratisch, unhierarchisch. Man war unter seinesgleichen. Man verstand sich. Die Selbstregulierung des Netzes funktionierte mit dem einenden Glauben an Technik, an technische Lösungen für jedes auftretende Problem und an die "richtige" Lösung für jedes Problem. Man sagte sich damals: "Wenn über eine Sache abgestimmt werden muß, kann sie nicht richtig sein". Was die erste Generation der Netzbewohner nicht vorhersah und nicht vorhersehen konnte, war das enorme Wachstum des Netzes. Was geschieht, wenn Millionen Fremdlinge - Menschen der sogenannten Real World - sich irgendwann Netzzugang verschaffen und in großer Zahl in das gemütliche "globale Dorf" hineinstürmen? Real-World-Menschen im Netz: Leute, die tagsüber arbeiten statt nachts und die statt T-Shirts Krawatten und Anzüge tragen, Freizeit-Surfer, Mäuseschubser ohne technische Ambitionen, Geschäftsleute - kurzum: Menschen, die - beinahe unglaublich - nicht einmal Computer lieben.
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1 Internet Problems next generation | |
Das exponentielle Wachstum des Internet seit Anfang der neunziger Jahre, sein
sensationeller Erfolg also, führt so manches Problem mit sich. Abzusehen ist
beispielsweise, daß die zwar große, aber doch begrenzte Zahl von Internet-Adressen
(IP-Nummern) irgendwann in nicht sehr ferner Zukunft den Bedarf nicht mehr wird
decken können. Es zeichnet sich ein Engpaß bei der Vergabe von kommerziellen
Domänen-Namen ab, die ".com"-Domänen werden bald nicht mehr ausreichen.
Wen kümmerten überhaupt vor ein paar Jahren die Vergabepraktiken für Domänen-Namen? Für ein paar Dollar konnte jeder jeden beliebigen Namen registrieren lassen, der noch nicht vergeben war. Inzwischen schalten Unternehmen ihre Anwälte ein, um ihre Namen auch im Internet zu schützen. Urheberrechte, Lizenzen und eingetragene Warenzeichen sind zu heißen Themen im Netz geworden. Regierungen trachten danach, steuernd und lenkend in den bis vor wenigen Jahren noch kaum beachteten Datenfluß einzugreifen. Man macht sich auch Gedanken um Datenverschlüsselung und Sicherheit. Werbung und Kommerz entern das einstige Forschungsnetz. Massenwerbesendungen, die rücksichtslos durch sämtliche Newsgroups gepostet werden, verderben immer mehr die Qualität des News-Systems. Nicht allein zu den Hauptverkehrszeiten, auch an den früher ruhigen Wochenenden wird der Netzverkehr immer langsamer und langsamer.
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2 Rauschen unerwünscht! | |
Den Tekkies galt Bandbreitenvergeudung noch als Sakrileg. Pfui den ellenlangen
E-Mail-Signaturen, dem unbedarften "Cross Posting" durch News und Mailing-Listen
- pfui all dem (informations-)technisch nicht notwendigen Schnickschnack. Denn die
Daten sollen fließen, und jeder trägt Mitverantwortung für das Netz.
Aber mit der zweiten Besiedlungswelle kommen Nutzergruppen in das Netz, denen solche Gedanken fern liegen, die für ihren Netzanschluß Geld bezahlen und die alles schön bunt möchten. Ohne mit der Wimper zu zucken, bedienen sie sich des Netzes für ihre profanen Zwecke. Sie denken sich nichts dabei, mit ihren Personalcomputern und "CU-SeeMe" oder Internet Phone die Leitungen zu verschwatzen und die Briefkästen mit Werbung für ihre Firma vollzumüllen. Eben wie im richtigen Leben. Der alte Leitspruch vom "rechtsfreien Raum" des Netzdorfes - wie schön der klingt. Das haben die Propagandisten der "Worldwide Anarchy" nun davon: Die neue Netznutzergeneration nimmt die Losung beim Wort und kümmert sich nicht um "Netiquette". Denn neben der propagierten Rechtsfreiheit gab es im gemütlichen globalen Dorf sehr wohl ein feingesponnenes Netzwerk von Verkehrsregeln für den Netzalltag. Wehe denjenigen, die dagegen zu verstoßen wagten: Es hagelte "Flames", und bei schlimmen Verstößen war gar mit im Briefkasten detonierenden Mail-Bomben zu rechnen. Die Älteren werden sich wohl noch an jene beiden netzlegendären amerikanischen Anwälte erinnern, die vor ein paar Jahren erstmalig die Netnews dreist für ihre Werbebotschaften mißbrauchten. Welch eine Woge der Empörung ging durch das Netz. Mittlerweile ist man so etwas gewohnt, und auch die damals eifrigen Wahrer der werbungsfreien Netztraditionen drücken heute in solchen Fällen nur noch resigniert auf die Löschtaste. Die Prinzipien der "Netiquette" für den sozialen Umgang galten den Netzpionieren gleichfalls als Richtlinie für das Design der technischen Entwicklung: schnörkelfreies "Keep it stupid simple". Schon länger aber wird die bisherige Praxis der kollektiven technischen Entwicklung im Internet kritisiert. Konventionelle nationale und internationale Standardisierungsorganisationen beanstanden die in offenen Verfahren gewonnenen Ergebnisse der Netzentwickler als "zu schlicht", "nicht ausgereift", "unsicher" oder "politisch unausgewogen".
