|
Das Internet als imaginäres Museum | |
WZB Discussion Paper FS II 98-110, Wissenschaftszentrum Berlin 1998 Tilman Baumgärtel , 10/98
| |
Zusammenfassung | |
Das Internet ist zu einem "imaginären Museum" geworden: Seit die documenta X 1997 der Netzkunst einen eigenen Raum gewidmet hat, ist in das Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit gelangt, was vorher nur einer kleinen Gruppe von Spezialisten an der Peripherie des Kunstbetriebs bekannt war: Das Netz ist zu einer ernstzunehmenden Plattform für künstlerische Aktivitäten geworden. In diesem Papier werden einige Charakteristika und Themen der Netzkunst definiert: Das Verhältnis von realem und virtuellen Territorium und Fragen nach Identität und Körper im raumlosen Raum des Internets sowie die "virtual communities", die sich in Mailboxen und um eine Reihe von Mailinglisten entwickelt haben. | |
Abstract | |
The Internet has turned into an "imaginary museum": Since the documenta x in 1997 has dedicated a special room to net art, a larger audience started to acknowledge what was familiar only to a small group of specialists at the periphery of the art scene: the net has turned into a serious platform for artistic activities. This paper attempts to define some characteristics and topics of art on the internet: the relation of real and virtual territory and questions of identity and body in the "spaceless space" of the internet as well as the so-called "virtual communities", that have developed around mailboxes and a number of mailing lists. | |
1 Der Information-Superhighway: ein Kunstprojekt | |
Einleitung*
"Kunst war nur ein Ersatz für das Internet."
Vuk Cosic, Netzkünstler Im Frühjahr 1974 schrieb der koreanische Künstler Nam June Paik im Auftrag der amerikanischen Rockefeller-Stiftung einen Aufsatz mit dem Titel "Medienplanung für das nachindustrielle Zeitalter Bis zum 21. Jahrhundert sind es nur noch 26 Jahre." 1 In dem Text unterbreitet Nam June Paik der Stiftung ein ehrgeiziges Projekt: "Der Bau neuer ELEKTRONISCHER SUPER-AUTOBAHNEN wird ein noch größeres Unternehmen werden (als die Einführung von Videorekordern und -kameras auf dem Konsumentenmarkt - Anm.). Angenommen, wir verbinden New York und Los Angeles mit einem elektronischen Telekommunikationsnetz starker Sendebereiche sowie mit kontinentalen Satelliten, Wellenlängengeneratoren, Bündeln von Koaxialkabeln und später mit Laserstrahlen mittels Glasfaser. Die Ausgaben wären so hoch wie für die Mondlandung, aber der positive Nebeneffekt für die Produktion wäre größer.Diese technologisch motivierten, offensichtlich von Schriften Marshall McLuhans geprägten Utopien eines Künstlers, scheinen 1974 bei den Auftraggebern Nam June Paiks nicht auf offene Ohren gestoßen zu sein. Daß die Rockefeller-Stiftung seine Anregung weiterverfolgt hätte, ist nicht bekannt. Erst knapp zwei Jahrzehnte später konnte Paik triumphieren: "Bill Clinton stole my idea", heißt es in einem Text in dem Katalog, der 1994 zu der Paik-Retrospektive der Biennale von Venedig erschien. 2 Der amerikanische Präsidentsschaftskandidat hatte im Wahlkampf unter anderem den Bau eines "electronic superhighways" propagiert. Genüßlich druckte Paik in dem Katalog einen Ausschnitt aus dem amerikanischen Nachrichtenmagazin "Time" nach, in dem Clintons Techno-Vision beschrieben wurde: nicht nur der Gebrauch des durchaus problematischen Begriffs "electronic super-highway", sondern auch das übrige Vokabular Clintons weist eine verblüffende Nähe zu Paiks Aufsatz von 1974 auf 3. Im Unterschied zu Paiks Zukunftsvision beruhte Clintons Wahlkampfrhethorik allerdings auf einer funktionierenden technologischen Grundlage: das Internet, das 1974, als Paik auf die Idee mit dem Information Super-Highway kam, nur eine kleine community von Akademikern und Militärs in den USA miteinander verband, war Anfang der 90er Jahre gerade dabei, zu einem Medium zu werden, das von einer immer breiteren Öffentlichkeit genutzt wurde. Clintons Wahlkampfpropaganda hat zu dem Siegeszug des "Netzes der Netze" ebensoviel beigetragen, wie die Entwicklung des graphisch orientierten WorldWideWeb, welches das Internet auch für Computerlaien "per Mouse-Klick" manövrierbar machte. Da soll noch einer sagen, Kunst sei zu nichts nütze: bereits zwei Jahrzehnte vor dem großen Internethype Mitte der 90er Jahre hatte ein Künstler prophezeiht, daß ein neues "Megamedium" Terminals auf der ganzen Welt miteinander verbinden würde. Schon damals war Nam June Paiks Zukunftsentwurf keine haltlose Spinnerei. Paik, der unter anderem eigene Effektgeräte für Video mitentwickelt hatte, war mit dem Stand der Technik gut genug vertraut, um zu wissen, daß eine weltweite mediale Vernetzung schon Anfang der 70er Jahre eine reale, technologische Option war. Was er nicht vorhersehen konnte, war, daß dieses Mediennetz nicht mit Fernsehern und Breitband-Kabeln entstehen würde, sondern mit Computern und einem Protokoll, das den Versand von Daten über Telefonkabel möglich machen würde. Inzwischen ist das Internet auch zu einem neuen Medium für künstlerische Aktivitäten geworden 4. Im Sommer 1997 hat die documenta X als erste Institution der "offiziellen" Kunstszene Netzkunst ausgestellt. Dadurch gelangte ins Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit, was vorher nur einer kleinen Gruppe von Spezialisten an der Peripherie des Kunstbetriebs bekannt war: Das Netz ist zu einem "imginären Museum" und zu einer ernstzunehmenden Plattform für künstlerische Aktivitäten geworden. In diesem Papier will ich versuchen, einige Charakteristika und Themen der Netzkunst zu definieren. Nach einigen generellen Bemerkungen zur Kunst im Internet sollen im folgenden einige "reoccuring motives" in der Netzkunst hervorgehoben werden. Ich will zeigen, daß sich in den Topoi der Netzkunst die technischen Merkmale der Netzarchitektur (Translokalität, dezentrale Struktur, Interkonnektivität, "verteilte" Distribution etc.) abbilden. Im Gegensatz zu den meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema soll dieser Aufsatz nicht eine schlichte Aufzählung von Kunstprojekten mit Telekommunikationsmedien im allgemeinen und Netzkunst-Arbeiten im besonderen bieten, sondern die thematischen Parallelen zwischen diesen Projekten hervorheben. Ich will bei einigen Arbeiten aus der immer vielfältiger und unübersichtlicher werdenden Netzkunst-Szene der Gegenwart immer wiederkehrende Motive betonen: Identität und deren (Miß-) Repräsentation, der Körper, das Verhältnis von realem Raum und "Cyberspace" und die virtuellen Gemeinschaften. Daß diese Themen in der Netzkunst so wichtig sind, will ich mit den genuinen Eigenschaften des Many-to-many-Mediums Internet erklären. Denn viele Netzkunstarbeiten reflektieren direkt oder in vermittelter Weise die technische Umgebung, in der sich die User des Netzes bewegen und kommunizieren. Dadurch unterscheiden sie sich nicht nur von künstlerischen Arbeiten, die mit traditionelleren Mitteln arbeiten (Malerei, Skulptur, Installation etc.), sondern auch von der Medienkunst der letzten zwanzig, dreißig Jahre. Diese arbeitet zwar wie die Netzkunst auch mit immateriellen, zum Teil sogar digitalen Informationen, aber sie befinden sich immer noch an einem physisch lokalisierbaren Ort oder auf einem Datenträger (dem Videoband, der Computerfestplatte etc). Im Gegensatz dazu ist Netzkunst sozusagen "überall und nirgends", denn sie findet in einem "distribuierten" Computernetzwerk statt, in dem in den letzten Jahren auch eine spezifische Sozialkultur entstanden ist. Was ist das also für ein "Ort", an dem sich die Netzkunst "befindet"? Zu den "Grundbedingungen des "Cyberspace"... gehören die
Daß die Kommunikation nicht-stofflich ist und in einem "virtuellen Raum" stattfindet, gilt freilich auch für andere Telekommunikationsmedien wie das Telefon und dem Fernschreiber. Im Falle des Internets kommen noch zwei andere wichtige, netzspezifische Eigenschaften hinzu:
| |
2 Kunst als Materialprüfungsamt: Einige grundsätzliche Bemerkungen zur Kunst im Internet | |
Netzkunst ist kein neuer "Ismus". Sie ist keine neue, mehr oder weniger
homogene und in sich geschlossene Kunstbewegung wie Surrealismus, Fluxus
oder Pop Art. Das Internet ist Medium für vielfältigstes
künstlerisches Arbeiten. Dazu gehört die Gestaltung von
Web-Pages wie die Einrichtung von Mailinglisten, von Email- und ASCII-Art
bis zu "telerobotischen Skulpturen", bei denen Netz-User aus der ganzen
Welt die Bewegungen eines Gegenstandes oder einer Installation beeinflußen
können.
