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Wo policy durch die Hintertür hereinschleicht...

Wer entscheidet über policies, wenn sie das gesamte Netz betreffen? Gibt es eingeführte Autoritäten im Netz oder in der real world, die solche Entscheidungen treffen können? Und wo werden überhaupt offen als solche zutage tretende policy-Entscheidungen notwendig? Diese Fragen sind letztlich noch immer unentschieden. Während die IETF ein erfolgreiches Modell der Produktion von offenen technischen Standards auf dem Wege des Konsenses ist, stehen für die Entwicklung weithin akzeptierter policies zur Zeit keine funktionierenden Strukturen bereit.

Es sind also Verfassungsfragen des Internet, die sich am DNS-Problem in neuer Schärfe stellen. Während für die Fortentwicklung des DNS wohl nun kurzfristige Lösungen bereitstehen, wird die konstitutionelle Debatte in jedem Fall andauern. Die Internet-Institutionen, die heute das management des Netzes besorgen, stehen unter wachsendem Legitimationsdruck und sehen sich schwindender Akzeptanz gegenüber.

Das Internet hat sich keineswegs autonom an Staaten und Regierungen vorbei entwickelt, wie oft kolportiert wird. US-Regierungsbehörden waren und sind zum Teil noch heute auf vielfache Weise in Internet-Interna involviert. Aber auch andere Staaten haben bereits Einfluß auf den administrativen Kern des Netzes nehmen können: Eine der ungeschriebenen Regeln des Internet war es bislang, jeder Regierung, die das Management der entsprechenden ISO-3166-TLD ihres Landes übernehmen wollte, dies auch zu erlauben (Shaw [1996]). Mit dem Rückgriff auf die in ISO-3166 definierten Länderkürzel hat IANA auch die essentielle Frage, was Staaten sind und was nicht, an eine externe, allerdings nichtstaatliche Organisation (ISO) abgetreten: ,, The IANA is not in the business of deciding what is and what is not a country`` (RFC 1591).

Das Protokoll-design des Internet hat bislang die Notwendigkeit zentraler Entscheidungen über kommerzielle Fragen, also über die Allokation knapper Ressourcen, weitgehend zu vermeiden versucht. Koordination wurde möglichst automatisiert und in die Technik eingebaut. Wo tatsächlich über knappe Ressourcen entschieden werden muß, wird diese Entscheidung traditionell in die Verantwortung des lokalen Administrators gelegt.

,,Contrary to its popular portrayal as total anarchy, the Internet is actually managed``, schreiben Gillett & Kapor [1996]. ,,It runs like a decentralized organization, but without a single person or organization filling the manager's role. The system that allows 99% of day-to-day operations to be coordinated without a central authority is embedded in the technical design of the Internet. The manager's job - handling the exceptional 1% - is performed by not one but several organizations.``

Dieses ansonsten erfolgreiche Verfahren ist bislang auf der höchsten Ebene des DNS, den top level domains, nicht zum Einsatz gekommen. Eine völlige Liberalisierung des Namensraums, die explosionsartige Vervielfältigung der TLDs wird von manchem als Radikalkur präferiert. Technisch steht dem nicht viel im Wege: Der DNS kann auch mit mehreren 100.000 TLDs funktionieren. Verschwinden würde jedoch die nicht-technische Bedeutung als Klassifizierungs-Kategorien, die den (künstlich knapp gehaltenen) TLDs bislang beigemessen wurde.

Hier ist die Erklärung für die Abneigung vieler alteingesessener netizens gegen eine solche Liberalisierung zu suchen: Es widerspricht ihren Vorstellungen von Ordnung im Netz, die einst Ergebnis heftiger Gefechte waren. Sie halten das explosionsartige Wachstum von .com für falsch und für ein Problem, das sie nicht auf der höchsten Ebene wiederkehren sehen wollen. Und sie verweigern sich den Strategen und Strategien des marketings, die den Internet-Namensraum für ihre Zwecke nutzen und ihn dabei ,,verbrauchen``.

Möglich ist, daß im Streit zwischen ,,offiziellen`` und ,,alternativen`` root servers am Ende beide ein gewisses Recht bekommen: Für einen zuverlässigen, stabilen und einigermaßen geordneten Name Service dürften IANA und das IAHC-Konzept sorgen; für modische Erweiterungen, die auch die höchste DNS-Ebene dem kreativen Chaos öffnen, wären dann Alternic und name.space zuständig. Der eine DNS wäre vielleicht nicht ganz so flexibel, und der andere dafür nicht wirklich zuverlässig. In mancher Hinsicht wäre das eine typische Internet-Lösung.

Es ist mit allem zu rechnen. Stay tuned!


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Martin Recke
Fri May 9 18:33:56 MET DST 1997