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3 Regulierung oder Selbstregulierung? | |
Einerseits bietet die dezentrale Struktur des Internet einen Schutz gegen Interventionen
von außen. Zensurversuche beispielsweise können leicht umgangen werden.
Andererseits stellt die dezentrale Organisation auch eine Herausforderung für die
Internet Community dar. Wie kann die Architektur des Internet jemals weiterentwickelt
werden, wenn es keine zentralen Kontroll- und Machtinstanzen gibt? Wie kann
beispielsweise der dringend benötigte größere Adreßraum geschaffen werden, wenn
jeder System-Administrator der mehr als zwölf Millionen Hostrechner die dafür
erforderlichen Veränderungen des Internetprotokolls anerkennen muß?
Die offiziellen internationalen Standardisierungsorgane wie die "International Organization for Standardization" (ISO) lösen solche Probleme in klassischer Weise: Repräsentation und Abstimmung. Jedes Mitgliedsland entsendet einen Delegierten zur Vertretung der nationalen Interessen. Solche formalen Prozeduren funktionieren innerhalb der Internet Community aber nicht: Es gibt keine juristisch abgesicherten Organe oder Rechte, keine offiziellen Länderrepräsentanten und verbindliche Abstimmungen. Statt dessen kann jeder teilnehmen, der sich an der Entwicklung neuer Standards beteiligen will. Tagungen der "Internet Engineering Task Force" (IETF) sind ebenso wie die Mailing-Listen, in denen die Spezifika der neuen Protokolle debattiert werden, offen für alle Interessierten. Entsprechend repräsentieren alle nur ihre eigene persönliche Meinung, nicht aber die der Organisationen oder Firmen, auf deren Ticket sie reisen mögen. Zu den heiligen Kulturgütern der Community gehört, zwischen "politics, ego and technology" unterscheiden zu können. Hohes Ansehen genießen die, denen es zuerst um das technische Wohl des Internet und erst dann um die Interessen ihrer Firmen und die eigene Unfehlbarkeit geht. Und obwohl sich die Anlässe für Kollisionen zwischen den verschiedenen Interessen häufen, hält er immer noch stand, dieser Ehrenkodex. Die Treue gegenüber dem Netz ist zumeist größer als gegenüber dem Arbeitgeber - wechselt doch letzterer bei vielen öfter mal. Entscheidungen werden durch "rough consensus" getroffen. Wie auch sonst sollte man zu Entscheidungen gelangen, wenn sich die Zusammensetzung derer, die neue Protokolle entwickeln, ständig ändert? Wo nicht einmal "rough consensus" sich einstellen will, wird pragmatisch verfahren. Eine neue Arbeitsgruppe entsteht, und konkurrierende Vorstellungen werden parallel vorangetrieben. Verschiedene Standards zu haben heißt, die Entscheidung den Anwendern zu überlassen, statt den Gemeinschaftsgeist durch Kampfabstimmungen zu irritieren: "Reality wins rather than a voting block", so IETF-Mitglied Ross Callon.
