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1 Captain's Log
  Das Internet - unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr Eintausendneunhundertachtundneunzig. Dies ist der Schlußbericht des Projekts "Interaktionsraum Internet. Netzkultur und Netzwerkorganisation in offenen Datennetzen". Der vorliegende Text wird begleitet von einer CD-ROM. Sie enthält unsere gesammelten Arbeiten im und über das Netz, dokumentiert in Gestalt unseres Webservers (http://duplox.wz-berlin.de).

Das Kooperationsprojekt von WZB und TU Berlin wurde in den Jahren 1996-98 von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Schwerpunkts "Neue Informations- und Kommunikationstechniken in Wirtschaft, Medien und Gesellschaft: Wechselwirkungen und Perspektiven" gefördert. Durchgeführt hat es die Projektgruppe Kulturraum Internet, die sich im Frühjahr 1994 in der Abteilung "Organisation und Technikgenese" des WZB gegründet hat.1

2 Willkommen in der Netzwelt
  Die 90er Jahre standen auch hierzulande im Zeichen der Informationsgesellschaft. Die Politik hatte den Auf- und Ausbau von Informationsinfrastrukturen auf die Agenda gesetzt. Multimedia wurde zum Wort des Jahres 1995 gewählt. Der Bundestag richtete eine Enquete-Kommission ein zur "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft". 2 Weltweite Vernetzung und Beschleunigung der Kommunikation bilden weithin spürbare Tendenzen. Das Internet hat sich mit einer Rasanz, die viele überrascht hat, vom Forschungsnetz zum Universalmedium gewandelt. Netzpräsenz scheint zum unverzichtbaren Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden.

Unterscheidet man bei Prozessen der Technikentwicklung (idealtypisch) eine Entstehungs-, Stabilisierungs- und Durchsetzungsphase (Dierkes 1997, Weyer et al. 1997), wäre das Internet inzwischen in der Durchsetzungsphase zu verorten. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der weltweit ans Netz angeschlossenen Rechner mehr als verzehnfacht: während beim Internet Domain Survey im Juli 1994 gut 3 Millionen Internet Hosts erfaßt wurden, waren es im Sommer 1998 bereits mehr als 36 Millionen ( http://www.nw.com/zone/WWW/report.html). Die Zahl der Länder mit internationalen Internetverbindungen ist in dieser Zeit von rund 70 auf über 170 (Stand: Juli 1997) gewachsen.

Obwohl sich das Internet zweifellos etabliert hat, bietet es weniger denn je das Bild einer "fertigen" Technik. Das Netz ist heute nicht mehr das, was es vor einigen Jahren noch war. Neue Dienste wie das WWW haben sein Gesicht grundlegend verändert. Mit der Internet-Telefonie oder Push-Kanälen haben sich sein Funktionalitäten erweitert. Die zunehmende kommerzielle Nutzung hat die Anforderungen an Sicherheit und Verbindlichkeit im elektronischen Geschäfts- und Rechtsverkehr steigen lassen. Für das Internet bedeutet die Durchsetzungsphase gleichzeitig eine Phase tiefgreifenden Umbruchs.

3 Grundlinien des Projekts
  Im Projekt Netzkultur und Netzwerkorganisation sind wir der Frage nachgegangen, was das verteilte "Netz der Netze" im Innersten zusammenhält. Die zentrale forschungsleitende These war dabei, daß das offene und grenzüberscheitende Netz eine Art impliziten Designplan aufweist. Dieser implizite Designplan hat sich dem Internet im Zuge seiner Nutzung aufgeprägt, wobei die Netznutzer als Systembildner gewirkt haben. Über diese These hinaus sind wir weiterhin von bestimmten Grundannahmen über das Internet als kultur- und sozialwissenschaftliches Untersuchungsobjekt ausgegangen. Diese Grundannahmen finden sich gebündelt im Konzept des Kulturraums:

In Abgrenzung zur 1993/94 populär gewordenen Metapher der Datenautobahn, die Computernetze als reine Transportwege für Informationen erscheinen läßt, haben wir das Netz als neuartigen Interaktionsraum betrachtet (zur Datenautobahnmetapher vgl. Canzler, Helmers & Hoffmann 1997). Der Austausch im globalen, technisch mediatisierten Datenraum und seine Regulierung unterliegen anderen Bedingungen als in den herkömmlichen (Massen-)Medien oder im geographischen Raum separierter Nationalstaaten.