Zwar hat sich in Europa in den letzten zwei Jahren eine Reihe von Künstlern unter dem Begriff "net.art" 7 zusammengefunden aber schon dieser Neologismus kann auch als ironische Instrumentalisierung der üblichen Kunstwelt-Mechanismen verstanden werden. Der Begriff "net.art" , sagte der russische Künstler Alexei Shulgin in einem Interview mit dem Online-Magazine "Telepolis" "erinnert viel eher an einen Dateinamen in UNIX als an einen neuen Ismus. Ich finde das sehr wichtig; denn dieser Begriff in dieser Schreibweise enthält sehr viel Ironie." 8 Und die "net.artisten" sind keineswegs die einzigen, die sich künstlerisch im Internet betätigen. Kunst im Internet ist eine praktisch unüberschaubares Ansammlung der unterschiedlichsten Daten so wie das Internet selbst. Anfang der 90er Jahre, in der ersten Internet-Euphorie, wurde der "Cyberspace" noch per se zum "medialen Gesamtkunstwerk" erklärt. 9 Der Künstler Heath Bunting hat diesen Gedanken etwa zeitgleich auf eine noch kürzere und griffigere Formel gebracht: "net = art". Zu dieser Zeit hatte sich das Internet, während seiner Anfänge in den späten 60er Jahren ein "Text-Only"-Medium, bereits zu einem gigantischen Archiv von Texten und Programmen entwickelt, zu dem in den folgenden Jahren auch immer mehr Bilder, Ton und schließlich auch Animationen und andere bewegte Bilder hinzukamen. Wegen seiner enzyklopädischen Fülle ist das Internet darum immer wieder mit der berühmten Bibliothek von Babel, die jedes nur denkbare Buch enthält, verglichen worden, die Jorge Luis Borges in einer Erzählung beschreibt. 10 Einige der ersten Netzkunst-Projekte wollen dieser babylonischen Bibliothek neue Daten hinzuzufügen. Einige der frühesten künstlerischen Arbeiten im Internet sind selbst wenig mehr als Archive und Datensammlungen, zu denen der User in einigen Fällen selbst neue Daten beisteuern kann. Antonio Muntadas "File Room" von 1994 11 ist so ein "Netz-Werk": eine Online-Dokumentation über Fälle von Kunst-Zensur. Die Arbeit ist wie eine Datenbank nach bestimmten Kategorien erschließbar (nach Datum, Medium, Ort etc.), zu dem bis heute jeder Internet-User neue Zensurfälle hinzufügen kann. Aus einer kunstgeschichtlichen Perspektive ist ein wichtiger Aspekt an der Netzkunst, daß im Internet inzwischen nicht nur Texte, sondern die verschiedensten Medientypen (Filme, Sound, Grafik, Animationen, Fotografie, 3-D Simulationen etc.) nebeneinander stehen und übertragen werden können. Alles, was in Bits und Bytes übersetzt werden kann, kann auch online gebracht werden. 12 Dadurch integriert das Netz die verschiedensten Medien, mit denen Künstler arbeiten (wie z. b. die traditionellen Genres Malerei, Fotografie, Video, Klang etc.), zu einer zeitgenössischen Form der "Intermedia", wie der Künstler Dick Higgins in den 60er Jahren eine Kunstrichtung nannte, die sich nicht auf ein einziges künstlerisches Medium festlegen lassen wollte. Bei den Daten, die im Internet abgelegt sind, kommt freilich hinzu, daß diese auf jeden ans Netz angeschlossenen Computer heruntergeladen und dort mit der entsprechenden Software weiterbearbeitet und manipuliert werden können. Die ambivalent-vielschichtige Natur der Bilder, die im Netz zu finden sind, thematisiert zum Beispiel Brad Brace' "12hr-ISBN-Projects" 13 oder "Virtual Design" 14 von einer Studentengruppe der Berliner Fachhochschule, bei der man Bilder aus dem Netz herunterladen, weiterbearbeiten und wieder in einer Online- Datenbank abspeichern kann. Wer lediglich seine Gemälde, Fotos, Videos etc. digitalisiert und im Internet veröffentlicht, ist darum aber noch kein Netzkünstler. Fast alle großen Museen der Welt haben inzwischen eigene Sites im WWW, auf denen unter anderem Werke aus ihrer Sammlung zu sehen sind; auch eine Reihe von Künstlern hat sich inzwischen eine Art virtuelles Portofolio angelegt und zeigen auf ihrer Homepage eigene Arbeiten. Was die Präsentation von Kunstwerken im Internet von Netzkunst unterscheidet, ist, daß Netzkunst dezidiert mit den genuinen Eigenschaft des Internets arbeitet. Die Netzkunstarbeiten, die in den letzten fünf Jahren entstanden sind, benutzen das Internet nicht nur als "Transportmedium", sondern setzten sich gezielt mit dessen spezifischen Qualitäten auseinander. Diese Kunstprojekte untersuchen das Internet nicht nur als Medium künstlerischer Aktivität; sie hinterfragen das Netz, seine Protokolle und Konventionen, auf grundsätzlichere Weise als es eine "normale" Nutzung tun würde. Ich habe die Kunst darum als ein "Materialprüfungsamt des Internets" bezeichnet. 15 Die etablierten Netzprotokolle werden von einigen der interessantesten Netzkunst-Projekte gezielt thematisiert und in Frage gestellt, so zum Beispiel HTML, der Code, mit dem Webpages programmiert werden. Das holländisch-belgische Künstler-Duo Jodi (Joan Heemskerk und Dirk Paesmanns) 16 operiert vor allem mit dem kreativen Mißbrauch dieses Codes. Ihre chaotisch-organisierte Site strotzt nur so vor bewußt eingesetzten Programmierfehlern: "Es ist offensichtlich, daß unsere Arbeit sich gegen High Tech richtet. Wir kämpfen auf grafischer Ebene gegen den Computer." 17 Auch der slowenische Netzkünstler Vuk Cosic sagt: "Ich habe HTML-Dokumente geschrieben, die bewußt den Browser zum Abstürzen gebracht haben. Ich bemerkte, daß irgendwo ein Fehler in meiner Programmierung war. Aber es genügte nicht, diesen Fehler zu vermeiden; ich habe wirklich versucht, ihn zu verstehen." 18 Diese kreative Dekonstruktion von Technologie hat freilich kunstgeschichtliche Tradition: Schon in den sechziger Jahren interessierten sich Videokünstler wie Nam June Paik weniger dafür, was man mit dem neuen Medium Video machen konnte, sondern was man mit ihm nicht machen sollte und verwendete das Fernsehen so gegen seine eingeschriebene Benutzungslogik. Auf einem Monitor installierte er einen starken Magneten, der das elektronische Bild zu einer eleganten Schleife verzerrte, oder reduzierte es zu einem schmalen Streifen; später konstruierte er einen "Videosynthesizer", der Videobilder durch Farbeffekten und Verzerrungen verfremdete und das Mischen mehrerer Videobilder erlaubte. Netzkunst arbeitet an einer Schnittstelle zwischen Kunst und Nicht-Kunst, und es sind keineswegs immer Künstler, denen die radikalsten und konsequentesten Anwendungen der genuinen Eigenschaften des Internets eingefallen sind. Künstler, die im und mit dem Internet arbeiten, sind immer wieder mit Hackern verglichen worden, die sich ja auch im kreativen Mißbrauch des neuen Telekommunikationsmediums üben. Von einem Künstler stammt auch ein Projekt, das als ernstzunehmende politische und technische Alternativen zu der Art und Weise, wie das Internet funktioniert und reglementiert wird, gelten kann: Paul Garrins "name.space" 19 schlägt eine praktikable erscheinende Alternative dazu vor, wie zur Zeit die Top-Level-Domains (der letzte Teil von Internet-Adressen, wie zum Beispiel ".com", ".org" oder ".de") vergeben werden. Dieses Projekt hat die Grenze von Kunst und technologischer Kritik so stark verschwimmen lassen, daß sich selbst sein Schöpfer nicht mehr sicher ist, ob er noch an einem Kunstprojekt arbeitet. 20 Mit seinem Projekt steht Garrin in der Tradition von künstlerischen Experimenten mit Technologien, die mindestens bis in die sechziger Jahre zu der amerikanischen "Arts & Technology"-Bewegung oder den disfunktionalen Schrott-Maschinen eines Jean Tinguely zurückreichen. Doch gleichzeitig scheint er jedoch mit "name.space" den Rahmen des Kunstkontextes tatsächlich verlassen zu haben: zur Zeit führt er ein Gerichtsverfahren gegen das Unternehmen, das bis heute ein Monopol für die Vergabe von Toplevel-Domains besitzt. Aber dieses technik-kritische Projekt ist nicht die einzige Netzinitiative, die die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst in Frage stellt. Umgekehrt können auch Netzaktivitäten, die gar nicht als Kunst gemeint sind, als Kunstprojekte betrachtet werden. Die "Jennicam" 21 könnten durchaus als Netzkunst erscheinen, wenn sie in einem entsprechenden Kontext stattfinden würden: eine amerikanische Studentin hat auf dem Computer in ihrem Zimmer eine Kamera installiert, die alle zwanzig Minuten ein Foto von dem Raum schießt und dieses sofort in Internet lädt. So sieht man Jenni vor dem Computer sitzend und arbeitend, schlafend, tagträumend, beim Spielen mit ihrer Katze, nackt, im Bett mit ihrem Freund etc. Manchmal ist das Zimmer auch einfach bloß leer. Das Spiel mit dem Voyeurismus des Betrachters und der Möglichkeit, das Internet als ein Instrument totaler Kontrolle einzusetzen, würde sicher als brilliantes und konsequentes Kunstprojekt gelobt werden, käme es denn aus einem Künstleratelier und nicht aus einem Raum in einem amerikanischen Uni-Dormitory. Es erinnert an eine Reihe von Kunstprojekten (viele von ihnen aus der Hochzeit der Conceptual Art), bei denen Künstler ihren Lebensraum in der Öffentlichkeit ausstellten. (Erinnert sei nur an Andy Warhols Gesamtkunstwerk "Factory", an verschiedene Aktionen von Chris Burden oder Vito Acconci aus den 70er Jahren, oder an die Performances von Elke Krystufek oder Rirkrit Tiravanija, die in den Jahren ihr Privatleben als Kunstereignis inszenierten.). Der Versuch, das Internet "zu Ende zu denken" oder kreativ zu mißbrauchen, ist also keineswegs ein Privileg von Künstlern, und zu einer ganzen Reihe von Kunstprojekten existieren verblüffende Gegenstücke, welche nicht von Künstlern, sondern von ganz normalen Internet-Usern stammen. In Anlehnung an den berühmten Cartoon, in dem es heißt: "Im Internet weiß niemand, daß du ein Hund bist" könnte man darum sagen: "Im Internet weiß niemand, daß du ein Künstler bist." Daß die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst im Internet so klein ist, liegt ebenfalls an einer genuinen Eigenschaft des Internets, welche es von anderen Medien unterscheidet: Letztlich sind alle Informationen im Netz digitalisierte Daten auf Server-Computern. Das bedeutet nicht nur, daß sie beliebig veränderbar sind, sondern auch, daß ihre Quelle nicht von vornherein eindeutig bestimmbar ist. Der russische Künstler Alexei Shulgin, der in seiner Arbeit selbst gerne mit der geringen Fallhöhe von Kunst und Nicht-Kunst im Internet gespielt hat, sagt zum Beispiel: "Beim Netz ist der physische Raum nicht wichtig. Alles passiert nur auf dem Computermonitor, und es ist egal, von wo die Daten kommen. Darum gibt es auch viele Mißverständnisse. Die Leute sind verwirrt, weil sie nicht wissen, was sie von den Daten halten sollten, die sie bekommen. Ist das nun Kunst, oder nicht? Sie wollen wissen, in welchem Kontext die Arbeit steht, weil sie ihren eigenen Augen nicht trauen." 22Auch das Künstlerpaar Jodi hat betont, daß sie gerade die fehlende Kontextualisierung ihrer Arbeit als Kunst im Internet reizt: "Weil es im Netz keine Etiketten gibt, ist das, was der kleine Stefan macht, vielleicht auch Kunst. Mit unserer Arbeit ist es dasselbe. Da ist kein "Kunst"-Label dran. In dem Medium, in dem unsere Arbeit betrachtet wird, kümmern sich die Leute nicht um solche Etiketten." 23Besonders in der ersten Begeisterung über das neu entdeckte Medium Internet Anfang der 90er Jahre erschien das Netz einigen Künstlern sogar als eine Methode, sich um die verhaßten, als lähmend und einengend empfundenen Institutionen des Kunstbetriebs und ihren Filtermechanismen (Museen, Kuratoren, Ausstellungen) herum zu manövrieren, und jenseits der Kunstwelt ein neues Publikum und einen autonomen, selbstkontrollierten Präsentationsraum für die eigene Arbeit aufzubauen. Auch wenn es bis heute natürlich jedem Netzuser möglich ist, eine eigene Site mit der eigenen Arbeit ins Netz zu stellen, scheint inzwischen jedoch geradezu das Gegenteil der erhofften Annäherung von (Netz-)Kunst und (Netz-)Leben eingetreten zu sein: Will man mit seiner Arbeit im Internet als Künstler wahrgenommen werden, scheint es wichtiger denn je, sich in einem Kunstkontext zu positionieren - sei es durch besonders extrovertierte Formen der Selbstdarstellung und der Bildung eines Mythos um die eigene Person, durch mehr oder weniger aufdringliche Reklame für sich selbst, die permanente Anwesenheit bei allen wichtigen Events der Netz- und Medienkunstszene, oder eben durch die Teilnahme an Ausstellungen wie der documenta. In einem Posting auf der Netzkunst-Liste "7-11" konstatierte der Netzkünstler Alexei Shulgin Anfang Februar 1998 daher: "Netzkunst ist die Fähigkeit, die eigenen Aktivitäten im Netz in Kunstinstitutionen unterzubringen." Der kurze Moment, in dem es erscheinen konnte, als sei durch das Internet die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst dauerhaft durchbrochen, ist spätestens 1998 vorbei; nun erscheint das Netz eher als ein Katalysator, der kurzzeitig die gängigen Hierarchisierungsmethoden des Kunstbetriebs erschüttert und einigen Künstlern, die früh die künstlerischen Möglichkeiten des Internets erkannten, schnelle Anerkennung gebracht hat. | |
2.1 Netzwerke und Netz-Werke | |
"The Network is the Computer"
Werbeslogan der Computerfirma Sun Microsystems
"The Users are the Network" Motto der Netzkunst-Site "The Thing" Wenn im vorangegangenen Kapitel davon die Rede war, daß das Internet für einige Jahre eine verhältnismäßig offene Zone für die Kunstproduktion gewesen ist, soll damit keineswegs gesagt sein, daß in der Netzkunst inzwischen alles wieder zum "business as usual" zurückgekehrt ist. Zwar beginnen inzwischen, einige der sattsam bekannten Mechanismen des Kunstbetriebs zu greifen. Auch kristallisieren sich inzwischen die ersten Stars der Szene heraus, während andere Netzkunst-Pioniere in der Versenkung verschwinden, was den quasi "basis-demokratischen" Anspruch der allerfrühsten Netzkunst-Periode in einem anderen Licht erscheinen läßt. Und auch der strikt anti-kommerzielle Charakter der Netzkunst wird inzwischen zumindest kritisch hinterfragt: War vor kurzem noch eine der aufregendsten Eigenschaften der Netzkunst, daß sie sich jeder Besitzer eines Computers und eines Modems "nach Hause holen" und sogar auf dem eigenen Rechner abspeichern konnte, beginnen sich inzwischen einige der Netzkünstler nach einem ökonomischen Modell umzusehen, daß ihnen jenseits der "Geschenkökonomie" des Internets Einnahmen aus ihrer Kunst erlaubt. Die russische Netzkünstlerin Olia Lialina versucht zum Beispiel gerade, in einer Art virtueller "Produzentengallerie", frühe Netzkunst-Arbeiten zu verkaufen. 24 Trotzdem: Auch wenn sich inzwischen einige der utopisch-radikalen Vorstellungen, die sich zunächst an die Netzkunst geknüpft hatten, zu relativieren scheinen, gibt es bei der Kunst im Internet noch immer einige signifikaten Unterschiede zu traditionellerer Kunst. Dazu gehört neben der vollkommenen Immaterialität der Netzkunst, die sie für Gallerien, Sammlungen und Museen so schwierig zu handhaben macht, vor allem die implizite Absage an ein werk- und produktorientiertes Kunstverständnis, die vielen Netzkunstarbeiten gemeinsam ist. Um diesen Unterschied zu anderen Kunstpraktiken schärfer zu fassen, will ich im folgenden zwischen "Netz-Werken" und "Netzwerken" unterscheiden. Mit "Netz-Werken" meine ich Kunstwerke, die vor allem im WorldWideWeb realisiert wurden, und als eigene, abgeschlossene Internet-Site konzipiert wurden. "Netzwerke" sind dagegen die sozialen Zusammenschlüsse und Kollaborationen, die zum Beispiel auf Mailinglisten oder in anderen "virtual communities" stattfinden. Zu den "Netz-Werken" nach meiner Definition gehören zum Beispiel die Homepage des Künstlerduos Jodi 25, "intima 0.html" von Igor Stromajer 26 oder die elaborierte Site des amerikanischen Anonymus Superbad 27. Obwohl einige dieser Künstler Pseudonyme verwenden (und auch auf ihren Sites oft keine Hinweise auf die Identität ihrer Schöpfer zu finden sind), sind ihre Arbeiten die identifizierbaren Werke von individuellen Künstlern, die sich weniger für die kommunikativen Aspekte des Internets interessieren, sondern den User mit einem in sich geschlossenen Oeuvre konfrontieren. Alle diese Arbeiten sind netz-spezifisch, das heißt, sie könnten in keinem anderen Medium existieren, weil sie - zum Beispiel - mit den technischen Dispositiven der Browser-Software und den Übertragungsgeschwindigkeiten des Internets arbeiten. Aber sie laden nicht zum Austausch ein, und ihre Interaktivität beschränkt sich darauf, daß sich der Benutzer per Mausklick auf verschiedene Weise durch diese Sites manövrieren kann. Im Gegensatz dazu sind andere Projekte stärker auf die Teilnahme vieler ausgerichtet. Netz-Communities wie die "Internationale Stadt" 28 aus Berlin (1994 - 1998) oder die "Digitale Staad" 29 aus Amsterdam (seit 1993) waren das Produkt der Zusammenarbeit eines Künstlerkollektivs. Sie waren auch von vornherein als "Kontext-Systeme" gedacht, bei denen die Künstler nur eine Infrastruktur zur Verfügung stellten, in der möglichst viele User miteinander kommunizieren und interagieren sollen und so als "Netzwerke" funktionierten. Diese Projekte sind darum auch mit Joseph Beuys Konzept der "sozialen Plastik" verglichen worden. Ob sie ihren basis-demokratischen Anspruch verwirklichen konnten, sei einmal dahin gestellt - auf jeden Fall waren sie von ihren Schöpfern als Konsequenz eines "erweiterten Kunstbegriffs" im Internet gedacht, zu dem auch die Herstellung von Situationen gehört, die zur sozialen Interaktion einladen - in diesem Fall nicht im physischen Raum, sondern im virtuellen Raum des Internets. Das Knüpfen von "Netzwerken" liegt in der Natur des Mediums und ist für das Internet als Kunstmedium außerordentlich wichtig geworden. Um Mailinglisten und andere "virtual community centers" haben sich - meist informellen, manchmal aber auch recht exklusiven - internationale Gruppierungen gebildet. Auch wenn sie nicht unbedingt als Kunstwerke zu verstehen sind, sind sie ein entscheidender Faktor für die überraschend schnelle Entwicklung einer gut verbundenen Netzkunst-Szene in Europa und den USA. Relevante Institutionen für die internationale Netzkunst-Szene sind verschiedene Mailinglisten wie "nettime" 30, "Syndikat" 31, "Faces" 32, "Rhizome" 33, "7-11" 34 oder "american express"35. Sie sind nicht unbedingt als künstlerische Kooperationen gedacht, aber auf jeden Fall wichtige Instrumente der Vernetzung: "nettime... (ist) keine versteckte Form von Konzeptkunst", schreiben zum Beispiel Geert Lovink und Pit Schultz, die Initiatoren dieser Liste, "weil sie den Kunstbetrieb zwar schneidet oder ihn anzapft, aber durchaus auch funktioniert, ohne Kunst genannt zu werden." 36 Auch wenn für andere Mailinglisten ähnliches gilt, sind sie auf jeden Fall ein wichtiges Instrument des Austauschs und der Kollaboration unter Netzkünstlern und -aktivisten. Sie dienen nicht nur zum Informationsaustausch oder zur Vorbereitung von Treffen im "RL" (im Real Life, also im wirklichen Leben), sondern haben auch zum Entstehen von kollektiven Künstlerprojekten geführt. Auch diese Mailinglisten nenne ich "Netzwerke". Dabei nehme ich bewußt in Kauf, daß der Begriff sowohl für dezidierte Kunstprojekte als auch für ein "nicht-künstlerisches" Element der Netzkunst-Infrastruktur benutzt wird, weil bei vielen Aktivitäten im Internet die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst kaum zu bestimmen sind oder eine Sache nachträglicher Definition sind. Zwei Beispiele für die Netzkunst-Aktivitäten im Grenzbereich von Kunst und Nicht-Kunst:
| |
2.2 Telefonkonzerte, Fax-Perfomances, Satellitenskulpturen: Netzkunst in der Kunstgeschichte | |
Die "net.art" ist keineswegs aus dem Nichts entstanden. Sie ist vielmehr
die Fortsetzung einer Reihe von künstlerischen Praktiken, die schon
seit Jahrzehnten existieren, aber bis jetzt keinen Eingang in den Kanon der
Kunstgeschichte gefunden haben. Nicht nur Nam June Paik hat in seiner
Arbeit die "Datenautobahn" vorweggenommen. Schon seit mehr als zwanzig
Jahren experimentieren Künstler mit Telekommunikationsmedien. Und
rückblickend erscheint die Auseinandersetzung - aber auch die
praktische Arbeit mit den elektronischen Telemedien - als ein wichtiges Motiv der
Kunst der Moderne, das sich bis zur künstlerischen Avantgarde der
10er und 20er Jahre (Futurismus, Suprematismus, Dada) zurückverfolgen
läßt.
40
Daß die "Telekommunikationskunst" der kunstgeschichtlichen Historisierung entgangen ist, liegt zum Teil an der ihr eigenen prozessualen Natur. Die Aktionen und Projekte, die Künstler mit Telemedien durchgeführt haben, haben nach ihrer Beendigung oft keine archivierbaren Spuren hinterlassen. Die Telefonkonzerte, die Faxperformances, die Satellitenkonferenzen, die es in den 70er und 80er Jahren gegeben hat, waren meist nicht zur Aufzeichnung geeignet und konnten auch nicht zu auratischen, Museums-reifen Unikaten verarbeitet werden. Aus heutiger Sicht scheinen viele der künstlerischen Experimente, die seit Ende der sechziger Jahre mit Telefon, Fax, Fernschreiber, Satelliten, Video oder Fernsehen durchgeführt wurden, auch ein "desire to be wired" auszudrücken. Die Möglichkeit zu globaler Kommunikation und Interaktion für viele ist erst jetzt durch das Internet in greifbare Nähe gerückt. Viele der Kunstaktionen mit Telekommunikationsmedien scheinen aber bereits die technisch-kommunikativen Möglichkeiten des Internets vorweggenommen zu haben, bevor diese für eine breite Schicht von Nutzern zugänglich waren. Interessanterweise liefen zur selben Zeit, als Künstler sich verstärkt für die Möglichkeiten globaler Telekommunikation zu interessieren begannen (nämlich Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre), in den USA die ersten Arbeiten an einem Computernetzwerk an, aus dem sich später das Internet entwickeln sollte - aus heutiger Perspektive eine bemerkenswerte Koinzidenz. Viele der Telekommunikationsexperimente realisierten auf hohem technischen Niveau und mit teuren Geräten Kommunikations- und Kollaborationssituationen, die heute oft schon mit handelsüblichen Endverbraucher-Geräten herzustellen wären. Projekte wie Mobile Images "A Hole in Space" (1979), die Aktion "Die Welt in 24 Stunden" bei der ars electronica 1979, die Künstler auf der ganzen Welt per Konferenzschaltung, Email, Fernschreiber und Telefon miteinander verband, Nam June Paiks "Good Morning, Mr. Orwell" (1984) oder Van Gogh TVs documenta-Projekt "Piazza Virtuale" (1992) 41. Aber nicht nur im Bereich der sogenannten "Medienkunst" hat die "net.art" der Gegenwart wichtige Vorläufer gehabt. Auch Mail Art, Perfomance, Fluxus, Aktionskunst, Konzeptkunst oder Kontextkunst haben gewisse Aspekte der Netzkunst der Gegenwart vorweggenommen. Es ist auffallend, daß viele der älteren Künstler, die Arbeiten im Internet realisiert haben, ihre Karriere aber nicht mit Internet-Arbeiten begonnen hatten, oft aus der Video- oder der Konzeptkunst kommen: Die beiden Videokünstler Antoni Muntadas (mit seinem "File Room" 42) und Douglas Davis (mit "The World's First Collaborative Sentence" 43) gehören sogar zu den absoluten Pionieren künstlerischer Projekte im Internet. Auch Konzeptkünstler wie Jochen Gerz ("The Berkley Oracle" 44), Jenny Holzer ("Please change believes" 45) oder Lawrence Weiner("Homeport" 46) haben sich bereits früh mit Kunstprojekten ins Internet begeben, die über die Online-Reproduktion eigener Arbeiten hinausgingen und mit den Eigenschaften des Internets arbeiten. Das sind einige biographische Belege dafür, daß Netzkunst in einem weitgespannten, kunstgeschichtlichen Zusammenhang steht. Es ist daher schon argumentiert worden, daß die Kunst im Internet einige Themen der Moderne fort- oder sogar "zuendeführt". 47 Dem ist entgegenzuhalten, daß es für so eine Einordnung wohl noch etwas früh ist. Deswegen habe ich mich in diesem Aufsatz für ein "kleinteiligeres" Vorgehen entschieden. Statt eine kunsthistorische "große Linie" aufzuzeigen, will ich im folgenden einige Themen der Netzkunst genauer betrachten, von denen ich glaube, daß sie die Architektur des Internets und die besonderen Kommunikationsformen, die diese technische Struktur hervorgebracht hat, reflektieren. Die drei Themenfelder, die ich im folgenden beleuchten will, sind das Verhältnis von realem Territorium und "Cyberspace", die Darstellung von Körper und Identität in der Online-Kommunikation und die Projekte, die sich als Modelle für "virtuelle Gemeinschaften" verstehen. Diese drei Topoi sind für mich entscheidende Themen der Netzkunst, wenn auch nicht die einzigen. Doch die Analyse von weiteren "klassischen" Themen der Kunst im Internet hätte den Rahmen dieses Discussionpapers gesprengt und muß zukünftigen Arbeiten zu diesem Thema vorbehalten bleiben. | |
3 Reisen und Surfen: De- und Reterritorialisierung in Netzkunstarbeiten | |
Bei dem österreichischen Medienkunstfestival ars electronica konnten
die Besucher 1995 in einem sehr realen Sinne "ins Internet gehen": Die Arbeit
"Crossings"
48
von Stacey Spiegel war die Virtual Reality-Simulation einer
Berglandschaft von 15 Kilometern Länge.
49
Die User dieser Installation standen in einem dunklen Raum, an dessen
Wänden die synthetische Berglandschaft projiziert wurde. Durch
diese konnte sich der User per Mausklick manövrieren. Doch Spiegel
ging es nicht um den virtuellen Raum als solchen. Das virtuelle Environment
diente als ein Interface zum Internet, war im Grunde ein sehr aufwendiger
Browser für Webpages. Innerhalb der künstlichen Berglandschaft
waren WWW-Seiten eingefügt:
"Genau wie der Spiegel, durch den Alice ging, hat jede Form, der man in der Landschaft begegnet, die Möglichkeit, den Teilnehmer zu einer anderen Realität zu führen. Mit dieser hypermedialen Verbindung kann der Beobachter Ton-, Bild- und Textdaten, aber auch gespeicherte Animationen und Videos im Äther des WWW abrufen. Dadurch kann man über "Crossings" durch mehrere Informationsebenen und durch den Cyberspace steuern." 50Eine der beliebtesten Metaphern, mit denen das Manövrieren im Nicht-Raum Internet beschrieben wird, ist das "Surfen". Der Begriff selbst ist eigentlich irreführend: Wenn man zum Beispiel das WorldWideWeb benutzt, bewegt man sich ja nicht über die Oberfläche des Netzes wie ein Surfer über die Wellen - man bewegt sich tatsächlich überhaupt nicht, sondern sitzt wie angewachsen vor einem Computer und ruft Daten aus verschiedenen Quellen und von verschiedenen Servern ab. Auch andere Begriffe aus der Internet- Terminologie lehnen sich - meist etwas hilflos - an Konzepte aus dem wirklichen Raum an: man benutzt einen Browser (to browse: grasen, weiden, im übertragenen Sinne auch: stöbern (z.b. in einem Bücherregal)). Die Email wird in eine "Datei" (file) "abgelegt", die "Mailbox" heißt, obwohl tatsächlich nur digitale Daten von einem Verzeichnis in ein anderes verschoben werden. Die eigene Repräsentanz im WorldWideWeb wird Homepage genannt (also wörtlich "Zuhause-Seite") obwohl sie weder ein Zuhause bietet, noch eine Seite ist, sondern eine dynamische Menge von Daten, durch die sich der User auch nicht linear (wie in einem Buch, das ja aus "pages"/Seiten besteht) bewegen muß. Mit seiner Installation "Crossings" hat Spiegel den metaphorischen Unsinn, mit dem die kaum vermittelbaren Vorgänge, die in einem Computer stattfinden, beschrieben werden, auf die Spitze getrieben: er macht das, was in Wirklichkeit lediglich der Austausch von digitalisierten Daten ist, als simulierte "Reise durch den Datenraum" noch "physischer" und noch "realer". 51 Ich habe in diesem Text die Kunst ein "Materialprüfungsamt des Internets" genannt, das existierende Netzkonventionen hinterfragt. Spiegel führt dagegen genau diese Konventionen und ihre metaphorischen Beschreibungen zu ihrem logischen Ende. Sein Projekt "intendiert..., einen Beitrag zur Erfahrung des Informationsraums zu liefern" 52, er macht quasi physisch "erfahrbar", was in Wirklichkeit nichts anderes als der Strom von digitalisierten Daten von einem Servercomputer zu einem Personal Computer ist. Die Metaphern, mit denen die immateriellen Kommunikationsakte im Internet beschrieben werden, sind gar nicht prinzipiell abzulehnen: Wahrscheinlich entspricht es einem elementaren menschlichen Bedürfnis, komplexe, technische Vorgänge in leichter vorstellbaren Bildern zu formulieren. Es ist allerdings auffallend, daß diese Art der metaphorischen Beschreibungen und Überhöhungen parallel zu der Vermarktung des Internets als Konsummedium zugenommen haben. Der Künstler Micz Flor hat in diesem Zusammenhang auf die Ikonographie hingewiesen, mit der die Vermarktung kommerzieller Browser- Software betrieben wird. 53 Die beiden großen, konkurrierenden Browser der amerikanischen Software-Unternehmen Netscape und Microsoft benutzen als Markenlogos Symbole, die mit dem physischen Raum und seiner Erschließung zu tun haben: beim Netscape Navigator (man beachte den nautischen Namen!) suggeriert ein rotierender Erdball dem Surfer quasi weltumspannende Allmacht, der Microsoft Explorer (ebenfalls ein Begriff, der das Eindringen in neue, unbekannte Räume suggeriert) knüpft mit einem Steuerrad an die Symbolik der Seefahrt und des Kolonialismus an. Auch einer der bekanntesten Werbeslogans der Software-Branche impliziert, daß man tatsächlich irgendwo "unterwegs" ist, wenn man online ist: "Where do you want to go to today?" lautete der "Claim" der aktuellen Werbekampagne von Microsoft - "Nirgends, ich arbeite mit Informationen." 54 Wo also ist man, wenn man "im Netz" ist. "There is no ´there´ there", hat der amerikanische Netz-Guru John Perry Barlow über den "Cyberspace" geschrieben. Da, wo es kein "da" gibt, haben Künstler (besonders in der Frühzeit des künstlerischen Experimentierens mit dem Internet) eine Reihe von Projekten realisiert, die versuchen, die nicht-materielle Welt des Internets mit der materiellen Welt des RL (Real Life) zu verbinden. Dazu gehört zum Beispiel der "Telegarden" 55 , den der amerikanische Künstler Ken Goldberg 1995 zum erstenmal bei der HighTech-Messe Siggraph in Los Angeles gezeigt hat. Per Internet konnten Netzeinwohner aus der ganzen Welt in einem kleinen, kreisrunden Beet Blumen pflanzen und online hochpäppeln. Goldberg ließ die ganze "telerobotische Installation" von einer sozialwissenschaftlichen Studie 56 begleiten, die die Tele-Gärtner nach ihren Motiven und ihren Eindrücken befragte. Bei diesem Projekt war also die Entwicklung einer virtuellen Community fast genauso wichtig wie die eigentliche Installation. 57 Auch Richard Kriesches "Telematic Sculpture 4" 58 arbeitet an der Verbindung von Cyberspace und wirklicher Welt. Für die Venedig-Biennale, bei der der Künstler Österreich vertrat, hatte Kriesche eine Arbeit realisiert, die sehr real und sehr gewalttätig den physischen mit dem virtuellen Raum zusammenbrachte: Im österreichischen Pavillion in Venedig stand auf Eisenbahnschienen eine Art Rammbock, der sich langsam auf eine Wand des denkmalgeschützten Gebäudes zubewegte. Die Fahrt, die im Laufe der Ausstellung zu einer Kollision zwischen Rammbock und Wand geführt hätte, konnte nur durch das Internet und seine User aufgehalten werden. Jedesmal, wenn sich jemand in einen mit der Skulptur verbundenen Server einloggte, wurde die Fahrt kurz unterbrochen. Das Gästebuch 59 ist ein eindrucksvolles Dokument des Versuchs einer internationalen Community, "zur Errettung dieses herrlichen denkmal- geschützten Pavillons" beizutragen, wie ein österreichischer Kunstfreund in einer Email an Kriesche schrieb. Genützt hat es übrigens nichts: Die "Telematic Sculpture 4" bohrte sich zuletzt durch die Wand des österreichischen Pavillions. Aber heute sind die gesammelten Kommentare im "guest book" auch eine Art Kunstkritik-in-progress, an der sich für die Zeit der Biennale jeder beteiligen konnte. Die Kommentare reichen vom tumben "I think the coffee pot on display @ http://www.cl.cam.ac.uk/coffee/coffee.html is far more interesting..." bis zu Statements wie "I like the contrast of physical space to a computer network where there is essentially none", die fast wie Kunstkritik klingen. Eine Reihe von Usern wollten das Gebäude auch zusammenbrechen sehen: "May the walls come down! Continue to explore new horizons! Integrate your desires! Create interactive art!!!" Andere verbanden das Kunstprojekt mit der politischen Gegenwart: "Kann man die Atombombentests auf dem Mururoa-Atoll auch durch Internet Mails stoppen?" Auch wenn sich hier keine virtuelle Gemeinschaft im engeren Sinne bildete: Nur selten müssen Künstler so direkte Kritik an ihrem Werk von Leuten ertragen, die nicht zum "inner circle" der Kunstszene gehören: "I've never seen such a pretentious bunch of "artspeak" before", schrieb ein Internet-User Kriesche ins virtuelle Stammbuch. "Couldn't you think up any more nouns to verbize?... So who put up the money for this piece of crap, anyway? At least you're not going to have it kill a baby animal or something!" Das sind nur zwei Beispiele von "telerobotischen" oder "telematischen" Arbeiten, einem Genre, das in der Netzkunst inzwischen eine gewisse Tradition hat. Schon 1986 hat der kanadische Künstler Norman T. White 60 mit seinem Kollegen Doug Back ein telematisches Armdrücken durchgeführt; später haben auch Künstler wie Eduardo Kac (mit "Rara Avis" 61), Stelarc ("Fractal Flesh" 62) oder Markus Brandt ("Kybermax und Moritz") Installationen eingerichtet, bei denen "Remote-users" ein Objekt (oder im Fall von Stelarc sogar den Künstler selbst) online manipulieren und bewegen konnten. Während diese Arbeiten mit einem vergleichsweise hohen technischen Aufwand realisiert werden mußten, entstanden in der Frühzeit des WWW auch eine Reihe von Netzarbeiten, die man als "virtuelle Reisetagebücher" bezeichnen könnte und die im Vergleich zu den telematischen Arbeiten auf einer "low-tech"-Ebene operierten. Auch sie handeln von der Verbindung von wirklichem Raum und Cyberspace. Dazu gehörte zum Beispiel "Exodus" 63 von Michael Bielecky, der 1995 während der ars electronica auf der Route, die Moses auf der Flucht aus Ägypten nahm, durch Israel reiste und diese Tour als eine Art weltweite Performance online dokumentierte; oder eine Reihe von Projekten, die eine Gruppe von Künstlern um Philip Pockock und Felix Huber durchführten: "Arctic Circle" 64 dokumentierte eine Reise durch den Norden Kanadas, "Tropic of cancer" durch Mexiko 65. Ein bekanntes Beispiel der Internet-Reisetagebücher ist auch der "Siberian Deal" 66 von der Österreicherin Eva Wohlgemuth und der Amerikanerin Kathy Rae Huffman, die im September 1995 nach Rußland flogen, um eine Reise durch Sibirien multimedial zu dokumentieren. Die beiden Künstlerinnen veröffentlichten während ihrer Reise online ein multimediales Reisetagebuch, dessen Entstehen Internet-User in der ganzen Welt sozusagen "in Echtzeit" mitverfolgen konnten. Von mehreren Stationen ihrer Reise verschickten sie Bild- und Textdaten an einen Internetprovider nach Wien, der sie dort ins Netz spielte. Sibirien war einerseits als Reiseziel ausgewählt worden, weil das englische "Siberia" eine gewisse Nähe zu dem Internet-Modewort "Cyber" aufwies, aber vor allem, weil Sibirien - wie das Netz - für die beiden Reisenden ein ebenso unwirtliches, leeres Territorium war wie Sibirien, das Land der Arbeitslager und des ewigen Schnees. "Um mit den Menschen dort in Kontakt zu treten, haben ich mir überlegt, Dinge mit ihnen auszutauschen", erzählt Eva Wohlgemuth über die Reise und über den Titel der Aktion. "Wir wollten nicht bloß Künstler und Leute aus diesem Umfeld kennenlernen, sondern mit einer breiteren Schicht zusammenkommen. Und beim Reisen war es schon immer üblich, daß man über den Austausch von Gastgeschenken in Kontakt kommt." 67 Die Fahrt nach Sibirien kann aber auch als ein Versuch betrachtet werden, den "raumlosen Raum" des Internets zu reterritorialisieren: Wohlgemuth und Huffman reisten in der wirklichen Welt statt im Internet zu surfen, und reflektierten den physischen Raum eines ihnen unbekannten Landes im immateriellen "Cyberspace" des Netzes; sie wurden von "Geistreisenden" zu "Tatreisenden". Und die Reise konfrontierte die beiden Künstlerinnen wahrhaftig mit harschen materiellen Tatsachen statt mit virtual reality: Die Telefonleitungen waren schlecht und so überlastet, daß die beiden oft erst morgens um vier eine Verbindung bekamen, um ihre Daten nach Österreich zu senden. Um diese Daten zu sammeln, mußten sie außerdem schweres Equipment wie Labtops, Digitalkamera, Camcorder und Walkman durch Sibirien schleppen. Für Wohlgemuth hat es dabei auch eine Rolle gespielt, das es zwei Frauen waren, die da mit Geschenken und Hardware beladen durch Sibirien reisten: "Es war bestimmt ein großer Unterschied, weil man von uns keinen kolonialistischen Gestus erwartet hat, wir waren an der Situation und den Menschen interessiert, und das haben die Leute auch gespürt." 68 Philip Pocock und Felix Huber haben das Prinzip des Reisetagebuchs bei einem Projekt bei der documenta X noch weitergetrieben. Während der Ausstellung reisten die beiden sowie zwei andere Künstler im Rahmen von "A description of the Equator and Some OtherLands" 69 im Sommer 1997 auf einige Etappen entlang des Äquators um den Globus und damit quer zu gewachsenen nationalen und kulturellen Grenzen - so wie auch das Internet diese traditionellen Grenzen überschreitet und durchlässig macht. Aber "Equator" war keine simple Dokumentation dieser Reise: "Jeder kann als Autor selbst erlebte oder erfundene Szenen hochladen, auf die Erzählstränge der anderen reagieren und online eine Welt aus lesbaren Körpern schaffen... (Das Projekt) ist an sich ebenfalls eine Reise-als-Kunst-Programmschleife, obwohl das Reisen diesmal weniger auf das Reiseziel als auf den interpersonalen Austausch orientiert ist." 70Interessant ist an "Equator" vor allem, daß hier die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion durchlässig wurden: zwischen Bildern und Texten von der realen Reise tauchten zum Beispiel Clips aus Fernsehberichten von der CNN-Homepage auf der Site auf; und für den User war es zum Teil praktisch ununterscheidbar, was wirkliche Dokumentation und was Material von anderen Sites oder frei erfundene Geschichten waren, und woher diese Daten kamen. Schließlich besteht im Internet alles nur aus digitalen Bits und Bytes, deren "Wahrheitsgehalt" praktisch nicht zu überprüfen ist - die Ununterscheidbarkeit von Schein und Sein im Netz ist ein Dauerthema der Netzkunst. Mit "Equator" war das traditionelle Medium des Reisetagebuchs und des Skizzenbuchs des reisenden Malers im ambivalent-hybriden Enviroment des Internets angekommen. Im Gegensatz zu dem "Siberian deal" von Huffman und Wohlgemuth, der ein reines "Netz-Werk" war, also eine Website mit der Dokumentation der Reise, haben die Internet-Reisetagebücher von Pocock et al auch immer ein "Netzwerk" geknüpft: neben der Website, die während der Reise entstand, gab, es auch eine Mailingliste, auf der Korrespondenten auf der ganzen Welt den Fortschritt des Projekts kommentierten. Auch der Engländer Heath Bunting arbeitet an der Verbindung vom "virtuellen Raum" des Internets mit dem wirklichen, physischen Raum, durch den er ununterbrochen reist. Der Brite, der angeblich seit September 1996 keine eigene Wohnung mehr hat, sondern permanent "on the road" ist, arbeitet bereits seit Anfang der 90er Jahre mit Computernetzwerken. 1994 veröffentlichte er in der Mailbox "Cybercafe" die Nummern aller Telefonzellen am Londoner "Kings Cross", und bat die anderen User, diese an einem Sommernachmittag anzurufen. Gegen sechs Uhr hatte sich an diesem Augusttag laut Bunting der ganze Platz mit einer "riesigen Techno-Crowd gefüllt, die zu dem Sound von klingelnden Telefonen tanzte". 71 Auch spätere Projekte verbinden den physischen mit dem virtuellen Raum: "A Visitors Guide to London" 72 ist zum Beispiel eine Reise durch unspektakuläre Gegenden in London, in die ein "Visitor", also ein Tourist, nie kommen würde. Bunting hat auch als Graffiti-Künstler mit Kreide in London auf Häuserwände gemalt, und hinterläßt noch heute gerne diese Graffiti an Orten, die besucht hat: http://www.irational.org/x. Wer diese URL in seinen Browser eingibt, kommt zu einem Formular, in welches er eintragen soll, wo er diese Graffiti gesehen hat. Die Antworten in diesem "Netzwerk" geben ein beeindruckendes Abbild von der Reisetätigkeit Buntings: die Graffiti ist unter anderem in London, Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Ungarn, Slowenien oder auf einer Fähre nach Helsinki gesichtet worden. Auch die Antworten auf die Fragen "Wer hat das Deiner Ansicht nach gemalt? Und warum?" sind bemerkenswert: Ein Augenzeuge vermutet, daß die Graffiti entstand, um auf die Obdachlosen-Zeitung "Big Issue" hinzuweisen, ein anderer tippt auf einen "Psychopathen, der andere vor etwas warnen will"; wieder ein anderer hielt es für Werbung für eine Porno-Site. Die Sammlung aller Antworten ist nicht nur eine Art Reisebeschreibung, die nach dem Zufallsprinzip entstanden ist, sondern auch eine Art Internet-Selbstportrait: statt einer "wahrheitsgemäßen" Beschreibung Buntings sind die gesammelten Antworten eine Kollektion von Spekulationen über seine Person, die die seltsame URL ausgelöst hat. So wurde als Urheber der Graffiti unter anderem vermutet: ein "Anarchist aus einer anderen Dimension", "ein Irrer", eine Marketing-Agentur, "wahrscheinlich nicht Bill Gates", "der Mann, den ich liebe", "irgendein Arschloch, das nichts besseres zu tun hat" oder auch "Heath Bunting" - die Identität des Graffiti-Malers ist offen für Zuschreibungen; die Beschreibungen sagen genauso viel über die Person des Künstlers wie über die Projektionen auf eine anonyme Netzpersönlichkeit. Alle diese Arbeiten versuchen, den "raumlosen Raum" des Internets wieder in Verbindung mit der "wirklichen Welt" zu setzten. Die Russin Olia Lialina geht mit "Agatha appears" 73 den umgekehrten Weg: Schon der Titel verspricht das "Erscheinen" einer "Person", aber weder ist Agatha eine wirkliche Person, noch "erscheint" sie jemals an einem anderen "Ort" als dem Internet. Lialina schickt Agathas "Datenkörper" auf eine Reise, aber nicht durch die wirkliche Welt, sondern durch das Internet: eine nahezu unbewegte Figurine bewegt sich von einem Server zum nächsten. Wer nur auf das Bild im Browser sieht, bemerkt fast keine Veränderung; nur wer darauf achtet, von wo die Daten kommen, stellt fest, daß "Agatha" rund um den Erdball von einem Internetserver zum nächsten springt. Eine ähnliche Zielrichtung hat auch "Without adresses" 74 von Karl-Heinz Jeron und Joachim Blank. Bei der Arbeit, die 1997 bei der documenta X gezeigt wurde, muß der User zunächst seinen Namen eingeben, dann lokalisiert ihn ein Programm als Pünktchen auf einer Karte von Tokyo, einer Stadt, in der es bekanntlich keine Adressen gibt. Gleichzeitig wird der Name in eine verborgen laufende Suchmaschine eingegeben, die eine Homepage aus dem Internet fischt und verfremdet anzeigt. So hinterläßt der Besucher eine "Spur" auf der zweidimensionalen Oberfläche der Webpage. So wie eine Landkarte nicht das Territorium ist, das sie zeigt, so repräsentiert auch diese Spur keine reale Bewegung im Raum, sondern nur einen Austausch von Daten im virtuellen Raum des Internets. Es erscheint konsequent, daß Blank und Jeron bei einer neuen Arbeit nun den umgekehrten Weg gehen wollen. Jetzt kann man bei ihnen eine in Marmor gemeißelte Kopie der eigenen Homepage bestellen: aus den immateriellen Netzdaten soll bei "Dump your trash" wieder physische Realität werden. 75 Ein besonders amüsanter Beitrag zum unsicheren, undefinierten "Territorium" des Internets ist eine Arbeit des Studentenduos Cadela2 von der Gesamthochschule Kassel. Sie haben ihre Homepage zum "offiziellen Zentrum des Internet" erklärt 76. 1961 hatte der italienische Künstler Pierro Manzoni einen auf dem Kopf stehenden Sockel ausgestellt, auf dem angeblich der gesamte Erdball ruhte. Das "Zentrum des Internets" erinnert an die anmaßende Künstlergeste von Manzonis Arbeit, ist aber auch ein sehr dedizierter Hinweis auf eine Eigenschaft des Internets, die Parlamenten und Regulatoren in den vergangenen Jahren viel Kopfzerbrechen bereitet hat: das Internet ist ein "distribuiertes" Computernetzwerk und hat kein Zentrum, bei dem zum Beispiel etwaige gesetzliche Regulierungen ansetzten könnten. Wenn es kein "Center" des Internets gibt, kann jeder seine Homepage, seinen Computer oder seinen Serverrechner dazu erklären - als eine künstlerische Setzung: Gib mir einen festen Punkt im Online-Universum, und ich hebe das ganze Internet aus den Angeln... | |
3.1 Rahmenbau Kontextsysteme und "virtual communities" | |
Als Mitte der 90er Jahre die Medienkunstwelt zum ersten Mal auf
Kunstprojekte im Internet aufmerksam wurde, stand vor allem ein Genre
im Mittelpunkt des Interesses: Arbeiten, die versuchten, im
WorldWideWeb eine neue Art von translokaler, vernetzter Gemeinschaft
zu gründen. Bei der ars electronica 1995 waren alle vier "virtual
communities", die zu dieser Zeit von sich reden machten, vertreten:
"De Digitale Stad" (DDS) aus Amsterdam, die "Internationale Stadt"
(I.S.) aus Berlin, "t0 Netbase" (sprich: T Null Netbase) aus Wien und
"The Thing" aus New York.
Vier Jahre später, kurz bevor die Arbeit an diesem Aufsatz
begann, hat
eins dieser vier Projekte kapituliert: Die "Internationale Stadt" hat
Anfang 1998 den Betrieb eingestellt und ihre Site "eingefroren".
77
Auch wenn die Idee der "virtual communities", die alle vier oben
genannten Projekte verfolgten, damit nicht für tot erklärt
werden
soll: das Ende der "Internationalen Stadt" ist Symptom einer
veränderten Internet-Landschaft, in der die hochfliegenden
Hoffnungen,
die sich zunächst an "virtuelle Gemeinschaften" knüpften,
abgekühlt
sind. In diesem Kapitel sollen einige Charakteristika und
prägende
Ideen der "virtual communites", an denen Künstler mitgearbeitet
haben,
nachgezeichnet werden. Die "Gretchenfrage", ob es sich bei diesen
Projekten um Kunstwerke handelt, soll dabei nicht beantwortet werden,
eher sollen sie als eine Form des "Rahmenbaus" (Rena Tangens) für
künstlerische und soziale Aktivitäten beschrieben werden.
Eine Form der "virtual communities", mit der auch Künstler experimentiert haben, wird in diesem Überblick keine Rolle spielen: die MUDs (Multi-User Dungeons) und MOOs (MUDs Object Oriented), die Text-Environments, die Anfang der 90er Jahre bei vielen Netz-Usern beliebte Spielplätze waren, durch den Siegeszug des WWW aber stark an Bedeutung verloren haben. 78 Dabei hat es um 1993 eine Reihe von Kunst-MOOs und -MUDs gegeben, die unter anderem von der X Art Foundation aus den USA, VNS Matrix aus Australien und Dellbrügge/De Mol aus Deutschland eingerichtet worden sind. Obwohl diese Projekte eine zeitlang stark frequentiert wurden, liegt es in der prozessualen Natur der Text-Kommunikation in diesen Environments, daß heute keine Relikte dieser "Internet-Happenings" mehr existieren. Die Interaktion in MOOs und MUDs fand in Echtzeit statt, die Kommunikation zwischen den Usern wurde nicht archiviert. 79 Einige dieser Kunst-MOOs sind zwar sogar noch online, werden aber kaum noch benutzt - wahrscheinlich weil nur noch wenige Internet-User wissen, wie man mit dem Datenübertragungsprotokoll Telnet arbeitet, das man für die MUDs und MOOs beherrschen muß. Da ich selbst keins dieser Systeme benutzt habe, solange sie noch aktiv und "belebt" waren, kann ich wenig über ihre Funktion sagen. Das einzige mir bekannte Kunstprojekt, bei dem diese Kommunikationssysteme im WorldWideWeb "weiterleben", ist eine Arbeit von von Lawrence Weiner. "Homeport" 80 führt freilich die kommunikative Funktion der MUDs bewußt ad absurdum: statt anderer Menschen reden hier Chat-Bots auf den User ein, die gebetsmühlenhaft Zitate des Künstlers wiederholen. Weil es über die "historischen" MUDs und MOOs aus den frühen 90er Jahren kaum Material gibt, werde ich mich im folgenden auf Mailboxen und WWW-Projekte konzentrieren, die wesentlich besser dokumentiert sind. 81 Mitte der 90er Jahre, als die "Internationale Stadt" und die übrigen, oben genannten Projekte im WorldWideWeb entstanden, waren "virtual communities" nicht nur im Kunstkontext ein aufregendes und viel diskutiertes Thema. Howard Rheingold hatte den Terminus in seinem gleichnamigen Buch über die Online-Community geprägt, die sich um die kalifornische Mailbox "The Well" (kurz für: Whole Earth 'Lectronic Link) gebildet hatte, und durch diese Veröffentlichung auch die Aufmerksamkeit der Medien auf das neue Netz-Phänomen gelenkt. Rheingolds Definition der "virtual communites", die die Computervernetzung hervorgebracht hatte, lautete: "Virtual communities are social aggregations that emerge from the Net where enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in cyberspace." 82Rheingold formuliert in seinem Buch die Hoffnung auf eine "elektronische Agora", die durch "Computer-mediated Communication" (CMC) entstehen sollte (Im antiken Athen hieß der Marktplatz, auf dem sich die Bürger der Stadt zur politischen Diskussionen trafen, "Agora".) Er erklärt das Phänomen der "virtual communities" mit einem "Hunger nach Gemeinschaft", der "bei den Menschen auf der ganzen Welt wächst, während gleichzeitig der informelle öffentliche Raum aus unserem täglichen Leben verschwindet." Vor dem Siegeszug des Internets waren Mailboxen das erste Online-Medium, um das sich frühe "virtual communities" bildeten. Mailboxen wie "The Well" verbreiteten sich ab Mitte der 80er Jahre als eine Grasswurzelbewegung in den USA, etwas später auch in Europa. Durch sie konnten zum ersten Mal Menschen außerhalb akademischer und militärischer Institutionen an Online-Kommunikation teilnehmen. Durch die Mailboxen wurde die tote Maschine Computer für viele zum ersten Mal zu einem Kommunikationsinstrument und zu einem Katalysator sozialer Prozesse. Die "virtuellen Gemeinschaften", die sich um einige Mailboxen (oder Bulletin Board Systems (BBS) wie sie in den USA genannt werden) bildeten, sind eine genuine, kulturelle Hervorbringung der Netzkultur. Durch sie wurde es möglich, Menschen an den verschiedensten Ort zu verbinden und ihnen einen körperlosen, schriftlichen Dialog miteinander zu erlauben. Zu den frühen Mailbox-Systemen gehörten in Amerika neben "The Well" die New Yorker "Echo"-Box, in Deutschland die Bielefelder "Bionic". Die erste Mailbox, die sich dezidiert als Plattform für künstlerischen Diskurs und "kollektive Kreativität" verstand, war "The Thing", die 1992 von dem deutschen Künstler Wolfgang Staehle in New York ins Leben gerufen wurde, und die bald auch Dependancen in Europa einrichtete: Dem ersten deutschen "Thing" in Köln folgten bald "Filialen" in Düsseldorf, Hamburg, Berlin, Frankfurt, Wien und Bern. Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Mailboxen war "The Thing" nie ein offenes System, sondern immer eher Forum für eine relativ geschlossene Gruppe aus der Kunstszene. Die ersten von Künstlern gegründeten "virtual communities", die als Plattform das Internet benutzten, hatten dagegen einen quasi basis-demokratischen Anspruch: die "Digitale Stad" (seit 1993 als Telnet-System, seit 1994 im WorldWideWeb) wie die "Internationale Stadt" und "t0 Netbase" (seit 1994 bzw. seit 1995 im WWW) wollten unter anderem möglichst vielen Menschen die Nutzung des Internets zu geringen Kosten möglich machen. In ihren Gründungsstatements klingt noch viel von der Begeisterung für virtuelle Gemeinschaften an, die auch in Rheingolds Buch zu spüren ist. Doch bevor ich auf die WWW-Projekte zu sprechen komme, möchte ich noch einmal zu den Mailbox-Projekten der Anfänge zurückkehren, weil in den Mailboxen die Idee der "virtual community" für eine bestimmte Zeit wohl auch überzeugender als bei den meisten Internetprojekten praktiziert worden ist. Denn die Mailboxen hatten schon aus technischen Gründen einen stärkeren lokalen Bezug und waren weniger ein globales Medium als heute das Internet. (Im Gegensatz zu dem heute fast weltweit zugänglichen Internet mußten Mailboxen noch über das Telefonnetz angewählt werden, was es z.B. teuer machte, als Deutscher an den Diskussionen auf "The Well" teilzunehmen.) Und wahrscheinlich hat gerade die stärkere Bindung an einen lokalen Kontext dazu beigetragen, daß sich aus einigen Mailboxen folgenreiche "virtual communites" entwickelt haben. Von Anfang an gehörten auch Künstler zu den Pionieren, die sich mit dem neu entdeckten Medium beschäftigten. Die "Bionic" 83, eine der wichtigsten deutschen Mailboxen, war seit ihrer Gründung 1989 nicht nur ein Forum für künstlerische Experimente, sondern sogar von einem Künstlerpaar gegründet worden: den Bielefeldern Rena Tangens und padeluun, die zuvor an Environments gearbeitet hatten, die sie "Rahmenbau" nannten. 84 Die Gründung einer Mailbox war für sie eine logische Fortsetzung einer Kunstpraxis, die "keine Produkte (schafft - T.B.), sie manifestiert sich im Prozess". 85 In einem Vortrag nannte Rena Tagens 1993 einige der netz-spezifischen Eigenschaften der Online-Kommunikation, die die Mailbox-User zu dieser Zeit fasziniert haben müssen und die auch die "virtual communities", die sich später im Internet bildeten, motiviert haben:
Die technisch-soziale Infrastruktur der Mailbox, die Tangens hier beschreibt, machte eine neue, netzspezifische Form der Kommunikation möglich. Die Mailbox-User bekamen nicht nur eine Email-Adresse, mit der sie elektronische Post erhalten konnten, sie konnten auch an - auf "Brettern" geordneten - Diskussionen teilnehmen: "Mailboxen sind das einzige Neue Medium, das nicht nur interaktiv ist, sondern auch die bisher unüberwindliche Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten aufhebt. Jede und jeder kann nicht nur lesen, sondern auch schreiben - kommentieren, anfragen und selbst veröffentlichen - ohne Zensur." 87 Die Eigenschaften der Mailboxen, den User zum Produzenten zu emanzipieren, wird in den Gründungstexten fast aller Online-Projekte aus dieser Zeit wieder und wieder hervorgehoben. Manchmal in Anlehnung an Brechts Radiotheorie, manchmal mit der Terminologie Hans- Magnus Enzensbergers ("vom Konsumenten zum Produzenten") argumentierend, öfter aber ohne Verweise auf historische Vorläufer führten sich fast alle "virtual communities", von denen in diesem Kapitel die Rede ist, als neuen sozialen Raum ein, in dem jeder User auch zum Teilnehmer an einem Diskurs werden konnte. "Der Mensch", heißt es zum Beispiel in einer Projektbeschreibung der I.S., "steht als aktiv Beteiligter und nicht als Verbraucher im Zentrum der Internationalen Stadt... Er findet durch das globale Internet eine bereits vorhandene Infrastruktur vor, die Kommunikation und Informationsaustausch auf internationaler Ebene ermöglicht. Es entsteht ein sich selbst organisierendes System, in dem Kommunikationsformen und Inhalte durch bidirektionale Interaktion zwischen den BetreiberInnen und NutzerInnen bestimmt werden. Im Unterschied zu anderen Medien werden neue Informationen durch sozialen Austausch entstehen." 88 Die Möglichkeit ungefilterter und globaler Many-to-Many-Kommunikation im Netz war die eine wichtige Motivation, eigene Netz-Strukturen in Form von Mailboxen (später: Internet-Servern) zu schaffen; der andere, mindestens genauso bedeutende Grund für die Schöpfer von Projekten wie der Internationalen Stadt, war es, eine eigene, nicht-kommerzielle Infrastruktur zur Verfügung zu haben, die möglichst vielen Menschen den Zugang zum Netz ermöglichen und Raum für eigene Netz-Aktivitäten schaffen sollte. Sowohl Mailboxen wie "The Thing" oder "Bionic" wie auch die Internet-Projekte "Digitale Staad Amsterdam" und "t0 Netbase" (und bis zu ihrem Ende auch die "Internationale Stadt") stellen ihren Usern nicht nur eine virtuelle Plattform zur Verfügung, sondern haben auch Internet-Providing, also einen direkten Einwahlpunkt für ihre Benutzer, angeboten; bei der "Digitalen Stad" und "t0 Netbase" gab und gibt es auch Workshops, in denen "Newbies" (Netz-Neulinge) an die Online-Kommunikation herangeführt werden. Denn selbst der schlichte Netzzugang war Anfang der 90er Jahre in Deutschland noch das teuere Privileg weniger Eingeweihten. In einem Interview beschreibt padeluun die Situation Ende der 80er, die zu der Grüdung der "Bionic" führte: "Um 1989 haben wir... gesehen, daß wir auch an den technischen Strukturen arbeiten müssen. Als wir bei der documenta VIII ausstellten, mußten wir den Datex P-Knoten in Berlin anrufen, weil es in Kassel keinen gab. Diese Kommunikationskosten waren einfach nicht tragbar. Wir haben zum Teil Telefonrechnungen von 3000 Mark gehabt. Wir haben gedacht: Hier wird etwas verborgen, hier wird den Leuten etwas vorenthalten. Eine Mailbox war eine billige Methode, mit der sich viele Leute in ein Datennetz begeben konnten." 89In der Mitte der 90er Jahre war es zunächst genauso schwierig, ins Internet zu kommen, wie einige Jahre zuvor, überhaupt Zugang zu einem Computernetzwerk zu bekommen; die Gründung von eigenen Online-Projekten war darum auch eine Methode, überhaupt "Access" zum Internet zu bekommen. Die "Computer-Alphabetisierung" durch diese "virtual communities" hatte eine entscheidende Bedeutung für die Kunstszene: bei The Thing haben einige Künstler, Kuratoren und Journalisten, die zum Teil bis heute in der Netzkunst-Szene eine Rolle spielen (wie Jordan Crandall, Joshua Decter, Julia Scher, Pit Schultz, Benjamin Weil oder Peter Fend) ihre ersten Erfahrungen mit Online-Kommunikation gemacht; auch bei "Bionic" haben von Anfang an Leute wie Heiko Idensen und Peter Glaser, die noch immer wichtige Figuren in der deutschen Netzszene sind, literarisch-künstlerische Experimente mit dem neuen Medium durchgeführt. Joachim Blank, ein Mitbegründer der Internationalen Stadt, hat dieses Projekt ein "Kontextsystem" genannt, bei dem die Künstler lediglich eine virtuelle Infrastruktur zu Verfügung stellen, in der ihre User sich einrichten und kommunizieren können: "Intention dieser Kontextsysteme ist die Entwicklung von Gemeinschaften. Reale wie auch virtuelle Gemeinschaften entwickeln sich nur durch Identifikation mit dem im Netz sichtbaren System und seiner Betreibergruppe, wohlwissend, daß dabei alle aktiven NutzerInnen zu einem wahrnehmbaren Bestandteil werden können." 90Darüber hinaus war die Internationale Stadt auch als "eigene Kunstinfrastruktur" in der Tradition von "Produzentengalerien", selbstverwalteten Ausstellungs- und Produktionsräumen und kollektiven Ateliers wichtig: "Vorbildfunktion (für die Internationale Stadt - T.B.) haben dabei weniger die Kunstinstitutionen als Kunstvermittler, sondern das Netz als freies Distributionsmedium." 91 Als die Internationale Stadt gegründet wurde, waren ihre "Gegenspieler" freilich weniger die Kunstinstitutionen, die zu dieser Zeit wenig Interesse an Netzkunst hatten, sondern eher die ersten kommerziellen Internetprovider, von denen man sich nicht abhängig machen wollte: "Sich bei einem kommerziellen Internetprovider einzunisten, hat einen hohen Preis: Kommerzielle Internetprovider benutzten Künstlerprojekte, um höhere "Einschaltquoten" zu bekommen und damit werben zu können. Zudem wird meist der Raum für technisch-kreative Experimente eingeschränkt... Um nicht auf Fremdmittel zurückgreifen zu müssen, entscheiden sich Künstler dafür, mit eigenen Produktionsmitteln zu arbeiten." 92 Dieses Argument ist inzwischen wenn auch nicht hinfällig, so doch weniger relevant. Im Gegensatz zu der Situation Mitte der 90er Jahre ist heute zum Beispiel auch für einen einzelnen User eine eigene Domain relativ erreichbar geworden: für 15 Dollar pro Monat kann man bei einigen amerikanische Web-Provider bereits einen eigene Domain bekommen, auch die technischen Beschränkungen haben nachgelassen. Zwar gibt es immer noch gute Gründe, den eigenen Internetzugang selbstorganisiert zu gestalten, aber der unmittelbare, finanzielle Druck, der vor einigen Jahren existierte, ist schwächer geworden. Doch bis heute sind die selbstorganisierten Netzprojekte ein wichtiges Stück Infrastruktur für die Netzszene geblieben: Auf dem Server der "Internationalen Stadt" findet sich zum Beispiel eine fast vollständige Sammlung aller wichtigen, frühen künstlerischen Experimente mit dem WorldWideWeb, die in Deutschland entstanden sind. Norman Ohlers Roman "Die Quotenmaschine" entstand bei der Internationalen Stadt in Zusammenarbeit mit seinen Lesern. Auch Mailinglisten wie "nettime" und "innercity" liefen über den Server der "I.S." Ähnliches gilt für die "t0 Netbase", und auch die "Digitalen Staad" hat von Anfang an Kunstprojekte durch Platz auf ihrem Server-Computer unterstützt. In diesem Sinne haben die "Kontextsysteme" funktioniert und tun es immer noch: als "gute Adresse" für Kunstprojekte, die in ihrer URL nicht gerne den Domainname eines kommerziellen Internetproviders oder Online-Dienstes stehen haben wollen. Von allen "virtual communities", von denen in diesem Kapitel die Rede ist, war die "Digitale Stad" das Projekt mit der ausgeprägtesten politischen Ausrichtung. Walter van der Cruijsen, einer der Begründer der DDS, beschrieb es in einem Interview so: "1994 wurde in Holland gewählt, und wir wollten virtuelle Wahlen abhalten, eine Art elektronische Demokratie. Darum haben wir von Anfang an auch Schulen, Bibliotheken oder Altersheime einbezogen. Ich denke, es war sehr wichtig, daß das nicht nur eine kleine Szene von Künstlern und Programmierern war, sondern ein großes soziales Projekt." 93 Um so viele Menschen wie möglich in diese "virtual community" einzubeziehen, wurden große Bürgerveranstaltungen organisiert, bei denen die "Digitale Stad" vorgestellt wurde. Sogar in die Altenheime und die Schulen gingen die DDS-Macher zum Teil persönlich, um neue User zu gewinnen und anzulernen. Die große Breitenwirkung in der Bevölkerung hat auch dazu geführt, daß die Digitale Stad heute kaum noch als Kunstprojekt betrachtet wird. Auch van der Cruijsen schränkte später selbst ein: "Ich glaube nicht, daß die "Digitale Stad" ein Kunstprojekt war, auch wenn am Anfang die meisten Teilnehmer Künstler waren..." Um das komplexe, vielschichtige System intuitiv manövrierbar zu gestalten, orientierte sich vor allem die "Digitale Stad" an der "Stadtmetapher". Der "content" auf dem DDS-Server ist in Anlehnung an die gewachsene Struktur der Stadt Amsterdam organisiert: Es gibt "pleins" (Plätze) und "digitale Wohnungen", Chatfunktionen werden als "Cafes" bezeichnet, für Leute, die die Stad verlassen haben, gibt es einen eigenen "Friedhof", und sogar die Polizei hat in der DDS ein eigenes Revier eröffnet. (Wie bei den Netzkunst-Projekten, die im vorigen Kapitel beschrieben worden sind, arbeitete also auch die DDS an einer Verbindung von physischem mit virtuellem Raum.) Ob die sozialen und basisdemokratischen Vorstellungen, die die "virtual communites" vor einigen Jahren mobilisiert haben, eingelöst worden sind, ist nicht leicht zu beantworten. Bei der Internationalen Stadt fällt die Einschätzung am Ende des Projekts eher desillusioniert aus: "Die I.S. hat nur solange funktioniert, wie wir unsere Energie hineingesteckt haben", resümierte ihr Geschäftsführer Max Bareis Ende 1997. "Als wir die Leute nicht mehr dazu aufgefordert haben, etwas zu machen, ist auch nichts mehr passiert." 94 Auch Joachim Blank erklärte in einem Interview: "Ich glaube, die Zeit (der "virtual communities" - T.B.) ist vorbei. Der lokale, ortsbezogene Ansatz der I.S. oder anderer digitaler Städte funktioniert nur sehr eingeschränkt, weil die meisten Nutzer daran kein Interesse haben. Im Internet Live-Bilder vom Mars zu gucken ist eben interessanter als an basisdemokratischen Lokaldiskussionen teilzunehmen... Nach wie vor halte ich die Oberfläche des WorldWideWeb für kommunikative Aspekte für ungeeignet." 95 Auch den Mailboxen scheint der Umzug von den Text-basierten BBS-Systemen ins graphisch orientierte WorldWideWeb nicht gut getan zu haben. Obwohl WWW-Environments eigentlich leichter (nämlich "per Mausklick") zu benutzten sind als die menügesteuerten Mailbox-Programme, hat die Diskussionskultur, die zum Beispiel "The Thing" als Mailbox geprägt hat, sich nicht ins WorldWideWeb übertragen lassen. 96 Nicht nur das "Klicken auf bunte Bildchen" im WWW ist von Netzveteranen als der Idee der Online-Kommunikation entgegengesetzt abgelehnt worden. Bei dem "Kontextsystem" Internationale Stadt wurde auch die Orientierung an der Stadtmetapher kritisiert, als das Projekt 1993 ans Netz ging. Doch bemerkenswerterweise hat es die "Digitale Staad" aus Amsterdam geschafft, eine wirkliche, funktionierende "virtual community" zu bilden, obwohl sie ebenfalls auf WWW-Basis funktionierte und nach dem Vorbild der realen Stadt Amsterdam gestaltet war. Zu ihr gehörten in den Jahren 1994 und 1995 neben einem lebhaften Austausch auf dem Server der DDS selbst auch Veranstaltungen in Amsterdam, die aus den Aktivitäten innerhalb des Computersystems hervorgingen. 1997 beurteilte DDS-Mitbegründer Walter van der Cruijsen die Entwicklung des Projekts in einem Interview rückblickend eher kritisch: "Ich glaube nicht, daß die "Digitale Staad" noch ein sozialer Raum ist...(Sie) wandelt sich... in ein Ausbildungszentrum um. Die Digitale Staad war ja das erste Beispiel für ein Internetprojekt in Holland, und diese Kenntnisse werden im Moment verkauft. Jetzt ist die Digitale Staad eine Umgebung mit vielleicht 100.000 Einwohnern, aber es existiert keine soziale Interaktion mehr. Früher gab es ganz viele Veranstaltungen, auch außerhalb des Internets, und das findet kaum noch statt." 97Auch die Frage, ob es sich bei den "virtual communities" um Kunstwerke gehandelt hat, ist kaum zu entscheiden. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit will ich darum den Künstlern lassen: Während Walter van der Cruijsen diese Frage für die Digitale Stadt Amsterdam verneint, ist die Antwort von anderen Künstlern ausweichend: "Das sollen die Historiker entscheiden", sagt zum Beispiel Wolfgang Staehle über The Thing. "Ich kann das nicht beantworten." 98 Und Rena Tangens antwortete auf die Frage, ob ihre Mailbox "Bionic" eine "soziale Plastik" im Sinne Joseph Beuys gewesen sei: "Das haben sehr viele gesagt, wenn ich über die Bionic erzählt habe. Insofern ist es wahrscheinlich, daß es stimmt... Einfluß auf den Rahmen zu nehmen hat immer noch mit Kunst zu tun, in diesem Fall auf den kulturellen, politischen und gesetzlichen Rahmen, in dem Online-Kommunikation stattfindet. Auch das ist 'Rahmenbau'." 99 | |
3.2 "Bodies Inc." Identität und Körperlichkeit in Netzkunst-Arbeiten | |
Der Körper ist in der Kunst der letzten Jahre eines der wichtigsten
Themen gewesen. Zwar war der Mensch und seine Physis natürlich in der
gesamten Kunstgeschichte ein immer wieder variiertes Motiv, aber die
Körper, die in der Kunst der letzten Jahre erschienen, waren immer
weniger Portraits oder Idealbilder, sondern immer öfter bearbeitet,
deformiert, verstümmelt, "dekonstruiert". Diese modifizierten oder
bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten Körper sind als künstlerische
Reflexion der Veränderung des Menschenbildes durch neue (Bio-)Technologien
gedeutet worden ist. Bei der Netzkunst gibt es jedoch auch andere, zwingendere Gründe, warum der Körper des Menschen und seine Identität zu einem Dauerthema geworden ist: im Internet ist der Körper stets abwesend, und die Identität des Users eine fragwürdige Kategorie geworden. 100 Nicht nur, daß das Internet von pseudo-menschlichen "Lebensformen" wie "Agents", "ChatterBots", "Avataren" und "Mailer Demons" bevölkert ist. Auch die Identität der "Netzbewohner" ist nicht "greifbar": Email-Absender sind genauso frei wählbar wie die "Nicks", mit denen man sich zum Internet Relay Chat einloggt, und das eine wie das andere sagt gleich wenig über den User aus. Die eigene Identität, Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft, Klassenzugehörigkeit etc. sind im Netz zu manipulierbaren, instabilen Entitäten geworden. Noch immer weiß es im Internet niemand, daß du ein Hund bist, und wenn du kein Hund sein solltest, kannst du dich online trotzdem als einer ausgeben. Auch wenn das Internet natürlich keine direkte Bedrohung des stofflichen Körpers dar, sondern ist eher ein Ort der "Dekonstruktion" des Körpers. Aber dadurch, daß der User und sein Körper (sei es als ASCII-Text, sei es als digitalisiertes Bild) im Netz nur noch als Zeichen "anwesend" sind, ergeben sich für Künstler interessante Möglichkeiten für das Spiel mit "künstlichen" oder "gefälschten" Körpern - eben weil der Online-Körper immer schon künstlich ist und die digitalen Spuren, die er im Netz hinterläßt, beliebig manipulierbar sind. Eine Reihe von Netzkunstprojekten hat sich darum mit der Situierung des "Datenkörpers" (Critical Art Ensemble) im Internet beschäftigt. Die Amerikanerin Victoria Vesna läßt beispielsweise bei einem Internet-Projekt Netz-User Frankenstein spielen. In ihrer Netzkunst-Arbeit "Bodies (c) INCorporated" 101 kann man in der Programmiersprache VRML dreidimensionale Körpermodelle nach seinen eigenen Wünschen, Schönheitsvorstellungen und Bedürfnissen gestalten. Zusammen mit Programmierern hat die Künstlerin aus Kalifornien eine virtuelle Firma im Netz geschaffen, bei der inzwischen über 5000 User einen eigenen Körper "eingerichtet" haben, einige hundert liegen schon wieder auf einem eigenen Netz-"Friedhof". Die Form der Körper ist frei gestaltbar: Form, Textur, Hautfarbe, Statur, Geschlecht können vom Benutzer bestimmt werden, bevor er in Echtzeit sieht, wie sein Körper auf dem Bildschirm entsteht. Und wenn man statt einem Bein einen Arm haben will? Auch kein Problem... Vesnas "Installation" existiert nicht nur im Internet, sondern kann auch im physischen Raum ausgestellt werden. Für die Ausdrucke, die sie in Museen und Galerien gezeigt hat, hat sie dabei immer "Bodies" ausgewählt, die von Bewohnern der Stadt stammten, in der die Ausstellung stattfand: "Dabei geht es mir auch um die Autorenschaft des Publikums, weil die Leute, die einen Körper geschaffen haben, auch an der Ausstellung teilnehmen... Die würde ich dann auch zur Eröffnung einladen." 102 Auf ähnliche Weise wie Vesna läßt auch der Bulgare Petko Dourmana sein Publikum mit dem menschlichen Körper experimentieren. Bei seinem "Metabolizer" 103 kann man den Körper des Künstlers selbst wie eine Art Männchen aus Knetgummi deformieren. Ein Bild von seinem Leib ist in verschiedene Teile zerlegt, die man durch das Verabreichen von Hormonen, Drogen, Proteinen und Vitaminen aufpumpen, zusammenschrumpeln, verbiegen und verzerren kann. Die virtuelle Marionette ist für Dourmana nicht nur ein Kommentar zum "deformierten" Körper im Cyberspace, sondern auch ein "Symbol für die menschliche Anstrengung im Kampf gegen soziale Isolation und Entfremdung... Der innere Wunsch nach Veränderung interagiert mit dem Druck von außen... (A)lle Veränderungen im menschlichen Körper (sind) das Ergebnis der Wechselwirkung von innerer Notwendigkeit und äußerem Druck." 104 Auch Eva Wohlgemuth überläßt ihren Körper den Netzusern: In den USA hat sie sich im Februar 1997 einem Ganzkörper-Scan unterzogen und nun eine dreidimensionale "digitale Kopie" von ihrem Leib in Computer-lesbaren Format auf der Festplatte ihres Rechners: "Als kleinstes Textfile habe ich nun 1 MB und passe somit auf eine Diskette, als Wireframe (eine Art Strukturzeichnung, die ihren Gegenstand nur als Punktraster zeigt - T.B.) erkennt man MICH und gerendert gibt es keine Zweifel mehr, DAS BIN ICH... Bin ICH - wie wir immer annehmen - noch immer mehr als mein Datenset, oder ist mein Datenset nun eine Grundvoraussetzung geworden, um im Cyberspace einen Platz zu behaupten? Bodymapping als Identitätsbeschwörung oder als Möglichkeit eines sozial integrativen Remappings? Hier liegt der Ausgangspunkt meiner topologischen Experimente." 105Im Internet kann der User den "Bodyscan" 106 als 3-D-VRML-Ausgabe drehen und wenden, wie er/sie will. Bei einer Installation auf der ars electronica waren die Körperdaten in einer Virtual-Reality-Maschine gespeichert und konnten von Besuchern "betreten" und "umrundet" werden wie eine Landschaft. Topologie und Territorium des realen Raumes haben auch in anderen Arbeiten von Wohlgemuth eine Rolle gespielt (vgl. Kapitel 2.1); hier ist der weibliche Körper selbst zu einem zur Intrusion einladenden Territorium geworden, und erinnerte so an die "Nanas", die riesigen Frauenfiguren, die die Französin Niki de Saint Phalle in den 60er Jahren geschaffen hat. "Bodyscan" spielt mit der Zeichenhaftigkeit des Körpers im Internet. Einerseits ist der Körper, mit dem man im Netz experimentieren kann, nichts als ein Datenpaket; andererseits ist er erkennbar ein normaler Frauenkörper, nicht eine virtueller Idealleib oder ein "dekonstruierter" Körper wie die "Bodies" von Victoria Vesna. Im Gegensatz zu vielen anderen Online-Identitäten gibt es für das 3-D-Zeichen einen eindeutigen Referenten: der "Bodyscan" ist ein Signifikant mit einem identifizierbaren Signifikaten, der sich den - immer noch vorwiegend männlichen - Netzsurfern präsentiert. So handelt "Bodyscan" auch von der Beziehung zwischen weiblichem Körper und männlichem Blick. Man könnte die Arbeit aber ebensogut für einen ironischen Kommentar zu Gruppen wie den amerikanische Extropianer-Sekte halten, die auf ein ewiges Leben in der Technologie hofft und sich darum per "Upload" selbst ins Netz begeben will. Doch in ihrem virtuellen Exhibitionismus ist Wohlgemuth den "Extropians" tatsächlich näher als man vermuten würde: "Auch ich habe die Sehnsucht mich hochzuladen und aufzulösen. Aber in der gegebenen Situation werde ich mit dem Nicht-Idealkörper arbeiten, und versuchen, daraus etwas zu machen. Für mich bietet sich über dessen Schwächen und Unvollkommenheiten die Möglichkeit, zu anderen Bildern für das zu kommen, was um mich herum los ist." 107Mit dieser Ostentation des weiblichen Körpers steht der "Body Scan" in einer langen Traditionslinie der Kunstgeschichte. Der weibliche Akt ist ein tradiertes Genrethema der (meist von Männern stammenden) Tafelmalerei. Doch Eva Wohlgemuths Arbeit erinnert stärker an die feministische Kunst der 70er Jahre, in der das Zur-Schau-Stellen von nicht-perfekten, normalen Frauenkörpern ein wichtiges, immer wiederkehrendes Thema ist. Gerade Medien- und Videokünstlerinnen wie Ulrike Rosenbach, Valie Export, Nan Hoover oder Friederike Pezold haben sich immer wieder mit dem weiblichen Körper und seiner (medialen) Repräsentation beschäftigt. Nicht nur beim "Body Scan", sondern auch bei anderen - zum Teil sehr frühen - Netzkunstarbeiten von Frauen tauchte dieses Thema Mitte der 90er Jahre wieder auf. Zu diesen Arbeiten gehört zum Beispiel Eva Grubingers "Netzbikini" 108 (1994) und Regina Franks "Hermes' Mistress" (1994- 1996) 109. Das Projekt der Berliner Performance-Künstlerin Frank ist besonders deshalb interessant, weil es den Körper in eine sehr direkte Verbindung mit dem Text-Universum des Internets setzt: Unter dem Titel "Die Künstlerin ist anwesend" stellte Frank sich selbst in Galerien, Museen und sogar in einem Schaufenster in Berlin aus. Mit oder ohne Publikum stickte sie mit Buchstabenperlen im Internet gefundene Sätze in ein riesiges, rotes Kleid aus Atlasseide, das sie wie ein Rundzelt umgab. Die ununterbrochene Textzeile begann am Saum, und näherte sich in Spiralen den Zentrum des Kleides: dem Körper der Künstlerin. "Hermes' Mistress" (Hermes ist der griechische Göterbote, der Informationen transportierte) verknüpfte moderne Technologie mit einer traditionellen Technik des Handwerks. Die zu dieser Zeit noch klar männlich konnotierte Netz-Technologie wurde konfrontiert mit einer eher weiblich besetzten Handarbeit, dem Sticken. Frank materialisierte mit ihrer Arbeit die flüchtigen, immateriellen Daten aus dem Internet und reduziert den Informationsüberfluß, der einem aus dem Netz entgegenquillt, wieder zu einem einzigen Objekt: ein Kleid, das nachts auch in ein Zelt, eine Behausung für die Internet-Nomadin, verwandelt werden konnte. Von einer ähnlichen Idee geht auch "CyberTattoo" 110 von Micz Flor und Florian Clausz aus. Statt den Körper mit Datenmustern zu "umgarnen" sollen sie bei diesem Projekt direkt in den Körper "eingeschrieben" werden. Auf ihrer Website findet sich der Bauplan für eine Tätowiermaschine, die man nachbauen kann und die tatsächlich funktioniert. 111 Mit ihr kann man sich Grafiken aus dem Netz als Tattoo in die Haut eintätowieren; man muß sie nur an die Druckerschnittstelle des PCs anschließen, um sich zum Beispiel das Netscape-Logo einzutätowieren, das mit seinem Steuerrad tatsächlich wie ein traditionelles Tattoo aussieht: "Die Seefahrermetapher wurde abgestaubt und zur Standardreferenz von High-Tech-Navigationssystemen erwählt. Segelschiffe, Anker, Fahnen, Steuerräder und "Explorer" beschreiben eine Tech-Agenda, basierend auf glorifiziertem Kulturerbe. Die Mythologie der See als U.S.-amerikanisches Epos: Mayflower, Boston Tea Party, Netscape Navigator 3.0". 112 Einige Kritiker hat das Projekt an Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" erinnert, in der dem Verurteilten der Gesetzesparagraph, den er gebrochen hat, bei einer langen, zeremonienartigen Hinrichtung in die Haut geritzt wird. 113 Doch während es Kafka darum ging, eine Metapher für die Allgewalt des modernen Staates über seine Subjekte zu finden, handelt "CyberTatoo" eher von der Macht einer Technologie, die sich über Ländergrenzen und die Gesetzgebung von Nationalstaaten hinwegsetzt, und die ihren Usern hier buchstäblich "unter die Haut" geht. Florian Clauß sagt über "CyberTatoo": "Entscheidend ist für uns die Idee, diesem flüchtigen Moment, in dem man am Netz hängt, Ausdruck und Dauer zu verleihen, und vor allen Dingen körperliche Tiefe zu schaffen. "CyberTattoo" funktioniert nicht mehr wie eine semipermeable Membran, wo nur auf einer Seite Säfte fließen. "CyberTattoo" will genau jene Rahmung des Monitors sprengen und die menschliche Haut als Informationsdokument stilisieren." 114Während es bei "CyberTattoo" "nur" um die Möglichkeit der Einschreibung von Daten in die Haut geht, reichen die Arbeiten des australischen "Body Art"-Künstlers Stelarc 115 noch tiefer in den menschlichen Körper hinein: Er setzt seinen gesamten Leib und dessen Nervensystem den immateriellen Daten aus dem Internet aus, die sich in seinem Körper "re-materialisieren". In Performances wie "Fractal Flesh" 116 oder "Parasite" 117 schließt sich der Künstler buchstäblich selbst ans Internet an. Bei "Parasite" lädt ein "Crawler" genanntes Suchprogramm Daten aus dem Internet herunter, die als Stromstöße von verschiedener Stärke in Stelarcs Körper geleitet werden. Die Elektroden sitzen an den Muskelenden, und jeder Stromstoß führt zu unfreiwilligen Bewegungen seines Körpers. Die Bewegungen erinnern an Tai-Chi; die ganze Performance wirkt wie eine Art choreographiertes Solo-Ballett, ein Eindruck, der tatsächlich nur durch eine Reihe von - an den richtigen Stellen plazierten - Elektro-Kontakten hervorgerufen wird. Auch bei der "Fractal Flesh"-Performance fungierte der Künstler als ein Stück "Peripherie-Hardware" des Internets - oder ist das Internet bei diesen Aktionen vielleicht eher eine Art Verlängerung seines Nervensystems, wie Stelarc in Interviews gerne nahelegt? Bei dieser Performance konnte sich das Publikum über eine ISDN-Leitung buchstäblich in den Körper des Künstlers einloggen: ein Interface auf einem "Touch-Screen-Monitor" erlaubte registrierten "Usern", einzelne Körperteile Stelarcs zu stimulieren, die quasi "auf Mausklick" zuckten; gleichzeitig wurde das Bild des "Users" auf einen Monitor übertragen, den Stelarc sehen konnte. Stelarc selbst beschreibt diese "out-of-body-experience" so: "Einerseits ist es nur eine elektronische Stimulation. Aber wenn man das Gesicht der Person, die das Touch-Screen-Interface benutzt, sieht, weißt man, das man es nicht selbst ist, der einen da bewegt. Es ist ein anderer Körper an einem anderen Ort, der Dich manipuliert." 118 Stelarcs Perfomances sind kritisiert worden, weil sie eine bedingungslose Unterordnung unter eine technische Struktur zu suggerieren scheinen. Tatsächlich geht es Stelarc - wie Micz Flor und Florian Clauß mit ihrem "CyberTattoo" - eher darum zu zeigen, daß sich die Grenzen zwischen körperlichem Innen und Außen, zwischen Physis und Technologie im Zeitalter von Biotechnologie und Genmanipulation zu verschieben beginnen. In seinen Perfomances wird Stelarcs Leib (als Stellvertreter oder Platzhalter) zu einem Ort, an dem das Verhältnis von Körper und Technik, von Subjekt und (technisierter) Umwelt neu verhandelt wird. Auch dieses Motiv hat eine lange Tradition: der "gequälte Künstler", der seinen Körper und sein Selbst als Schlachtfeld neuer sozialer und technischer Entwicklungen empfindet, geht wenigstens bis auf die europäische Romantik zurück. Stelarc selbst schreibt: "Heute, von der Technologie gedehnt, gepierct und durchdrungen, ist die Haut nicht mehr die glatte, sinnliche Oberfläche eines Orts... Haut ist nicht mehr mit Abgeschlossenheit gleichzusetzten." 119 Diese Annahme ist natürlich problematisch, könnte es doch durchaus ein (auch künstlerisches) Ziel sein, zu fordern, daß der Körper und das Subjekt von technologischen Eingriffen unberührt bleiben. Doch die Aufgabe der Kunst - der traditionellen wie der Netzkunst - ist nicht, die richtigen Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Wer die Performances von Stelarc als Beschreibung eines Ist-Zustandes der conditio humana (oder sogar als Affirmation dieses Ist-Zustandes) begreift, hat ihre Intention mißverstanden. Stelarc will mit seinen Performances keineswegs behaupten, daß wir nur noch ein Anhängsel von Computertechnologien sind, sondern vielmehr die Frage formulieren, wie wir unseren Körper begreifen, wenn das Environment, in dem sich dieser Körper befindet, immer stärker von Technologien geprägt und verändert wird. | |
4 Nachwort | |
In diesem Papier habe ich einige Topoi der Netzkunst beschrieben, die
ein Produkt der spezifischen Struktur des Mediums Internet sind: die
"virtual communities", das Verhältnis von realem Territorium und
"raumlosen" Cyberspace und von physichem Körper und "Databody".
Andere Netzkunst-Topoi können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht
näher berücksichtigt werden, obwohl sie ebenfalls durch die
technische Infrastruktur des Internets bedingt sind. Auf sie kann nur
mit einigen Stichworten hingewiesen werden; eine genauere Ausarbeitung
dieser Themenfelder muß späteren Publikationen vorbehalten
bleiben:
Es bleibt abzuwarten, ob das Internet das Medium ist, das endlich die seit knapp hundert Jahren immer wieder formulierten Utopien der Kunst der klassischen Moderne und ihres postmodernen Nachspiels einlöst, die da lauten: "Jeder Mensch ist ein Künstler." (Joseph Beuys). Und: "Alles ist Kunst." (Yves Klein) Im Augenblick sieht es eher danach aus, als ob der Kunstbetrieb sehr wohl in der Lage sei, auch die Netzkunst zu "rekuperieren". Die Kanonisierung der Netzkunst - also die Unterscheidung, was wichtig ist und was nicht, was bleiben wird, und was der Vergessenheit anheimfallen wird - ist bereits im Gange, und auch dieser Aufsatz ist ein Teil davon - ob ich das will oder nicht. Daß es Bedarf nach einem Prozeß der Kanonisierung und Auslese im unübersichtlichen Terrain der Netzkunst gibt, dafür könnte folgende Anekdote ein Beleg sein: Der slowenische Künstler Vuk Cosic hat auf seiner Homepage bereits eine Buchreihe mit dem Titel "classics of net.art" 122 angekündigt. Bisher sind für diese - nicht-existenten, sondern nur konzeptuell im Netz geschaffenen - Bücher bereits über hundert Bestellungen eingegangen. Leser für das nächste, noch zu schreibende Kapitel der Kunstgeschichte, das sich mit Netzkunst beschäftigt, scheint es also zu geben... | |
Literatur | |
|
Startseite | Über uns | Endbericht | (Hyper-)Texte | Allerlei | Interaktionen | Sitemap |