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4 Schlips und Kragen gegen T-Shirt und Sandalen | |
Bis jetzt besitzt diese offene und transparente Form der Technikentwicklung und
Konfliktbewältigung große Zustimmung unter den "Netizens". Eben auf dieser
Anerkennung beruht die Fähigkeit des Internet, seinen Wandel zu organisieren -
dezentral und ohne autorisierte Vollzugsinstanz. Allerdings steht die traditionelle
Selbstregulierung des Internet vor Problemen. Je mehr Menschen zu den Treffen des
IETF kommen und die einschlägigen Mailing-Listen abonnieren, desto schwieriger wird
es, die Nicht-Tekkies, die ohne Sinn für Geschichte und Kulturgut der Internet-Technik
sind, einzugemeinden.
Das Wachstum des Netzes beschleunigt seinen Wandel, und die damit verbundenen ökonomischen und politischen Interessen werden heterogener. Offen ist, ob und wie lange der exklusive Kreis der Internet-Freunde, der sich seit vielen Jahren kennt und der diesem Wandel mehr oder minder ehrenamtlich den Weg ebnet, seine T-Shirt-und-Sandalen-Kultur gegen die Schlips-und-Kragen-Leute mit ihren "ugly issues" bewahren wird. Die Traditionen der Selbstregulierung, des "Jeder kann mitmachen" und "Was gut ist, das wird sich durchsetzen" stammen aus Forschungsnetzzeiten. Die Entwicklungsoffenheit des Internet - es ist offen für technische, kommunikative und soziale Experimente, offen für das Spiel mit Information und Ideen - hat zu dem geführt, was wir heute vor uns haben: das weltweit beliebteste Datennetz. Diese Entwicklung beruhte auf Eigeninitiative, Eigenverantwortlichkeit und Kompetenz unter dem gemeinsamen Nenner des Flusses der Daten. Klar, alle Netznutzer können Initiative, Verantwortlichkeit und soziale Kompetenz aufbringen. Aber hohe technische Kompetenz ist etwas, das man inzwischen nicht mehr von allen erwarten kann. Internet ist kein Forschungsnetz mehr, und im Trend der Zeit liegen bequeme Menüs und "Plug 'n' Play". Es reicht das Klicken, man muß nicht verstehen, wie die Technik funktioniert. Und obwohl es natürlich auch heutzutage immer noch allen Netznutzern freisteht, bei der Entwicklung der Internet-Technik, zum Beispiel beim neuen Datenprotokoll mitzumachen, bleiben die Tekkies in den Diskussionsforen unter sich und das Volk außen vor. Nur die Insider können verstehen, was dort diskutiert wird. De facto ist es ein kleiner, exklusiver Kreis, der für alle Netznutzer entscheidet, wohin die technische Reise geht. Es gibt bislang keine Nutzerinteressenvertretung, die Entwicklungsergebnisse unter die Lupe nimmt. Daß man dem Internet mit seinen gewachsenen Strukturen heutzutage durch politische Maßnahmen eine ordentliche Verwaltung, saubere bürokratische Verfahren, Kindersicherheit und Sittlichkeit oder paritätische Mitbestimmung und Wahlen von außen auferlegen könnte, ist eher zweifelhaft. Falls doch, dann dürfte dies vermutlich mit Nebenwirkungen in Form von weniger Entwicklungsoffenheit, langsamerer Entwicklungsdynamik und geringerer Innovativität bezahlt werden. Und wäre ein ordentliches, amtliches Internet nicht langweilig im Vergleich zum lebendigen, flexiblen und bunten Internet der "guten alten Zeit"?
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5 Brave New Net | |
Wie wird das Internet am Ende seiner Transformation aussehen? Alles hübsch und
sauber? Alles cholesterinfrei und geprüft nach amerikanischen Sittlichkeitsnormen?
Oder nach chinesischen Normen? Jeder technische Standard abgesegnet vom
DIN-Institut? Statt Newsgroup-Diskussionen, "Requests-for-Comment" und Konsens
der Tekkies zukünftig dann lange Jahre formaler Standardisierungsverfahren in langsam
mahlenden Organisationsmühlen? Alle Daten sicher, und die Netizens können sorglos
beim Teleshopping mit ihren Kreditkarten zahlen? Alle Nutzerbewegungen
zurückverfolgbar zum Ursprung, so daß böse Hacker keine Chance mehr haben, sich im
Datendschungel zu verbergen? patroullieren an jeder Straßenecke im Kampf für ein
sauberes, sicheres Wohnviertel in der Netzwelt? Keine dunklen Ecken mehr? Keine
Schlupflöcher? Ist das die versprochene Datenautobahn, die uns ins
Informationszeitalter führen wird? Eine schöne neue Welt?