Internetkultur repräsentierte für uns im ethnologischen Sinn eine "komplexe Ganzheit", die sowohl Wissen und Gebräuche, als auch Institutionen und Artefakte umfaßt und durchdringt (vgl. Helmers, Hoffmann & Hofmann 1996). Materielle und immaterielle, technische und soziale Elemente des Netzwerks entwickeln sich demzufolge nicht isoliert voneinander, sondern bilden ein kulturelles Bedeutungsgewebe, das mit dem Wachstum und Wandel des Netzes heftigen Zerreißproben ausgesetzt ist.

Die Beschreibung von Kulturen erfolgt traditionell auf ethnographischem Wege. Ethnographie bedeutet, an die Schauplätze des Handelns zu gehen, die Leute bei ihrem Tun zu beobachten, eventuell mitzuwirken und das Geschehen aufzuzeichnen. Auch die Netzwelt kann Gegenstand der Ethnographie sein und "von innen heraus" beschrieben werden (vgl. Helmers 1994).

Die technische Fundierung von Computernetzen ist prinzipiell kein Hindernis für eine teilnehmende Beobachtung. Sowohl der - buchstäbliche wie verstehende - Zugang zum Feld als auch die Erhebung des Feldes beinhalten jedoch besondere Anforderungen. Umgekehrt ermöglicht das Netz bislang unbekannte Formen der Beobachtung (vgl. Hofmann 1998b). Um sich so weit wie möglich ins Feld begeben zu können, ist eine netztechnische Ausstattung und Praxis nötig (etwa der Betrieb eigener Internet Hosts und Server), deren Umfang für ein kultur- und sozialwissenschaftliches Projekt ansonsten eher ungewöhnlich ist.

Diese vier Aspekte zusammengefaßt, läßt sich unser Ansatz charakterisieren durch ein Raummodell von Kommunikation, einen ethnologischen Kulturbegriff, die Verpflichtung auf eine Binnenperspektive und eine dezidierte Techniknähe. Vor diesem Hintergrund haben wir die folgenden drei "Schauplätze" als empirische Untersuchungsfelder ausgewählt: die Technik der Netzknoten, das grundlegende Internet-Kommunikationsprotokoll und einen populären Kommunikationsdienst. Zu diesen Feldern führen der Reihe nach die drei Teile des vorliegenden Berichts. Wie es einem ethnographischen Unternehmen entspricht, handelt es sich bei den dargestellten Ergebnissen im wesentlichen um "dichte Beschreibungen".

Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die unter den Internet Hosts lange hegemoniale Unixkultur und ihre Wiederkehr in den technischen und sozialen Normen des Datenverkehrs. Im zweiten Teil geht es am Beispiel der Reform des Internetprotokolls (IP) um das Politische im Netz. Es wird gezeigt, wie die herrschende Architektur des Netzes und die "Techniken des Regierens" in der Internet Governance miteinander verschränkt sind. Der dritte Teil spürt am Beispiel des Usenet dem Rauschen eines Mediums in seinem Gebrauch nach. Beleuchtet wird derjenige Ausschnitt des kommunikativen Handelns im Usenet, der das Medium selbst zum Inhalt oder Objekt hat.

In allen drei Untersuchungssträngen geht es gleichermaßen um Fragen des Ist und des Werdens. In der abschließenden Zusammenschau greifen wir jene Aspekte der Ordnung des Interaktionsraums Internet heraus, von denen wir meinen, daß sie das beständig expandierende Netz auch in seinem Wandel prägen. An diesen übereinstimmenden Organisationsmustern müssen sich Bemühungen um eine Reform "von innen" ebenso abarbeiten wie Regulierungsversuche "von außen". Unsere Untersuchungen weisen damit am Ende auf die Kontinuitäten im Wandel hin - mit anderen Worten: auf die Persistenz, mit der sich die Internetkultur auch in der Umbruchphase des Netzes durchsetzt.

4 Erkundungen eines Neulands
  Das Internet hat an Sichtbarkeit und, zumindest in den Industriestaaten, an gesellschaftlicher und ökonomischer Relevanz gewonnen. Auch die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung über das Netz verzeichnet einen Aufschwung. Ein grober Überblick über die neuere englischsprachige Literatur läßt drei Schwerpunkte erkennen. Den breitesten Raum nehmen Arbeiten zu virtuellen Gemeinschaften ein, die rund um die Dienste des Internet entstanden sind. Untersucht werden vor allem soziale Beziehungen und Identitätsbildung im Datenraum, vereinzelt auch die Binnenorganisation der Netzdienste (vgl. beispielsweise Jones 1995 und 1998; Kollock & Smith 1998; Porter 1997; Shields 1996; Sudweeks, McLaughlin & Rafaeli 1998; Turkle 1996). Die Aufarbeitung und Dokumentation der Geschichte des Internet bilden einen zweiten, mit deutlich weniger Aufmerksamkeit bedachten Themenbereich (vgl. etwa Hafner & Lyon 1996; Hauben und Hauben 1997; Salus 1995). Rund um politische und rechtliche Fragen der Internet Governance konstituiert sich ein drittes Feld (vgl. überblicksweise die Sammelbände Kahin & Keller 1997; Kahin & Nesson 1997; Loader 1997).

Auch hierzulande ist in den letzten Jahren eine kaum mehr überschaubare Zahl von Büchern zum Netz erschienen. 3 Den Großteil machen praktischen Zwecken dienende Konstruktionsanleitungen, Gebrauchsanweisungen, Kurs- und Wörterbücher aus. Zu verzeichnen ist jedoch auch eine wachsende Zahl sozialwissenschaftlicher Titel. 4 Die eben erst entdeckte "terra incognita der Computernetze" (Wetzstein & Dahm 1996, 37) bildet inzwischen ein beliebtes Ziel für Dienstreisen.

In der sozialwissenschaftlichen Exploration wird die neue Wirklichkeit der Netzwelt überbaut mit alten/neuen Wissensobjekten. Wissensobjekte werden nicht gefunden, sondern gemacht. Das Netz als Kulturraum, auf das unser Projekt zielte, ist ein solches, technikanthropologisch konstituiertes Wissensobjekt. Ihm entspricht eine Form der Darstellung, die reflektorisch anknüpft an die in untersuchten Feld gebräuchlichen Bilder (Wir sind zuversichtlich, daß auch den Lesern unseres Berichts die Reisen des Raumschiffs Enterprise nicht gänzlich unvertraut sind: spaceÉ the final frontierÉ)

Eine andere Form der Annäherung bietet die externe Regulierungs- und Steuerungsperspektive. Diesen Weg ist etwa das am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln durchgeführte Projekt "Das Internet und die Entwicklung von Computernetzen für die Wissenschaft: Ein internationaler Vergleich aus der Governance-Perspektive" gegangen. 5 Zielt dieses Projekt auf die Genese der netztechnischen Infrastruktur, untersucht die Forschungsgruppe Telekommunikation an der Universität Bremen in ihrem Projekt "Wege in die Informationsgesellschaft. Ein Vergleich von staatlichen Multimedia-Initiativen und ihrer institutionellen Einbettung: Deutschland, EU und USA", mit welchen staatlichen Gestaltungsinstrumenten die Institutionalisierung der neuen Kommunikationstechnologien auf der Anwendungsseite gefördert werden kann ( http://infosoc.informatik.uni-bremen.de/internet/widi/start.html).

Das Internet als Lebenswelt steht für eine dritte Herangehensweise. Hier wird gefragt, wie sich die neuartigen, computerunterstützten Kommunikationsweisen auf Identitäten, Beziehungen und Gemeinschaften auswirken (vgl. zum Forschungsstand Döring 1998). So geht es etwa im Projekt "Virtuelle Vergemeinschaftung: Die Sozialwelt des Internet" des sozialwissenschaftlichen Schwerpunktprogramms "Zukunft Schweiz" um die Frage, ob virtuelle Gemeinschaften sozialintegrative Funktion besitzen und welche Bindungskraft sie haben ( http://sozweber.unibe.ch/ii/virt_d.html). Die Projektgruppe Transitkultur an der RWTH Aachen untersucht die Rolle globaler Vernetzungstechniken beim Wandel des Raum-Zeitgefüges ( http://www.rwth-aachen.de/ifs/Ww/transit.html).

Als "elektronischer Marktplatz" wird das Netz schließlich als Ort von Geldinnovation interessant. In diesem Zusammenhang betreibt ein Projekt am Forschungszentrum Karlsruhe "Technikfolgenabschätzung zu elektronischen Zahlungssystemen für digitale Produkte und Dienstleistungen im Internet" ( http://www.itas.fzk.de/deu/projekt/pez.htm). Um digitales Geld geht es - unter anderem - auch im Projekt "Das Internet als globaler Wissensspeicher" an der Humboldt-Universität zu Berlin, das Teil des überregionalen DFG-Forschungsverbunds "Medien - Theorie - Geschichte" ist ( http://waste.informatik.hu-berlin.de/I+G/Listen/Forschung.html).

Mit dem elektronischen Geschäftsverkehr zwangsläufig verbunden sind neue Anforderungen an den Rechtsverkehr im offenen und grenzüberschreitenden Internet. Das Netz entwickelt sich in diesem Problemfeld - wie in anderen Bereichen auch - nicht nur zum Objekt der Forschung und Regulierung, sondern auch zu ihrer Ressource; vgl. beispielsweise das "German Cyberlaw Project" (http://www.Mathematik.Uni-Marburg.de/~cyberlaw/) sowie die "Cyberlaw Encyclopedia" ( http://gahtan.com/techlaw/home.htm).

Eine weitere Richtung bei der Erkundung der Netzwelt betrifft die Werkzeuge der Online-Forschung. Die im Mai 1998 beim Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) eingerichtete Arbeitsgruppe OnlineResearch befaßt sich mit grundlagenwissenschaftlichen Fragen im Bereich der internetbasierten Datenerhebungsverfahren ( http://www.or.zuma-mannheim.de/; vgl. dort auch den von ZUMA OnlineResearch und Bernad Batinic gemeinschaftlich herausgegebenen "Newsletter" zu Internet-Umfragen und Web-Experimenten).

Die genannten Beispiele weisen exemplarisch auf einige der immer vielfältiger werdenden Anschlüsse des Internet an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Lebenswelt hin. Es fehlt nicht an Prognosen, daß das Netz unser Leben verändern wird. Im Hinblick auf die Tiefe des gesellschaftlichen Wandels, der mit dem Aufkommen der Netzwelt verbunden ist, gehen die Einschätzungen allerdings erheblich auseinander. Während manche darin eher eine transitorische Heimat für medial erzeugte, mehr oder weniger flüchtige "Sonderwirklichkeiten" (Rammert 1998) sehen, zeichnet sich für andere ein "qualitativ neuartiger Gesellschaftstyp" (Bühl 1997) ab.

Aus unserer Perspektive "von innen" lassen sich zwar begründete Vermutungen zur Nachhaltigkeit tradierter Ordnungsformen innerhalb des Netzes selbst anstellen, weitreichende Aussagen über die gesellschaftstheoretische Bedeutung offener Datennetze verbieten sich jedoch. Vermerken läßt sich allerdings, daß der bei herkömmlichen großen technischen Infrastruktursystemen beobachtete Zusammenhang von Größenwachstum, Zentralisierung und Hierarchisierung (Mayntz 1993, 105) beim Internet bislang nicht erkennbar ist - im Gegenteil. Aber das Netz ist ja auch keine gewöhnliche Informationsinfrastruktur, sondern womöglich "the best and most original American contribution to the world since jazz. Like really, really good jazz, the Internet is individualistic, inventive, thoughtful, rebellious, stunning, and even humorous. Like jazz, it appeals to the anarchist in us all..." (Edward J. Valauskas, zit. nach Rilling 1998).

Mit dem Ende des Projekts verabschiedet sich auch die Projektgruppe Kulturraum Internet. Wir danken allen, die unsere Arbeit mit Informationen und Aktionen, Hinweisen und Kritik, sowie - last but not least - finanziellen Zuwendungen unterstützt haben.

"Energie!"

1 Neben den "ständigen Mitgliedern" (Sabine Helmers, Ute Hoffmann, Jeanette Hofmann, Lutz Marz, Claudia Nentwich, Jillian-Beth Stamos-Kaschke und Kai Seidler) haben auf die eine oder andere Art zur Arbeit der Gruppe beigetragen: Tilman Baumgärtel, Meinolf Dierkes, Valentina Djordjevic, Volker Grassmuck, Madeleine Kolodzi, Johannes Brijnesh Jain, Thei van Laanen, Jörg Müller, Martin Recke, Barbara Schlüter, Evelyn Teusch und Eef Vermeij.

2Die Kommission hat ihre Arbeit im Sommer 1998 abgeschlossen (vgl. die Berichte unter http://www.bundestag.de/gremien/14344x.htm).

3Zählt die "Literaturliste Internet" im Herbst 1995 rund 50 deutschsprachige Publikationen, sind es drei Jahre später, im Herbst 1998, gut 1.000 Veröffentlichungen
( http://medweb.uni-muenster.de/zbm/liti.html).

4Eine Auswahl deutschsprachiger Titel: Becker & Paetau 1997, Bühl 1997, Brill & deVries 1998, Gräf & Krajewski 1997, Hinner 1996, Münker & Roesler 1997, Rost 1996, Stegbauer 1996, Werle & Lang 1997.

5 http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/~kv/paper.htm; siehe auch Leib & Werle 1998.

 

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