Wenn alle solch ein schönes Netz wollen und sich damit zufrieden geben, dann wäre ein solches Zukunftsmodell völlig in Ordnung. Aber wollen dies alle? Die Internet-Pioniere beklagen sich heute über die Kolonisierung ihres gemütlichen Netzdorfes durch die "Real World": Die goldenen Tage des Netzes vorbei und auf immer verloren - wie schade. Nostalgische Verklärung der alten Zeit macht die Runde.
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6 Demokratie unter Ausschluß der Öffentlichkeit | |
Vielleicht war das Internet in der Tat früher einmal der gemütliche Treffpunkt mit
freundlicher Tekkie-Atmosphäre, so wie es die Pioniere berichten, wenn sie in
Erinnerungen schwelgen. Eine Welt der Gleichen: "On the Internet, no one knows that
you are a ". Sich unerkannt durchs Netz bewegen können. Aber unsichtbar? Seit einiger
Zeit wird darauf hingewiesen, daß Netz-Surfen anders als Fernsehen funktioniert und
daß beim Klicken im World Wide Web zahlreiche Daten erfaßt werden. Deshalb
bedienen sich um Datenschutz und Privatsphäre besorgte Surfer eines Anonymisierers.
Dies ist für altvordere Tekkies eine ziemlich fremde Besorgnis: Selbstverständlich wird jede Bewegung in Logbüchern registriert! Das war in der Rechnerwelt jenseits des Personalcomputer-Wesens schon immer so. Und selbstverständlich auch braucht man Software, die Sichtbarkeit schafft! Schließlich muß man die Logins seiner Freunde "fingern" können und sehen, ob sie am Netz sind, bevor man sie wegen eines interessanten Programmierthemas ansprechen oder zu einer Runde "Space Travel" einladen kann. Im alten Internet war der Zugang exklusiv und beschränkt auf technisch versierte Personen, die über ihre Universitäten und Forschungsinstitute Netzanschluß hatten. Das Ach-so-Gute der guten alten Zeit erhält durchaus Schattenseiten, wenn man die Vergangenheit einmal nicht durch eine rosa Insider-Brille betrachtet, sondern mit Blick auf jene, die außen vorblieben, anschaut: auf diejenigen, die, wenn sie sich denn in die erlauchten Kreise der Tekkies vorwagten, als Neulinge, "Newbies", "Luser" von den bereits anwesenden Erlauchten mit milder bis abschätziger Arroganz behandelt wurden. Wer erinnert sich nicht daran? Du stehst als dummer "Luser" in deinem zuständigen Uni-Rechenzentrum und hast eine Frage - du hast zum Beispiel peinlicherweise dein Passwort vergessen - oder ein Problem mit dem Drucker. Die dort mit der Nutzerbetreuung beauftragten Systemverwalter wissen die Antwort zu deiner Frage. Werden sie sich dazu herablassen, dir ihr Expertenwissen mitzuteilen? Du bist Bittsteller und Störfaktor. Daß du die Antwort nicht selbst herausfinden kannst, ist Beweis für deine technische Inkompetenz und deinen "Luser"-Status. RTFM! - Read the ... Manual! Ja, das gute alte Internet war partizipativ und demokratisch. Aber in exklusiver Weise demokratisch - grad so wie an der Wiege der Demokratie im antiken Griechenland. Auch dort galten die Mitspracherechte nur für die Gemeinschaft der Bürger - die Politai. Fremde und Sklaven waren rechtlos Ausgeschlossene dieser Demokratie. Die zukünftige Informationsgesellschaft soll demokratisch sein. Im Zuge der Transformation des Internet von einer elitären Forschungsnetzidylle hin zu einem Massenmedium müssen sich Wege auftun, wie aus der exklusiven Demokratie des einstigen globalen Dorfes eine offene Informationsgesellschaft für alle Netizens werden kann, für Tekkies wie für Nicht-Tekkies. Eine Netzgesellschaft, die zukünftig nicht mehr mit ausschließenden Begriffen wie "Sklave" und "Fremder" oder "Luser", "Newbie" und "Real World People" operiert. SPIEGEL ONLINE 51/1996 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags |